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Jan Petersen - Unsere Straße (1933)
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Dicht vor mir an der Straßenecke steht ein Zeitungskiosk. Der Händler hängt gerade die „BZ am Mittag" heraus. Eine große Balkenüberschrift:
„Torgeier und die Bulgaren freigesprochen!"
Darunter steht:
„Lubbe zum Tode verurteilt!"
Mir geht es durch und durch. Nur ruhig bleiben!
„Unter atemloser Spannung verkündigte heute vormittag Senatspräsident Bünger im Reichstagsbrandprozeß das obenstehende Urteil. Es ist so ausgefallen, wie wir es alle erwartet haben, denn..."
Den weiteren Text verbirgt die gefaltete Zeitungshälfte. Soll ich eine Zeitung kaufen? Nachher, wenn ich ruhiger bin.
- Käthe! Heute abend fahren wir! - Dimitroff freigesprochen! - So ein Weihnachten! - Eine größere Freude hätte uns niemand mitgeben können.
Wir sind bei Teichert. Er hat mir durch Ernst Schwiebus Bescheid sagen lassen. Teicherts Frau kennt uns zwar vom Sehen, ahnt aber nichts von unserer illegalen Arbeit.
Nun sitzen wir um den runden Tisch unter der Gaslampe. Frau Teichert hat uns nur kurz begrüßt. Sie sitzt abseits, mit dem Rücken gegen den Ofen gelehnt, und strickt. Teichert stützt die Ellenbogen auf den Tisch, hält den Kopf in den Händen. Die heutige Abendzeitung liegt vor ihm. Wir haben sie mitgebracht. Schwiebus hat sie mir schon vorher gezeigt. Niemand spricht.
„Moralisch des Mordes schuldig! Schlusskapitel im Maikowski-Prozeß!"
In wie viel Wohnungen unserer Straße, in wie viel Straßen Charlottenburgs lesen sie das jetzt! Wenn doch jemand reden wollte! Ich sehe Schwiebus an. Der dreht an dem Zipfel der Tischdecke. Ich kann seine Augen nicht finden. Wir hätten doch nicht zu Teichert kommen sollen. Mir kommt alles hier so fremd vor, so ohne jede persönliche Beziehung. Ich beobachte verstohlen Teicherts Frau. Die Stricknadeln in ihren Händen klappern. Sie ist ganz in ihre Arbeit vertieft. Klein und rundlich ist sie, hat ein frisches rotes Gesicht. Die dunkelbraunen Haare, die in dichten Flechten um den Kopf liegen, die blütenweiße Schürze - die Frau passt in das Zimmer hier hinein. Alles ist so kalt-sauber. Die Standuhr mit dem blitzenden Messingpendel, die kleinen weißen Spitzendecken an der Plüschwand des roten Sofas. -
Teichert schiebt plötzlich den Stuhl zurück, steht auf. Er geht hin und her. Seine Frau hört auf, mit den Stricknadeln zu klappern, sieht ihn an.
Teichert setzt sich wieder, liest laut:
„... In dem fanatischen Gedanken, die Wallstraße von politischen Gegnern frei zu halten, war ein Streifen- und Patrouillendienst eingerichtet worden, der den Anmarsch der Nationalsozialisten meldete. Als dann singend die SA, der Sturmführer Maikowski an der Spitze, die Wallstraße passierte, setzte der Angriff ein..."
Einen Augenblick ist es ganz still. Frau Teichert sieht ihren Mann immer noch an.
„- - Warum werden die Angeklagten nicht beschuldigt, den Sturmführer Maikowski und den Polizeiwachtmeister Zauritz ermordet zu haben? Auf diese Frage ist leider die für viele enttäuschende Antwort zu geben: es ist durch die Ermittlungen nicht nachgewiesen, dass einer der Angeklagten die tödliche Kugel abgefeuert hat. Die zur Zeit der Tat bestehenden Strafbestimmungen geben nicht die Handhabe, die Angeklagten zum Tode zu verurteilen. Ganz anders wäre es, wenn sie die Tat nur eine halbe Stunde später, also am 31. Januar, begangen hätten. Dann hätten sie nach der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat die Todesstrafe verwirkt."
Selbst Teicherts Frau hat die offene, brutale Sprache des Staatsanwaltes gepackt.
„Ja, aber dann ...", sagt sie.
Teichert sagt: „Der stellt hier selbst fest, dass keiner der Angeklagten geschossen hat —"
„Dieser Oberstaatsanwalt Ranke bedauert auch noch, dass er Unschuldige nicht zum Tode verurteilen kann!"
„Das Dritte Reich", sagt Schwiebus finster, „Menschenleben sind ein Dreck, wenn es sich um Arbeiter handelt."
Teichert steht auf. Geht wieder auf und ab. Lange ist nur das Knarren seiner Stiefel im Zimmer.
Ohne jeden Zusammenhang sagt Schwiebus plötzlich: „Hilde hat mir gestern erzählt, dass es zwischen der SA und der SS eine Schlägerei gegeben hat, du. Bei der Silvesterfeier der SA. In der Berliner Straße, im Lokal Bamberger Hof. Ein SA-Mann ist tot. Die SA konnte ja die SS schon lange nicht mehr beriechen, du."
Niemand antwortet.
Schwiebus sagt spöttisch: „Der ,Angriff' hat gestern einen Nachruf gebracht, du. Unserem SA-Kameraden, der in Erfüllung seiner Pflicht starb."
Teichert bleibt stehen.
„So ...?" sagt er gedehnt. Er ist sicher mit seinen Gedanken ganz woanders.
„Das Urteil wird wohl bald da sein", sagt er dann.
„Im Maikowski-Prozeß?" - „Ja. Sie wollen es doch verkünden, bevor ein Jahr nach der Einmarschnacht vergangen ist."
Heinz Preuß ist aus dem Konzentrationslager entlassen worden! Heinz Preuß, der junge Genosse, der im Frühjahr bei der Klebezettelaktion verhaftet wurde. Heinz Preuß, der Wandervogel, der seine blonden Haare immer bis in den Nacken trug. Vor vier Tagen hat er mir auf Umwegen sagen lassen, dass er wieder hier sei, dass er bei der Weihnachtsamnestie mit dabeigewesen sei, dass er mich sprechen wolle. Ich habe ihm einen Treffpunkt angegeben und ihm sagen lassen, dass er genau auf seine Umgebung achten soll, wenn er kommt.
Gestern habe ich ihn nun getroffen. Bei Franz im Bezirk. Wir erschraken, als er kam. Wir haben uns aber nichts anmerken lassen. Franz sah mich nur an. Heinz Preuß ist furchtbar abgemagert. Sein Gesicht ist eingefallen, totenblass. Früher sah er immer so gesund und braungebrannt aus. Wenn wir ihn mit seinen langen Haaren neckten, sagte er immer: „Die schneid't mir meine Mutter übern Kochtopf."
Jetzt ist sein Kopf kahlgeschoren. Er sieht deshalb noch elender aus.
Er erzählt, dass die zur Entlassung kommenden Häftlinge vorher auf dem Konzentrationslagerhof antreten mussten. Der Kommandant hätte dann eine Ansprache gehalten. Sie sollten die Milde der Regierung Adolf Hitlers nicht als Schwäche auslegen, hätte er gesagt. Wer zum zweiten Mal bei „Wühlarbeit" gegen die Regierung gefasst würde, den würden sie endgültig vernichten. Trotz dieser Drohung und dem, was er alles im Konzentrationslager aushalten musste, ist Heinz Preuß ungebrochen. Er wolle wieder mitarbeiten, sagte er. Wir haben ihm erklärt, dass das höchstens erst nach drei Monaten in Frage käme. Wegen seiner und unserer Sicherheit. Er verstand das dann auch und willigte ein. Von seiner Mutter habe er ein Weihnachtspaket erhalten, erzählte er dann. Als wir ihm sagten, dass wir das Geld in unserer Straße gesammelt haben, freute er sich sehr. Das Paket hätte er den anderen Genossen gegeben. Er wäre ja gerade an dem Tag entlassen worden. Er fragte dann nach allen Genossen. Wollte genau wissen, wie es jetzt hier bei uns sei, wie wir weiterarbeiteten. Wir haben ihm nur Allgemeines erzählt. Nicht weil wir ihm misstrauten, sondern weil wir der Ansicht waren, dass er sich jetzt nicht unnötige Gedanken machen soll. Er soll sich in den nächsten Monaten nur erholen, nichts weiter.
Bis auf wenige Ausnahmen seien die Genossen im Konzen-
trationslager festgeblieben, erzählte er. Er könne aber jetzt nicht ohne jeden Kontakt mit uns sein, das halte er nicht aus. Wir haben lange überlegt, ob wir auf seinen Vorschlag eingehen sollen. Vereinbarten dann aber doch, dass er sich mit einem von uns in großen Wochenabständen treffen soll. Außerhalb Berlins und gut gesichert. Denn wir wissen aus anderen Bezirken, dass die Gestapo die entlassenen Konzentrationshäftlinge scharf beobachtet.
