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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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SPITZEL

Mai 1919.
Manchmal vergesse ich überhaupt schon, dass ich noch vor einem Monat Soldat gewesen bin. Die Schule langweilt mich, aber das Wetter ist schön. Ich liege den ganzen Tag im Ruderboot auf der Saale. Außerdem habe ich eine neue Freundin. Da habe ich nicht viel Zeit für andere Gedanken.
Aber ein Stachel bleibt: die Einwohnerwehr hat nach endgültiger Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung plötzlich Mut bekommen und einen sehr sorgfältigen Wachdienst organisiert. Einige Mitschüler von mir, die Mitglieder der Einwohnerwehr sind, dürfen jedes Mal zwei Stunden später zum Unterricht kommen, wenn sie am Abend vorher Wachdienst getan haben.
Sie sind nur bei der Einwohnerwehr, aber sie sind etwas Besonderes. Und ich, der ich regulärer Soldat gewesen bin, betrachte sie mit verächtlichem Neid. Ich muss jeden Morgen um acht Uhr in der Schule sein. Das schmerzt.
Manchmal fühlt man sich noch etwas wichtig. So z. B., wie die drei verhafteten Kameraden die man des Mordes an Meseberg verdächtigt, nach Halle überführt werden. Ich höre, dass Leutnant Roth nicht gefasst worden ist.
Die drei Anderen werden nach einiger Zeit wieder aus der Untersuchungshaft entlassen: sie haben nur den Befehl eines Vorgesetzten ausgeführt und konnten nicht wissen, dass dieser Befehl zur Verhaftung ungesetzlich war. Meseberg hat auf der Brücke einen Fluchtversuch gemacht und ist dabei erschossen worden. Der Gerechtigkeit ist mit diesem Untersuchungsergebnis Genüge getan.
Ich sehe die Drei dann und wann. Fischer besucht mich sogar regelmäßig. Es geht ihm sehr schlecht. Er hat oft Herzbeschwerden und leidet an Schlaflosigkeit. Er sieht aus wie der Tod.
Eines Tages kommt er zu mir und erzählt, dass er „dienstlich" nach Hamburg bestellt worden sei. Er leiht sich von mir eine Pistole, da er sich auf der Reise unsicher fühlt. Er leidet überhaupt häufig an Verfolgungsvorstellungen. So sagt er auch jetzt, er wisse nicht, ob ihm auf dieser Reise nicht etwas passieren könne.
Manchmal lacht er auch ganz ohne Grund,
raucht unausgesetzt Zigaretten, und seine Finger spielen immer mit einem Streichholz oder einem Stück Papier. Fischer ist sehr nervös.
Von dieser Reise nach Hamburg kommt er nicht wieder zurück. Nach einiger Zeit erkundige ich mich bei seinen Eltern nach ihm, und da höre ich, dass er Selbstmord verübt hat.
Man hat ihn in einer norddeutschen Stadt tot aufgefunden. Die Einschussöffnung saß merkwürdigerweise am Hinterkopf. Genau so, wie bei dem Kommunisten Meseberg. Aber die Polizei meinte ja, es liege hier Selbstmord vor...
Leutnant Roth soll Offizier im finnischen Generalstab geworden sein. In Norddeutschland wurde er von Zeit zu Zeit noch einmal gesehen...
Aber diese unheimlichen und erregenden Dinge liegen doch nur an der Peripherie meines Lebens. Ich bin und bleibe Oberprimaner des Hallischen Gymnasiums und soll mich nun bald aufs Abitur vorbereiten.
Ich kann mich an die Schule nicht gewöhnen. Irgendetwas in mir ist in den Märztagen dieses Jahres zerbrochen. Ich weiß nicht was. Aber ich fühle, dass ich nicht mehr derselbe bin, der ich war. Ich leide nun fast körperlich an meiner Bedeutungslosigkeit.
Am zweiten September wurde sonst immer der Sieg bei Sedan gefeiert. In diesem Jahr ist von der Schulbehörde im Auftrage des Staatsministeriums jede offizielle Schulfeier verboten. Wir sind darüber empört und sehen dieses Verbot als eine Verbeugung vor den Franzosen an.
Es wird beschlossen, eine Feier zu improvisieren, und in der großen Pause besteige ich auf dem Schulhof einen Müllkasten und halte eine zündende Ansprache, die nach der Versicherung, dass ein neues Sedan einst kommen werde, mit dem Deutschlandlied endet
In der nächsten Stunde haben wir Geschichte bei einem Lehrer, der bei uns im Verdacht demokratischer Gesinnung steht.
Mit leichtem Lächeln fragt er, ob wir etwas über die strategische und politische Bedeutung der Schlacht bei Sedan wüssten. Betretenes Schweigen. Keiner von uns hat auch nur eine leise Ahnung davon. Und wir schämen uns furchtbar, wie nun gerade dieser wilde Demokrat uns eine Stunde lang von der Schlacht bei Sedan erzählt.
Wenn wir nachher darüber sprechen, klingt durch alle unsere Unterhaltungen die Überraschung darüber, dass auch Demokraten anständige Menschen sein können, und ich bin ratloser als je zuvor.
Darüber hilft mir auch nicht die Tatsache hinweg, dass ich Nietzsche lese und Schopenhauer. Nachts sitze ich manchmal und schreibe Hymnen in Zarathustras Melodie. Aber am nächsten Morgen bin ich müde und traurig. Dann pöbele ich in der Schule einen Lehrer an, und mir wird besser.
Eines Tages bekomme ich einen Brief. Leutnant Walter, der Artillerieleutnant, der damals unsere Kompanie aufgelöst hat, bestellt mich zu