„Wisst ihr, mit wem ich in Brandenburg zusammen war?" fragte Heinz Preuß plötzlich. - „Mit Erich Mühsam!"
Er musste uns dann nur noch von Erich Mühsam erzählen. Sein Bericht hat uns tief erschüttert. Ich saß noch bis spät in die Nacht mit Heinz Preuß zusammen. Ich habe mir jede Einzelheit erzählen lassen. Ich habe mir von ihm Gebäudeteile des Konzentrationslagers Brandenburg bis ins kleinste aufzeichnen lassen. Alle sollen erfahren, wie Erich Mühsam gequält wurde. —
Hof drei im Konzentrationslager Brandenburg. Es war kurz nach sieben Uhr morgens. Die vierzig Mann der Station neun standen in zwei Gliedern angetreten. Unter ihnen stand Heinz Preuß. Seit dem Wecken, dem Stubenappell und dem wässerigen Kaffee waren bereits anderthalb Stunden vergangen. Doch alle standen fröstelnd, als fühlten sie noch das klamme Strohsacklager. Sie hatten auch nur ihre dünnen, zerschunde-nen Kleider an. Heinz Preuß zog den Kopf tief zwischen die Schultern. Er fror immer im Nacken, seit seine langen Haare herunter waren. Allen waren die Köpfe kahlgeschoren worden, wie bei Zuchthäuslern. Das Konzentrationslager Brandenburg war in dem früheren alten Zuchthaus untergebracht. Als Zuchthaus waren die Gebäude wegen ihres gesundheitsschädlichen Zustandes lange aufgegeben worden.
Der baumlange Wachtmeister in der schwarzen SS-Uniform ging prüfend die Reihen entlang. Er kontrollierte sein Kommando „Stillgestanden" bei jedem einzelnen. Preuß sah an seinem Gesicht vorbei, zu der vier Meter hohen roten Backsteinmauer hinüber. Der Wachtmeister machte einige Schritte rückwärts, stemmte die Arme in die Hüften.
„Abzählen - zu vier!" schnarrte sein Kommando.
Die Köpfe flogen in kurzen Rucken zur Seite. Wenn die „Turnübungen" bloß nicht wieder zu toll werden, dachte Preuß. Erich Mühsam kann sicher wieder nicht mithalten, er sieht ja jetzt schon wie zum Umfallen aus. Er hatte ihn eben noch mal beim Kopfdrehen gesehen. Erich stand als dritter Mann rechts neben ihm. Er stand zusammengekrümmt, sein Kinn lag fast auf der Brust. Ein neues Kommando:
„In Gruppen rechts schwenkt... marrrrsch!"
Erich Mühsam war jetzt der rechte Flügelmann ihrer Reihe. Heinz Preuß erwartete fieberhaft das neue Kommando. Wenn der bloß nicht wieder Laufschritt übt, Laufschritt - und Mühsam! Und man kann ihm hier gar nicht viel helfen, gar nicht viel helfen. Die neue Reiheneinteilung war kaum vollzogen, da knallte wieder ein Befehl über den Hof.
„An die Kirche... im Laufschritt... marsch - marrrsch!"
Die ganze Hoflänge lag vor ihnen. Hundertzwanzig Meter waren es von der Mauer bis zur Kirche. Hundertzwanzig Meter! Sie waren ja alle durch die monatelange Haft geschwächt, alle unterernährt, sie zitterten bei der geringsten Anstrengung.
Preuß sah im Laufen nach rechts. Erich Mühsam lief mit dem Gesicht zur Erde, als trage er einen schweren Sack im Genick. Er konnte auch die gerade Linie nicht einhalten, lag ein kleines Stück hinter ihnen. Waren die denn vorne auch verrückt! Anstatt dass sie das Tempo mäßigten! Diese Angst vor dem Wachthabenden. Der lief doch nicht mit, der hütete sich.
Die Stiefel klappten auf den Pflastersteinen. Alle atmeten keuchend. Preuß sah, dass Mühsam im Begriff war, noch mehr abzufallen. Wer lief denn überhaupt neben ihm?! Kanzow! Merkte der denn nichts - sah der denn nichts!
„Anfassen!... Anfassen!" zischte Preuß. Die beiden neben ihm gaben das Wort weiter. Der Kanzow stutzte, er zögerte.
Der dachte wohl: Mühsam mitziehen, anfassen, wo sie auf ihn dauernd achten, wo sie jedem, der ihm hilft, ebenfalls... „Kanzow!" rief Preuß da zwingend. Der zuckte zusammen, griff dann doch nach Mühsams Arm. So kamen sie bis an die Zuchthauskirche. Doch nicht ganz. Einige Meter davor kam ein neues Kommando: „In Gruppen räächts... breecht -ab!"
Zurück? Wieder zurück! Sie dachten wohl alle dasselbe. Mit fliegenden Pulsen, flatternden Herzen. Doch es blieb nie viel Zeit zum Denken. Der Wachtmeister war ihnen bis zur Hofmitte gefolgt.
„An die Mauer... im Laufschritt... marsch - marrrsch!"
Wieder Hasten und Jagen. Mitschleifen und Zerren. Es gelang.
Auch Erich Mühsam erreichte die andere Hofseite. Der Wachtmeister glaubte, sie nun wohl genügend in Atem gebracht zu haben, oder er wollte es diesmal nicht bis zum Äußersten kommen lassen. Jedenfalls verging diese „Turnstunde" von nun an in endlosen langsamen Schritt- und Gruppenmarschübungen.
Jeden Tag war es so. Alle hörten schon immer das nächste Kommando, bevor es ausgesprochen wurde.
„Links brecht ab... rechts brecht ab... in Gruppen links schwenkt... in Gruppen .. !"
An diesem Vormittag lagen sie eine halbe Stunde später auf ihren Strohsäcken. Ruhe! Bis zwölf Uhr Ruhe! Lange Vormittagsstunden, die jeder mit Persönlichem ausfüllte, wenn er nicht gerade in die Küche kommandiert wurde. Zum Kartoffelschälen. Elfhundertsechzig Mann waren im Lager. Vierzig Mann schälten täglich zehn Zentner Kartoffeln. Jeder fünfundzwanzig Pfund!
Heinz Preuß war heute nicht dabei. Auch Erich Mühsam nicht. Sie lagen auf ihren Strohsäcken. Mühsams Kopf lag auf den ausgestreckten Armen. Preuß sah, wie sein Rücken von kurzen, schnellen Atemstößen bewegt wurde.
„Kann ich irgendwas für dich tun?" fragte er leise.
Mühsam drehte den Kopf, ohne ihn aufzuheben.
„Nein, lass nur... brauche bloß Ruhe ... Ruhe ... bin so kaputt", sagte er abgerissen.
Sein Gesicht war eingefallen und sehr blass. Der schmale, ergraute Kinnbart war ihm halb ausgerissen worden. Die Augen hinter den Kneifergläsern hatte er geschlossen. Sie lagen in tiefen Höhlen. Die Schädelknochen an den Schläfen traten scharf hervor, bildeten 2wei tiefe Löcher an der Seite. Heinz Preuß wurde es heiß. Erich Mühsam. Der alte Genosse. Er ist ein körperliches Wrack. Nur sein eiserner Wille hält ihn aufrecht, dachte er. Darin ist er hier auch noch dem Jüngsten überlegen. Einige Konzentrationslager hat er schon hinter sich. Ist überall der Jude, der verhasste „jüdische Hetzjournalist", der täglich die schlimmsten Torturen ausstehen muss. Preuß kannte ihn schon viele Jahre. Er war in mancher Versammlung gewesen, in der Mühsam, der Anarchist, ihre politische Auffassung angriff. Das lag lange, lange hinter ihnen. Hier waren sie treue Kameraden geworden. Genossen in gemeinsamer Not, gemeinsamem Leid.
Starr war Mühsam auch hier in seinem Widerstand geblieben. Er wollte das Wort Taktik, soweit es hier überhaupt anwendbar war, nicht hören. Besonders in den letzten Wochen war kaum ein Tag vergangen, wo der Wille zum Widerstand, der Wille des todkranken Mannes nicht Wunder vollbrachte.
„Ich habe mit dem Leben abgeschlossen... den Tod fürchte ich nicht. Nur dieses langsame, qualvolle Hinsiechen! Die wollen mich zum Selbstmord treiben. Nie, nie gelingt ihnen das...!"
Gestern hatte das Mühsam zu ihm gesagt. Dann war sein Blick hart geworden: „Und ich beuge mich nicht... beuge mich nicht!"
Vieles wäre für Erich Mühsam weniger schlimm, wenn er sich nicht auch noch gegen die kleinsten Befehle auflehnen würde, grübelte Preuß. So wird die belangloseste Sache zu einer Strafaktion für ihn. Die Treppen der Anstalt waren sauber, die Geländer staubfrei.
„Mistjude Mühsam, Treppen wischen! Mistjude Mühsam, Geländer putzen!"
Das waren ständige Strafarbeiten für Mühsam. Preuß hatte sich deshalb mit andern Genossen schon immer freiwillig zu diesen Arbeiten gemeldet. Das ging einige Male. Dann kam „SA-Kamerad Rubach" dahinter.
„Was?! Ihr Lumpen! Trotzdem ihr Arier seid, helft ihr dem Mistjuden Mühsam!"
Maulschellen und Fußtritte unterstrichen dann die Rassenunterschiede.
Heinz Preuß sah durch den Raum. Auf die dicken Dachstuhlbalken, die kleinen schrägen Fensterluken. Die Station neun war ein kahler Raum direkt unter dem Dach. Zwanzig Meter lang, acht Meter breit. An beiden Wänden entlang lagen Strohsäcke. In der Raummitte standen hintereinander lange rohe Holztische und Bänke. Noch zwei solcher Stationen lagen unter dem Dach des großen roten Backsteinhauses. Sie waren erst seit dem Konzentrationslagerbetrieb hier „eingerichtet" worden. Die normalen Zellen mit den langen Reihen vergitterter Fenster reichten dann nicht aus.
„SA-Kamerad Franz Rubach!" Da saß der Bursche, schaukelte träge mit den Beinen und spähte in den Raum. Er saß gleich neben der Tür. Sie hatte in den Raum hinein einen Gittervorbau, der wie ein Raubtierkäfig aussah. Links und rechts davon waren in der Wand Spione angebracht, durch die man vom Gang draußen alles überlicken konnte. „Kamerad Rubach" war ihr Stubenältester. Ein wegen Unterschlagung inhaftierter SA-Mann, der sich ihnen gegenüber als „Ehrenhäftling" fühlte. Die SS wusste, warum sie ihn zum Stubenältesten gemacht hatte. Denn auf der Station neun war er bei weitem nicht der Älteste. Was die SS-Wachmannschaften an Schuftereien fehlen ließen, besorgte Rubach. Jeder, der einen Wunsch hatte, musste ihn Rubach vortragen. Haltung annehmen, Hände an die Hosennaht.
„Kamerad Rubach, ich bitte, austreten zu dürfen."
Dasselbe nachher.
„Kamerad Rubach, ein Mann von Station neun vom Austreten zurück."
Mit „Kamerad" mussten sie den Menschenschinder ansprechen. Der war sich seiner Zwischenstellung bewusst und nützte sie. Wenn die vierwöchentlichen Lebensmittelpakete kamen, dann wurde er katzenfreundlich, saß bei den Empfängern und bettelte. Die meisten gaben ihm etwas ab. Aus Angst. Mich hasst er tödlich, dachte Preuß. Bei mir gibt es nichts, überhaupt, wir kennen uns.
Was ein „richtiger" Stubenältester für sie ausmachen würde! Beim Kartoffelschälen hatten Kameraden von Station sechs Preuß erzählt, dass bei ihnen ein Genosse, ein ehemaliger Marineoffizier, die Aufsicht habe. Der hatte alle instruiert: „Vor den Wachthabenden eine stramme Haltung, knappe militärische Sprache, das macht Eindruck." Seitdem galt sechs bei der SS-Wachmannschaft als „Musterstation". Sogar die morgendliche „Turnstunde" leitete bald der „Offizier"-Genosse. Er leitete sie „straff militärisch". Alle Schinderei waren sie seitdem los. Auch bei der Essenverteilung spürten alle bald seinen Einfluss. „Musterstation sechs" wurde eine große Kommune. Sie teilten die Lebensmittelpakete auf, tauschten Kleider untereinander. Nicht nur das, sie bildeten - kleine marxistische Zirkel. „Alles streng militärisch", hatte der Genosse lächelnd gesagt.
Preuß schreckte aus seinen Gedanken. Vorn war Rubach | aufgesprungen und stand in wartender Haltung neben dem Käfigvorbau der Tür. Das war das Signal für alle. Holz- und Pappbasteisachen flogen beiseite. Alle sprangen von den Bänken, von den Strohsäcken auf und richteten sich vor den Schlafstellen in zwei langen Reihen aus. Es wurde ganz still im Raum. Jemand nieste unterdrückt. Vom Eingang kam das Tapsen schwerer Stiefel, dann Schlüsselklirren. Werden die beiden neuen Wachtmeister sein, die Zweistundenablösung, dachte Preuß. Er sah Erich Mühsam an. Der stand in loser Haltung, er hatte ein Bein vorgestellt. Sein ganzer Körper drückt Nichtachtung aus, dachte Preuß. Es war nur ein SS-Wachtmeister. Er ging achtlos an Rubach, der die Hacken zusammenschlug, vorbei, einige Meter in den Raum hinein. Dann sah er prüfend die Reihen entlang. In seiner Hand hielt er einen Stapel weißes Papier. Die Post!
Der Wachtmeister, ein schlanker Bursche mit einem roten Bauerngesicht, schlenkerte die Briefe in der Hand.
„Ja...", sagte er, „... hm... ja..."
Der benahm sich ja heute so komisch? So, als ob er etwas Besonderes auf Lager hätte? Hatte etwa jemand ein offenes Wort geschrieben? Aber die Angehörigen wussten doch, dass hier keine Zeile unkontrolliert durchging.
Den hinten im Raum Stehenden entging das sonderbare Benehmen des Wachtmeisters, aber dass es sich um Post handelte, hatten sie auch gemerkt. Erwartungsvolle Unruhe war in allen Gesichtern. Die Füße standen still, aber die Körper rückten ungeduldig hin und her. Als wollten alle damit ausdrücken: „Gib schon her... gib schon!"
„Ja... hm ...", machte der SS-Mann wieder und blätterte in den losen Briefen.
Dann begann er Namen aufzurufen. Die Aufgerufenen traten einzeln vor. Sie nahmen in strammer Haltung den Brief in Empfang, gingen einige Schritte beiseite, lasen. Die Frau, die Mutter, die Kinder schrieben.
Preuß hatte keine Post, auch Erich Mühsam nicht. Trotzdem mussten alle, die keine Post bekamen, stehen bleiben, bis der Wachtmeister hinaus war. Der hatte jetzt nur noch einen Brief in der Hand. Er blätterte den Bogen auf, las darin. Dann sah er wieder die Reihen entlang. Damit ist etwas nicht richtig, dachte Preuß. Aber warum fängt der nicht an zu toben, wenn etwas Verbotenes drin steht? Der Wachtmeister rief noch immer keinen Namen. Die sich gegenüberstehenden Reihen wurden unruhig. Die Briefempfänger aber kümmerte nichts mehr. Sie waren weit fort von hier - weit.
„Pascholke!" rief da der Wachtmeister endlich.
Pascholke trat vor, ein Mann Ende der Dreißig. Seine breiten, wuchtigen Schultern schienen auf den schmalen Unterkörper verkehrt aufgesetzt zu sein. Sein Gesicht hatte einen leidenden, gramvollen Ausdruck. Pascholke? Das war doch der Genosse, der den Urlaub beantragt hatte. Er bekam ihn aber nicht. Seine Frau lag im Krankenhaus.
„Da!" sagte der Wachtmeister und streckte den Brief vor. Pascholke nahm ihn, faltete ihn auseinander... schlug die Hände vor das Gesicht. Das Schreiben flatterte auf die Erde. Pascholke lag daneben, schluchzte und weinte wie ein Kind. Auf einmal brüllte er laut auf, sein Rücken bäumte sich, sein Kopf lag immer noch auf den großen knotigen Händen.
Die Briefleser waren herumgefahren. Der Wachtmeister drehte sich auf dem Absatz herum und ging hinaus. Heinz Preuß hob den Brief auf. „... teilen Ihnen mit, dass Ihre Frau verstorben ist."
Sie trugen Pascholke auf seinen Strohsack. Er wimmerte leise. Den Brief legte einer auf den Tisch. Es war, als ob von dem Schreiben eine eisige Welle ausging, die sich über den ganzen Raum legte. Pascholke schluchzte noch immer. Trocken, mit zitternder Stimme. Einige saßen und hielten sich die Ohren zu. — Ein anderer Tag. Sie hatten eben ihre Brotration in Empfang genommen. Ein Viertelbrot pro Tag und Mann. Einteilen hieß es da. Alle hatten immer Hunger bei dem fettlosen, nach Soda schmeckenden Essen. Preuß war an diesem Tag im Küchenkommando gewesen. Da ließ immer jeder einige Kartoffeln in den Hosentaschen verschwinden. Die wurden jetzt gekocht. In der Waschschüssel, die auf dem einzigen im Raum vorhandenen Kanonenofen stand. Zwei Mann standen dauernd auf dem Sprung, passten auf. Denn der Ofen stand dicht vor dem Gittervorbau der Tür. Dies Mittagessenstrecken ging auch nicht mehr lange. Es wurde nur noch wenige Tage geheizt. Dann war es damit vorbei. Sie konnten auch nicht alle Kartoffeln essen. Für den „Kameraden Rubach" ging immer eine Portion ab. Pellkartoffeln als Schweigegeld!
Einer der beiden Aufpasser zischte plötzlich leise und hob
tarnend den Arm. Draußen im Gang hallten Schritte. Im nächsten Augenblick waren alle bei ihren Strohsäcken. Die Pellkartoffelschüssel brodelte einsam weiter. Hoffentlich sahen die nichts. Es waren die beiden Stationswachtmeister -und die beiden andern? Neue! Es schien wieder mal im ganzen Bau Gesamtablösung zu sein. Die vier SS-Leute gingen durch die Gasse der Männer. Rubach scharwenzelte hinterher.
„Habt ihr auch Juden auf der Station?" hörte Preuß den einen der neuen Wachtmeister fragen.
„Juden? Und was für welche!"
War das derselbe SS-Mann, der Pascholke neulich den Brief brachte? Er war es! Das Stichwort war gefallen: Juden! Das rote Bauerngesicht verzerrte sich. Der wird jetzt den Neuen zeigen, was er kann!
„Die Juden mal vortreten!" brüllte da auch schon das Bauerngesicht. Vier Männer traten aus der Reihe. Unter ihnen war Erich Mühsam. Das Bauerngesicht spuckte auf den Fußboden, stieß den Vordersten der vier gegen die Brust.
„Da, leck das mal auf, du Judensau!"
Die beiden neuen Wachtmeister lachten schallend. Der Angeredete, ein kleiner schmächtiger Mann, machte ein wehleidiges Gesicht. Seine Augen gingen vom Fußboden zu dem Gesicht des SS-Mannes, von dort wieder zum Fußboden zurück. Preuß beobachtete Mühsam mit einem schrägen Seitenblick. Seine Brust wurde von tiefen Atemzügen bewegt, in seinem Gesicht arbeiteten die Kinnladen. Seine Augen hinter dem Kneifer waren klein und zusammengekniffen vor Hass. Was wurde bloß, wenn an ihn die Reihe kam... was wurde bloß?! Alle Gefangenen dachten wohl daran. Alle Gesichter waren todernst.
„Na, wird's bald!"
Der Wachtmeister hob die Faust. Sein „guter Ruf" stand vor der Ablösung auf dem Spiel. Der kleine Schmächtige zögerte immer noch, ging dann vor dem wutverzerrtem Gesicht in die Knie, brachte sein Gesicht ganz nahe an den Fußboden. Preuß sah, wie er den Speichel mit dem Jackettärmel fortwischte.
Das Bauerngesicht drehte sich triumphierend zu den neuen SS-Leuten um. „Na also!"
Dann wandte er sich an die starr ausgerichteten Männerreihen.
„Da könnt ihr wieder mal die Gesinnung dieser Dreckjuden sehen!"
Alle vier SS-Leute lachten breit.
„Man muss euch dämlichen Proleten eure Bonzen bloß mal richtig dressiert vorführen!"
Die neuen SS-Männer nickten grinsend.
„Oder hättet ihr Arier das auch gemacht?"
Das Bauerngesicht blickte fragend die Reihen entlang. Niemand antwortete. Da packte der SS-Mann den vor ihm Stehenden wütend an der Brust.
„Hättest du das als Arier auch gemacht? frage ich dich."
Der Mann zuckte ängstlich zusammen.
„Nein", sagte er dann leise.
„Na also!" Der SS-Wachtmeister lachte wieder dröhnend.
Er ging nun auf zwei von den vier vorgetretenen Männern zu und zerrte sie zu der Uniformgruppe hin. Erich Mühsam stand noch immer unberührt. Vielleicht hat er heute Glück, dachte Preuß froh.
„Los, massiert euch mal ein bisschen!"
Die beiden Männer sahen sich verstört an. Angst, nichts als Angst war in ihren Gesichtern. Einige dreißig Augenpaare starrten auf die beiden. Drückend heiß wurde allen. „Habt ihr wohl schon wieder verlernt, den Backpfeifentanz, was?!" brüllte der Wachtmeister die beiden an. Er stieß den Kleinen beiseite, pflanzte sich vor dem andern auf.
„Hier, pass auf, so wird das gemacht!"
Er schlug dem Mann klatschend ins Gesicht. Der taumelte, fiel um, richtete sich dann schwerfällig wieder auf. Aus seinen Augen liefen Tränen. Aus seiner Nase tropfte Blut.
„Los! Oder du bist dran!" schrie der Wachtmeister den Kleinen an. Da schlug der zu. Der andere stand ganz still. Der Wachtmeister stieß ihn in den Rücken, da schlug er zurück.
Die SS-Leute lachten schallend, dann fasste einer der neuen Wachtmeister das Bauerngesicht am Arm.
„Halt!"
Die beiden Männer taumelten. Sie waren blutbeschmiert. Preuß waren die Füße wie Blei. Menschennerven konnten das nicht mehr aushalten. - Wochenlang, wochenlang ging das nun schon so. Er sah wieder zu Erich Mühsam hin. Sein Kopf lag auf der Brust. Er musste schon lange nicht mehr hingesehen haben.
„Wie heißen denn eure Juden eigentlich!" fragte da einer der neuen SS-Wachtmeister.
Ruhig und etwas belustigt fragt der - als ob nichts geschehen wäre!
„He, eure Namen!" fuhr das Bauerngesicht die vier vor ihm Stehenden an.
Preuß hörte die ersten drei Namen gar nicht. Er wartete, wartete in fiebernder Angst. Jetzt ging es zu Mühsam - zu Erich - jetzt! Da hörte er schon dessen Stimme. Ruhig und klar, doch mit dunklem Ton vor Wut:
„Erich Mühsam."
Der neue SS-Mann, der die Namen wissen wollte, machte vor Überraschung einen Schritt vorwärts. Er reckte den Kopf aus dem Uniformkragen.
„Das ist Mühsam - das jüdische Journalistenschwein?! -Hier bei euch, auf Station neun?!"
Preuß würgte es in der Kehle. Jetzt geht es wieder von vorn los. Wie bei jeder neuen Ablösung. „Das ist Mühsam?... Mühsam!"
Mühsam stand mit unbeweglichem Gesicht. Er sah den Uniformierten an. Die ganze Verachtung und Entschlossenheit eines Menschen, der keine andere Waffe als seinen Willen hat, seinen stahlharten Willen, nicht weich zu werden, lag in seinem Blick.
Der andere SS-Wachtmeister pflanzte sich neben dem Neuen breit auf.
„Ja, das ist er!" sagte er gewichtig, als zeige er wie ein Sammler einen Seltenheitswert.
Der neue SS-Mann hatte sich von seiner Überraschung erholt. Er kramte in seinen Taschen, zog einen vergilbten Zeitungsabschnitt heraus, zeigte ihn den andern. „Das haben sie mir mitgegeben! Sie haben mich schon auf den Burschen aufmerksam gemacht! Das Revolutionstribunal aus der Münchner Rätezeit!" sagte er.
Er tippte mit dem Zeigefinger auf den Zeitungsabschnitt.
„Hier, da steht er! Das ist er!"
Er drehte sich mit einem Ruck herum, schwenkte den Zeitungsabschnitt vor Mühsams Gesicht.
„Du bist verantwortlich für die zwölf Geiseln, die damals von euch erschossen worden sind! Die zwölf Geiseln!"
Seine Stimme überschlug sich.
Die andern drei schwarzen Uniformen standen jetzt dicht hinter ihm. Alle hatten wutverzerrte Gesichter. Preuß kroch es kalt den Rücken hoch. Aus, aus - dachte er immer nur.
In die Stille hinein fielen Erich Mühsams Worte. Er stand hoch aufgerichtet.
„Ich hatte damit gar nichts zu tun. Zu der Zeit war ich schon lange verhaftet!"
„Darüber werden wir unten mit dir reden, du Judensau!" brüllte der neue SS-Mann.
Er packte Mühsam am Arm.
„Runter mit ihm, runter! Da muss die gesamte Ablösung dabeisein!"
Sie schleiften Erich Mühsam hinaus. Sein Kopf hing herunter, die Schuhe polterten über den Fußboden. Die Gittertür klirrte, die Außentür dröhnte. Stille. Alle Gefangenen standen starr, lauschten mit vorgebeugtem Kopf. Es war nichts mehr zu hören.
Die Stunden vergingen. Die Abendsuppe wurde gebracht. Preuß rührte sie nicht an. Sie gingen schlafen. Die Stunden vergingen. Heinz Preuß konnte nicht schlafen. Unaufhörlich quälten ihn Gedanken, sein Hirn schmerzte. Die Stunden vergingen. Erich Mühsam kam nicht zurück.
Heinz Preuß lag so stundenlang wach. Da fiel plötzlich von vorn ein Lichtstreifen in den Mittelgang. Die Tür wurde aufgerissen. Zwei Uniformierte, die blanken Schnallen ihrer Schulterriemen glänzten im Schein der Lampen, schleiften etwas Dunkles, Lebloses hinter sich her. Sie warfen es auf den Strohsack neben Preuß. Der rührte sich nicht.
Doch kaum war die Tür zu, als Preuß aufsprang. Überall waren sie wach geworden. Halblautes Flüstern, knisterndes Stroh füllten die Stille. Preuß beugte sich über den lang ausgestreckten Körper.
„Erich... Erich..."
Keine Antwort. Er tastete mit den Händen, rüttelte Mühsam. Erich Mühsam blieb stumm. Als er dessen Kopf, das Gesicht berührte, fühlte er etwas Klebriges an den Händen. Da warf ihn die Marter der langen Stunden, das Grauen dieser Minuten um. Er lehnte den Kopf an die leblose Schulter. Er weinte.
Von dieser Stunde an konnte niemand mehr mit Erich Mühsam sprechen. Sie hatten ihm das Gehör so zerschlagen, dass das innere Ohr als rot schillernde Blase heraustrat.
Heute bringen die Zeitungen das Urteil im Maikowski-Prozeß. Dreiundfünfzig Angeklagte sind zu
39 Jahren Zuchthaus und 95 Jahren Gefängnis.
verurteilt worden. Die Zeitungsberichte erwähnen, dass von den 47 Entlastungszeugen keiner vereidigt wurde! Aber keine Zeitung bringt ein einziges Wort über die Reden der bestellten „Verteidiger", über die Schlussworte der angeklagten Genossen.
Der „Völkische Beobachter" schreibt unter der großen Überschrift:
„Keine Todesstrafen gegen die roten Banditen!"
„Das Urteil im Prozess gegen die kommunistischen Mörder Maikowskis ist über alle Erwartungen milde ausgefallen. Es wird genauso wenig Verständnis finden wie das Urteil im Reichstagsbrandstifter-Prozess. Es muss das bittere Gefühl ferngehalten werden, dass ,die Feder verderben könnte, was das Schwert geschaffen hat.' Wir glauben fest, dass die maßgebenden Stellen noch entsprechende Mittel und Wege finden werden."
Der „Angriff" bringt die Schlagzeile:
„Höchststrafe nur 10 Jahre Zuchthaus!"
„Schon während der Urteilsverkündung wurden dauernd Zwischenrufe aus dem Zuschauerraum laut, die sich zum Schluss der Urteilsverkündung zu ungeheuren Lärmszenen steigerten, so dass der Vorsitzende die Sitzung unterbrechen musste.
Dieses Urteil erfüllt eine Bedingung: es entspricht dem nüchternen Buchstaben des Gesetzes. Die ungeheure Enttäuschung jedoch, die es zweifellos im Volk und besonders bei den alten Mitkämpfern Maikowskis hervorrufen wird, und die Lärmszenen, die der Urteilsverkündung folgten, beweisen mit Deutlichkeit und Schärfe, wie notwendig die Aufrichtung eines wahrhaft deutschen, dem natürlichen Volksempfinden entsprechenden Rechtes an Stelle eines kalten, lebensfeindlichen Paragraphensystems geworden ist." —
Höchststrafe nur 10 Jahre Zuchthaus!
Ich habe unlängst die Frau eines schon vor Monaten zu Zuchthaus verurteilten Genossen gesprochen. Pakete darf sie ihrem Mann nicht schicken. Auch nicht zu Weihnachten oder zu anderen Festtagen. Alle acht Wochen darf er von ihr einen zensierten Brief empfangen. Alle Vierteljahre darf sie, nur sie, ihn sehen. Zehn Minuten, unter Aufsicht. Ihr Mann ist bei der Zuchthauskost in den wenigen Monaten zum Skelett abgemagert, erzählte sie mir. Die eintönige Haft zerfrisst langsam seine Nerven. Für die meisten Gefangenen gibt es keine
Beschäftigung, aus Arbeitsmangel. Jede geistige Entspannung ist als „zu human" abgeschafft worden. —
Das „Volk" hat im Gerichtssaal gegen das Maikowski-Urteil „protestiert". Die Kumpane Maikowskis, die SA-Leute vom Sturm 33. Der Vorsitzende musste die Urteilsverkündung unterbrechen - der „Völkische Beobachter" glaubt fest, dass die maßgebenden Stellen noch entsprechende Mittel und Wege finden werden.
Diesen Vorfall, diese Drohung verstanden wir erst genau, als uns X aus der SA-Reserve am nächsten Tag darüber berichtete. Die anwesenden Dreiunddreißiger hatten eine Protestdelegation zum preußischen Justizministerium geschickt. Der Staatssekretär Freisler kam sofort. Er hielt vor den SA-Leuten im Gerichtssaal eine „Beruhigungs"-Rede. Von der Tribüne dieses „gesetzmäßigen" Gerichtes, das sich deshalb extra um eine Stunde vertagt hatte. Er sagte unter anderem:
„Wir bauen einen nationalsozialistischen Staat auf, aber das Ziel ist noch nicht erreicht, SA-Kameraden. Deshalb wollen wir das Urteil anhören, das dieser Gerichtshof des nationalsozialistischen Staates gefällt hat. Was wir über dieses Urteil zu sagen haben, wird von denen ausgesprochen werden, die das Vertrauen des Führers besitzen. Dieser Fall wird von den Ministern sehr sorgfältig geprüft werden, und auf Grund seiner Entscheidung werden künftige Schritte ergriffen werden."
Für meine Aufzeichnungen sind neue Schwierigkeiten entstanden. Das Manuskript ist schon so groß geworden, dass es an meiner alten Stelle nicht mehr sicher genug untergebracht war. Ich hatte es deshalb zu einem Sympathisierenden gebracht. Der gab es mir aber nach zwei Wochen zurück. Er fühlte sich auch nicht mehr sicher, sagte er. Darauf brachte ich es zu einem andern, der nach außen hin „ein gutsituierter Bürger" ist. Auch er hat es mir jetzt zurückgegeben. Sein Portier schaue ihn immer so merkwürdig an, der wüsste, dass er früher linke Zeitungen gelesen habe, sagte er. Es sei doch deshalb für ihn und für mich besser, wenn ich das Paket zurückbekäme.
Ich hatte beiden gesagt, dass es sich um etwas Illegales handelt. Ich musste das tun. Ich hatte das Paket gut verschnürt. Jetzt bin ich aber der festen Überzeugung, dass sie es beide doch aufgemacht haben. Sie haben gesehen, um was es sich handelt, es ist ihnen klargeworden, was es auch für sie bedeutet, wenn das Manuskript durch irgendeinen Zufall bei ihnen gefunden würde.
Wenn es so ist - jeder Mitwisser kann mich ja auch später noch irgendwie gefährden. Vielleicht dachten sie auch nur, dass ich ihnen die Gestapo auf den Hals hetzen könnte, wenn ich von Zeit zu Zeit die neuen fertigen Seiten bringe.
Ich glaube jedenfalls nicht an ihre Begründungen. Sie haben einfach Angst bekommen. Heute nacht muss ich nun das Manuskript bei mir im Zimmer behalten. Morgen muss ich es aber unbedingt fortschaffen. Es kann bei mir nicht lagern, in unserer gefährdeten Gegend. - Wie schwierig das alles ist!
Die Zeitungen schreiben:
„In den späten Abendstunden des heutigen 30. Januar, dem Jahrestag des Mordes, wird in der Maikowskistraße eine Gedenkfeier stattfinden. Die gesamte Standarte West der SA und eine Abteilung der Polizei zur besonderen Verwendung, Wecke, nimmt daran teil. Obergruppenführer Heines wird die Eltern Maikowskis begrüßen. Dann hält der Stabschef der SA, Röhm, die Gedenkrede. Es werden außerdem anwesend sein: Gruppenführer Prinz August Wilhelm, Polizeipräsident Admiral a. D. Levetzow, Polizeioberst Beck, General Göring, Polizeigeneral Daluege, der Führer des NSKK, Obergruppenführer Hühnlein, der Staatskommissar der Stadt Berlin und Standartenführer Dr. Lippert, der Chef der SS, Himmler."
Teichert steht auf, nimmt seine Mütze vom Kleiderriegel. Seine Frau steht am Herd und rührt in einem Kochtopf. Als wir schon an der Tür sind, dreht sie sich um.
Sie sagt: „Sei vorsichtig, Paul, ich bitte dich. Wo sie heute zu Tausenden herkommen."
Teichert geht nochmals zu ihr zurück. Er legt den Arm um ihre Schulter. Er sagt: „Is doch gar nichts. Den Trubel sehen sich doch heute viele an. Geh nur nachher schlafen."
Frau Teichert nickt. Sie lässt den Quirl los, kommt mit bis zur Tür.
Als wir die Treppen hinuntergehen, sieht sie uns nach.
Dass ich ihn auch wieder abgeholt habe - die Frau - ob sie sich jetzt doch etwas dabei denkt? Auf unsere Tätigkeit aufmerksam wird?
Vor der Haustür stehen drei Männer und unterhalten sich leise.
„Auch ,feiern'?" fragt einer. Er hat die Hände tief in den Taschen seiner Lederjacke vergraben.
Die beiden andern lachen spöttisch. Ich ziehe Teichert am Ärmel. Bloß nicht hier stehen bleiben, sich festreden.
„Ja, ein bisschen", sagt Teichert.
„Der Jüngere kam mir so bekannt vor", sage ich, als wir ein Stück weiter sind.
„Bernhard Rutz", sagt Teichert. „Der ist erst seit zwei Tagen hier. Von der Landhilfe ausgerückt. Ist mit dem Fahrrad von Ostpreußen gekommen - jetzt im Winter!"
Er sieht mich an.
„Ich habe ihn erst flüchtig gesprochen. Wir werden uns von ihm einen Bericht geben lassen, der erzählt Sachen!"
„Bernhard Rutz? War der nicht früher in der roten Jungfront?"
„Ja, natürlich. Wir müssen auch versuchen, den Jungen wieder aktiv zu machen. Dabei werden wir uns aber Zeit lassen. Erst muss man sich den mal genau ansehen."
Es ist längst die Zeit nach Häuserschluss. Die Straßenlaternen haben einen diesigen gelben Lichtkranz. Ihr Schein versickert nach wenigen Metern in der anbrechenden Winternacht. Nur hinter den hohen geriffelten Fenstern des Umformerwerkes brennt wie immer grelles Licht.
Bei solchem nasskalten Wetter liegt unsere Straße sonst immer wie ausgestorben. Heute aber gehen Fußgängergruppen hin und her. Wir sehen viele bekannte Gesichter. Grüßen die Genossen stumm mit den Augen. Teichert stößt mich plötzlich an. Ede kommt uns entgegen. Ich sehe, dass er sein Glasauge trägt, seinen blauen Anzug. Hat sich gut als „Passant" aufgemacht. Als er dicht vor uns ist, stutzt er. Der will uns doch nicht etwa ansprechen?! Ich sehe ihn starr an, schüttle leicht den Kopf. Er versteht, geht an uns vorbei. Ein Stück weiter sehen wir Ernst Schwiebus. Er geht mit Emil Schmidt. Die beiden benehmen sich gut, „kennen uns nicht". Heinz Preuß fällt mir ein. Emil Schmidt war doch damals mit ihm kleben, als Preuß verhaftet wurde. Jetzt ist er aus dem Konzentrationslager entlassen. Preuß wird doch heute nicht hier herumlaufen!? Wäre sträflicher Leichtsinn. Hätten wir ihn sicher schon gesehen, unsere Straße ist ja kurz, beruhige ich mich. - Es ist, als ob alle unsere Genossen eine stille Vereinbarung getroffen haben. Ihre bloße Anwesenheit gibt unserer Straße für uns alle ihr altes Aussehen. Ja, aus den Fenstern hängen dicht die Hakenkreuzfahnen. Sie sind Kulissen für uns. Die SA hat da wieder mit „altbewährter Methode" nachgeholfen.
Wir überqueren die Krumme Straße, nähern uns der Plakettenstelle. Ein dunkler Menschenhaufen steht davor, bis weit auf den Fahrdamm. Ich muss an Rothacker denken. Vor einem halben Jahr hat er mit mir hier bei der Plaketteneinweihung in der Garagendurchfahrt gestanden. Wie schnell die Monate vergangen sind! Wir haben lange nichts mehr von Rothacker gehört. Sein letzter Brief kam aus Jugoslawien. Das Emigrantenkomitee hatte die Familie dorthin geschickt.
„Gehn wir rüber", sagt Teichert.
Wir stellen uns zu dem Menschenhaufen. Niemand achtet auf uns. Das dort rötlichgelb flackernde Licht sind Ölflammen in Zinkbehältern, sehen wir. Sie stehen links und rechts von der Plakettenwand. Es stinkt nach dem verbrannten Öl. Qualm steigt auf. Vor der Wand steht regungslos ein SA-
Doppelposten. In langen braunen Wintermänteln, die Sturmriemen der flachen Mützen unter dem Kinn. Zwischen den Posten liegen auf dem Bürgersteig Kränze mit hellen Schleifen. Die beiden Bronzeplaketten sind grün umkränzt, ganz oben hängt ein Hakenkreuz aus Tannenreisern. Neben dem SA-Doppelposten steht an jeder Seite ein Lorbeerbaum.
Ich sehe, dass sich Zivilisten ohne Gruß dazustellen, wie wir es gemacht haben. Andere aber, Uniformierte, auch Zivilisten, bleiben stehen, schlagen die Haken zusammen und heben den Arm zum Hitlergruß, ehe sie näher treten. Zuschauer kommen und gehen. Die Straße füllt sich langsam mit Schaulustigen, die den bevorstehenden Aufmarsch sehen wollen.
Ich stoße Teichert an. Neben uns unterhalten sich zwei SA-Leute.
„— die meisten sind hier noch unsere Feinde, wenn sie auch die Fahne raushängen!"
„Hätte damals in der Nacht alles runtergebrannt werden müssen", sagt der andere. „Am schlimmsten ist's doch, wenn du nicht weißt, wem du trauen kannst!"
Der erste SA-Mann sagt noch etwas, aber wir verstehen nichts mehr. Die beiden SA-Männer gehen weiter. Auch wir gehen.
Dieser Maikowski! Jetzt ist er der gefeierte „Märtyrer". Der war ihnen doch auch schon unbequem geworden. Er hatte doch mit seinem Sturm den Kirchgang verweigert.
„Wir müssen in die Straße zurück. Sie werden bald absperren", reißt mich Teichert aus meinen Gedanken.
„Ja."
In unserer Straße ist das Gedränge noch dichter geworden. Ganze Gruppen gehen in der Richtung zu den Bronzeplaketten, kommen von dort zurück. Es sind ausschließlich Zivilisten, ich sehe nur vereinzelte Uniformen der Hitler-Jugend. Die SA wird sich schon irgendwo zum Aufmarsch sammeln. Sie werden bald absperren, Teichert hatte recht. Was machen wir dann? - Plötzlich fällt mir eine Lösung ein.
„Wir könnten zu Mutter Franke gehen, Paul. Sie wohnt doch bei der Plakettenstelle", sage ich leise.
Teichert sieht mich fragend an.
„Mutter Franke...?" sagt er gedehnt.
„Die alte Postschaffnerwitwe, die Zigalski für die Rote Hilfe kassiert."
„Richtig - das is 'ne Idee!" freut sich Teichert.
Wir gehen schneller. Hinter der Krummen Straße, bei den Plaketten, ist auch der Fahrdamm voller Menschen. Mutter Frankes Haustür ist noch auf. Leute, wohl Mieter aus dem Hause, stehen davor. Wenige Minuten später bin ich zurück. Teichert hat abseits auf mich gewartet.
„In Ordnung. Sie ist noch auf und ist einverstanden."
Wir gehen einzeln in das Haus. Mutter Franke freut sich.
„Dass ihr auch mal zu mir kommt... dass ihr...", sie wiederholt den Satz ein paarmal.
Es hat sie wohl doch sehr überrascht. Sie schüttelt immer noch verwundert den Kopf. Ihr Haar liegt glatt und weiß darauf. In der Mitte ist es gescheitelt. Ihre Augen glänzen vor Freude. Ihr Gesicht ist von unzähligen kleinen Falten durchzogen. Sieht aber noch sehr rüstig aus, die alte Frau. Sie muss doch schon über sechzig sein. Mutter Franke läuft mit kleinen trippelnden Schritten vor uns her, winkt uns mit der Hand.
„Kommt, kommt, in die Stube ... nach vorn."
Mutter Franke rückt zwei Stühle vom Tisch, geht dann wieder hinaus. Ich setze mich. Mir gegenüber, in einer Ecke des Plüschsofas, sitzt eine große Katze.
Teichert ist zum Fenster gegangen.
„Gute Sicht", sagt er und kommt zurück. - „Wo ist denn Mutter Franke?"
Ich stehe auf. Mutter Franke steht in der Küche und mahlt Kaffee. Auf dem Gaskocher summt der Wasserkessel.
„Doch nicht etwa für uns?"
Mutter Franke lacht.
„Gerade für euch. Geh nur wieder rein, geh nur!"
Ich protestiere erneut, aber sie schiebt mich mit dem Ellenbogen aus der Küche.
Wir trinken Kaffee. Mutter Franke stellt unaufhörlich Fragen. Sie hätte lange nicht mit Genossen gesprochen. Zigalski käme ja immer nur auf einige Minuten zu ihr. Ja, sie wäre heute sowieso aufgeblieben. Ich wundere mich immer wieder, wie rege die alte Frau erzählt, wie aufnahmebegierig sie ist. Sie lese regelmäßig Zeitungen. Wenn man etwas erfahren wolle, müsse man heute zwischen den Zeilen lesen können, meint sie. Sie blinzelt uns zu: „Zigalski bringt mir ja ab und zu was anderes." Sie lächelt verschmitzt. „Wenn das nicht wär!"
An der alten Frau können wir Jungen uns ein Beispiel nehmen, geht es mir durch den Kopf. Sie tut doch, was sie noch kann. Zahlt ihre Beiträge, gibt uns manchmal eine Mark extra. Ihr Mann war schon im Spartakusbund organisiert. Sie ist uns treu geblieben, wohl schon mit dem Gedanken an ihn. Bei der Bahnpost war er. Hat sich dort eine Lungenentzündung geholt. Ist schon viele Jahre tot. - Die Nazis entziehen der alten Frau doch die Rente, wenn sie etwas über sie erfahren. Ist tapfer, die Mutter Franke.
Teichert steht schon lange am Fenster.
„Sie räumen jetzt!... Sie räumen!..." sagt er plötzlich.
Dann stehen wir Schulter an Schulter.
Durch die Stille kommt plötzlich Glockenläuten zu uns. Da - noch eine, entfernter. Wir sehen uns stumm an. Auch das noch - gehört mit dazu - weshalb läuten sie sonst mitten in der Nacht?
Von rechts, vom Knick der Straße, wo das Umformerwerk steht, kommt plötzlich dumpfer Trommelwirbel und verschwommener Gesang. Ich beuge mich aus dem Fenster. Ganz hinten biegen sie gerade um den Knick der Straße. Ich kann keine Menschen erkennen, sehe nur zwei Reihen Fackeln. Als ich den Kopf zurücknehme, sehe ich halb rechts unter uns auf der Straße eine dunkle Menschengruppe. Die haben wir nicht kommen hören. Es sind Zivilisten. - Wahrscheinlich die Angehörigen von Maikowski.
Der Gesang in der Straße wird deutlicher:
„Die Straße frei den braunen Bataillonen, die Straße frei dem Sturmabteilungsmann ..."
Dann ist die Zugspitze heran. Der Gesang dröhnt in der engen Straße. Der einzelne Uniformierte vor dem Zug reißt plötzlich seinen rechten Arm schräg hoch. Unter uns zieht es vorbei. Lange, lange Reihen brennender Fackeln, erhobene Arme, im Marschtakt wippende Uniformrücken und Mützen.
Die Straße frei... Vor einem Jahr war sie für euch noch nicht frei. Ihr wolltet sie im Sturm nehmen. Heute tragt ihr eure Lieder, den Tritt eurer Marschstiefel durch die Straße. Aber gehört sie euch denn - nach einem Jahr blutigen Terrors? Ihr marschiert noch immer durch unsere Straße - durch Feindesland. Am Jahrestag eurer „Revolution". Am Jahrestag eures „Sieges".
Hinter dem Zug der SA kommt eine kleine Lücke und dann - lange Viererreihen grauer Stahlhelme. An den Stahlhelmen leuchten weiße Hakenkreuze, Karabinerläufe stehen daneben. Die Polizei zur besonderen Verwendung, Wecke, Görings Kerntruppe. Vor der Polizeiabteilung reitet auf tänzelndem Pferd ein Offizier. Sein Stahlhelm wippt im Takt des Pferdes auf und ab. In der rechten Hand hält er einen blanken Degen. Auf der Höhe der Plakettenwand stößt er ihn schräg in die Luft.
„Präsen-tiert... das... Ge-wäähr!"
Durch die Stahlhelmreihen geht ein Ruck. Hände klatschen gleichmäßig an die Waffen. Das ist keine Gedenkfeier mehr. Das soll ein neuer Einschüchterungsversuch sein. Die Macht des faschistischen Staates soll demonstriert werden!
„Abteilung-halt!"
„Räääächts - um!"
Die Stahlhelmpolizei steht jetzt mit der Front zur Plakettenwand. Am linken Flügel. Von rechts kommt eine einzelne SA-Abteilung heran. Wieder Befehle, kürzer, klarer. Die SA bleibt am rechten Flügel ausgerichtet stehen.
„Die Dreiunddreißiger", sagt Teichert leise. Der Parademarsch ist noch nicht beendet. Von links und rechts kommen jetzt Gruppen mit Fahnen. Sie nehmen zu beiden Seiten der Plakettenwand Aufstellung.
Es ist plötzlich ganz still. Das Pferd des Offiziers schnauft, stampft mit den Hufen. Deutlich kommt das Geräusch zu uns herauf. Durch die Stille hören wir plötzlich von links her Autosirenen. Sie brechen sofort wieder ab. Augenblicke später kommen neue Kommandos.
„SA - stillgestanden!... Augen - rechts!" Auch der Polizeioffizier kommandiert wieder. Die Kolben der Karabiner stoßen auf den Asphalt. Eine kleine Gruppe Uniformierter, im Fackelschein leuchten an den Mantelkragen und den Mützen große helle Streifen, schreitet die Front ab. An ihrer Spitze geht ein untersetzter dicker Mann. Er hebt lässig den rechten Arm. Röhm! Dahinter, die schwarze Uniform - Himmler. Der Dicke mit dem schaukelnden Gang -Göring. Dass der dem Röhm überhaupt erlaubt, an der Spitze zu gehen!
Wieder rasseln Trommeln. Dann beginnt eine Stimme die Stille zu füllen. Der Redner gestikuliert heftig mit den Armen. Es ist Heines. Er begrüßt die Eltern, die „Ehrengäste". - -
Ich schließe die Augen, lehne die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Plötzlich ist eine Vision vor mir, klar und deutlich. Männer mit verblichenen feldgrauen Uniformen, in blauen Matrosenanzügen kommen unsere Straße herunter. Zivilisten mit rußigen, zerfetzten, verdreckten Kleidern. Ihre Gesichter sind mit geronnenem Blut bedeckt. Eingeschlagene Schädel, zerschossene, durchstochene Körper. Spartakuskämpfer, Arbeiter von der Roten Armee an der Ruhr, Arbeiter von Hamburgs Barrikaden, von deutschen Aufständen: Hunderte, Tausende, Zehntausende ermordeter Kämpfer. In ihrer Mitte geht eine kleine Gruppe. Ein Mann und eine kleine Frau an ihrer Spitze. Der Mann hat einen kurzgeschorenen Kopf, trägt eine Brille. Die Frau hat dichtes schwarzes Haar. Karl Liebknecht - Rosa Luxemburg.
Noch mehr bekannte Gesichter sind unter den beiden: Levine, Landauer, Sylt, viele andere. Am Schluss des lautlosen Zuges gehen die Kameraden unserer Kampfjahre, unserer Straße: Hans Klaffert, Otto Grüneberg, Paul Schulz -viele, viele. Jetzt bleibt der lautlose Zug stehen. Seine Mitte ist genau unter uns. Der Mann mit dem kurzgeschorenen Kopf und der blanken Brille hebt den Arm:
„Sind wir dafür gestorben?!"
„Nein!" antwortet es tausendstimmig. Der Mann dreht sich um, er zeigt zu uns herauf:
„Ihr aber lebt noch!"
Auf dem Podium drüben vor dem blanken Mikrophon steht jetzt der Stabschef der SA, Röhm. Er stützt die Arme in die Seiten.
„------Reich der Ehre und der Freiheit... Ihr droben als
Helden seid uns Vorkämpfer und Mahner..."
Ich sehe Teichert verstohlen von der Seite an. Als unten wieder die Arme hochgehen, wendet sich Teichert angewidert ab, macht einige Schritte in das Zimmer hinein.
Wieder ist es still im Zimmer.
Als dann draußen das Horst-Wessel-Lied beginnt, dreht sich Teichert um, geht zum Fenster und schließt es mit einem schnellen Griff.
„Da singen sie... und unsre... und unsre ...", sagt Mutter Franke.
Lange sitzen wir schweigend. Ich sehe von Zeit zu Zeit auf die Straße hinunter. Endlich ist sie leer. Mutter Franke gibt uns einen Hausschlüssel.
„Macht's gut, Jungens, macht's gut", sagt sie.
1. Februar 1934. Heute hat der Prozess gegen Richard Hüttig und die Genossen seiner Häuserschutzstaffeln begonnen. Wie ich schon früher erwähnte, werden sie beschuldigt, bei einem Zusammenstoß mit der SA und SS Mitte Februar vorigen Jahres den SS-Scharführer von der Ahe erschossen zu haben. Der Zusammenstoß erfolgte bei einer der vielen Strafexpeditionen, die die Nazis nach ihrer Machtübernahme in Charlottenburg machten. Unsere Genossen setzten sich damals zur Wehr. Sie besaßen keine Schusswaffen, aber die SA schoss. Dabei wurde von der Ahe tödlich getroffen. Wir wissen, dass wegen dieser Vorfälle vom Sturm 33 und der Polizei im Laufe der Monate vierundzwanzig Genossen verhaftet wurden. Sogar Anfang September 1933 noch sperrte die Gestapo zusammen mit der SA und SS plötzlich unsere Straße ab und machte Razzia. Dabei wurden allein fünfzehn Verhaftungen vorgenommen. Die Zeitungen schreiben jetzt aber, dass es nur achtzehn Angeklagte sind. Wir alle haben dafür nur eine Erklärung, so furchtbar sie auch ist: die übrigen sechs Genossen müssen schon ermordet worden sein, sonst hätte man sie doch bestimmt mit angeklagt.
Zwei von den verschwundenen sechs Genossen kannte ich genau. Voss und Drescher heißen sie.
Gestern habe ich mir vorgenommen, für die illegale Arbeit nie mehr das Fahrrad zu benutzen. Damals schossen SA-Leute nach mir, als ich mit dem Fahrrad Material transportierte. Gestern war die Situation auch gefährlich. Das kam so:
Ich fuhr in den Nachbarbezirk zu einer Literaturstelle, von der ich für uns Broschüren abholen sollte. Wir bekommen jetzt sehr viel gedruckte Broschüren. Sie sind äußerlich immer gut getarnt. Mal ist es ein „Reiseprospekt" mit einer schönen Frau auf dem Titelbild, dann wieder ein „Propagandaheft für den Luftschutz". Jede Broschüre hat einen anderen Umschlag, die ersten Druckseiten sind meist mit richtigem Nazitext bedruckt.
Die Literaturstelle, bei der ich nun gestern war, liegt in einer stillen Straße. Als ich in die Straße einbiege, kommt mir schon der Gedanke: Ist auffällig, hier mit dem Fahrrad zu kommen. Sind doch alles moderne verschlossene Beamtenhäuser, wer fährt hier schon Fahrrad! Plötzlich sehe ich, dass vor dem fraglichen Haus, neben der Haustür, schon ein Fahrrad angeschlossen steht. Verdammt! Nun schon zwei Räder! Sieht auch ganz so aus, als ob damit schon ein anderer zu dem Genossen gekommen ist und Material abholt. Wenn du hier aber erst lange hin und her fährst, wird die ganze Geschichte noch auffälliger, überlegte ich. Ich steige also doch ab, schließe mein Rad neben dem anderen an.
Auf das verabredete Klingelzeichen öffnet eine junge Frau. Ich sage das Erkennungswort, und sie bittet mich, näher zu treten. Gleich darauf kommt der Genosse. Ich kenne ihn schon von früher. Ich sage ihm sofort, dass ich mit dem Fahrrad gekommen bin - ob das andere Rad vor der Haustür etwa auch...? Ja, der Genosse sei hinten im Zimmer. - „Dumme Sache, hättest du mich später oder früher herbestellen sollen", sage ich ihm. Der andere Genosse sollte schon gestern kommen, es wäre nicht seine Schuld, meint der Genosse. „Können wir auch jetzt nicht mehr ändern, ich muss mich beeilen", dränge ich. Der Genosse bringt die Broschüren, ich verstaue sie am Körper und gehe. Das alles dauert nur wenige Minuten.
Als ich unten den Schlüssel für das Sicherheitsschloss aus der Tasche ziehe, sehe ich einen kleinen Zettel, der hinter die Schutzkette geklemmt ist. Ich öffne langsam das Schloss, falte mit der andern Hand den Zettel unauffällig auseinander.
„Zwei Fahrräder! Achtung - Gefahr!"
steht auf dem Zettel.
Ich drücke ihn zusammen, fahre mit der Hand wie zufällig über den Mund - verschluckt. Ich drehe das Rad herum, packe langsam die Sicherheitskette ein. Meine Gedanken arbeiten fieberhaft, meine Augen überfliegen die Straße.
Die ersten zwei Worte sind ein Vorwurf - den ich mir vorhin schon selbst gemacht habe - und die Warnung darunter? Kommt sie wirklich von Genossen - oder ist sie etwa eine Provokation?! Dann hätte ich den Zettel nicht verschlucken dürfen, einfach fallen lassen müssen. Ich war doch nur einige Minuten oben - die waren dann vorhin schon da! Die beiden Männer - die dort auf der andern Straßenseite in großem Abstand wie zufällig auf und ab gehen. Und dort rechts! An der Straßenecke steht auf jeder Seite noch einer! Also alles abgeriegelt! Die Straße ist doch sonst ganz leer, kein Fußgänger ist zu sehen. Und ich habe die Broschüren an mir - verflucht - das langt für einige Jahre Zuchthaus! Was nun?! -Quatsch, was nun - losfahren - meine Verhaftung kommt sowieso.
Ich schiebe das Fahrrad langsam an den Rinnstein, steige auf. Drüben auf dem Bürgersteig bleibt einer der Männer stehen und sieht mir nach. Der schwere Mantel, die steife Glocke, die Bullenfresse - Gestapo! Meine Füße treten mechanisch die Pedale, in meinem Kopf summt es wie ein Bienenschwarm. Fünf Meter - acht Meter - warum schreien die denn nicht: „Halt!" - Warum...?! Ich erreiche die Ecke, biege langsam rechts ein. Der Mann dort steht mit den Händen in den Manteltaschen, er hat den weichen Hut lässig ins Genick geschoben. Sekundenlang sehen wir uns an. Es ist Harry! Ein Funktionär aus diesem Bezirk, mir gut bekannt. -Harry - Harry -, dann ist der zweite an der gegenüberliegenden Ecke sicher auch ein Genosse. Sie haben also den Zettel geschrieben! - Aber die beiden hinter mir in der Straße sind Gestapobeamte. Bestimmt! Das fühlt man doch schon - wozu sonst auch der Warnungszettel?
Ich fahre, fahre, niemand hält mich an. Es dauert lange, bis ich erfasse, dass ich trotz allem wieder Glück gehabt habe. Plötzlich ist mir, als hätte mir jemand mein Leben neu geschenkt. Ich fahre noch eine Stunde lang, quer durch die ganze Stadt. Steige mehrmals ab, sehe mir Schaufenster an, fahre weiter. Erst als ich überzeugt bin, dass wirklich niemand hinter mir ist, dass ich nicht „beschattet" bin, fahre ich in unsere Straße zurück. Aber soviel ich auch darüber nachdenke, ich komme nicht auf die Zusammenhänge der ganzen Angelegenheit.
Die erfuhr ich jedoch bald. Die Genossen hatten ihre Literaturstelle immer durch Posten „abgedeckt". An diesem Tag war die Gestapo zum ersten Mal da - aber sie griff nicht zu!
Das holte sie am nächsten Tag nach - doch da kam sie in eine „saubere", gut bürgerliche Wohnung. Die Wohnung wurde vollständig kopfgestellt, aber die Haussuchung blieb ergebnislos. Der Genosse wurde nicht einmal verhaftet. Er ist sofort „abgehängt" worden. - Ich aber bin bei der illegalen Arbeit das letzte Mal mit dem Fahrrad gefahren. Die Berliner Verkehrsgesellschaft wird mich von nun an zu ihren treuen Fahrgästen zählen können. Das Fahrgeld dafür muss eben aufgebracht werden. Ich werde jetzt auch immer „gut bürgerlich" angezogen gehen. Die Nazis trauen ihren „Volksgenossen" bestimmt viel weniger „Schlechtes" zu, wenn sie „anständig" aussehen. - Es ist merkwürdig, dass ich nun schon wieder „obenauf" bin? Es ist nicht merkwürdig. Ich kann das bei allen Genossen feststellen - und das ist gut so! Wir alle sind bei der illegalen Arbeit jeden Tag in Gefahr. Wenn man aber ständig bedroht ist, verliert die Gefahr bis zu einem gewissen Grad ihre Schrecken. Ist man aber in einer gefährlichen Situation, so muss man sich zur Ruhe zwingen. Den meisten Genossen gelingt es. Sie wissen ja, dass es immer um Jahre Zuchthaus, oft um das Leben geht.
Eben war Ernst Schwiebus bei mir und brachte mir zwei heutige Zeitungen. Ich soll einen Artikel schreiben. Für ein Flugblatt zum Ahe-Prozess, das noch heute nacht abgezogen werden soll.
Wir bangen seit Monaten um Richard Hüttig und die Genossen seiner Häuserschutzstaffel. Jetzt ist es zur Gewissheit geworden: sie wollen im Abe-Prozess Todesurteile fällen!
Ich suche aus einem Stapel Altpapier Zeitungen heraus, die ich gekennzeichnet habe und die über den Prozess berichten. Nur so war es möglich, sie zu sammeln. Ausschnitte hätte ich nicht aufheben können.
24. Januar 1934. „Nachtausgabe":
„Das Ziel dieses Prozesses ist nicht nur, Sühne zu finden für ein großes Verbrechen an der Freiheitsbewegung, sondern mit allen Machtmitteln des Gesetzes den bolschewistischen Spuk in Charlottenburg restlos auszuräumen —"
10. Februar 1934. „Berliner Morgenpost":
„Schluss der Beweisaufnahme im Ahe-Prozess! - Es muss der Urteilsberatung überlassen bleiben, ob das Gericht die Möglichkeit unterstellen wird, dass es sich bei dem tödlichen Schuss auf den SS-Mann von der Ahe um eine verirrte Kugel handelte, die der Zeuge, SA-Mann Amor, abfeuerte —"
10. Februar 1934. (Am selben Tag!) „Völkischer Beobachter":
„Der Schießsachverständige konnte die Frage, aus welcher Waffe das gefundene Geschoß stammt, nicht mit Sicherheit beantworten. Die ihm vorgelegten Pistolen waren sehr angerostet und hatten keine besonderen Merkmale, die er für ein sicheres Gutachten verwerten konnte."
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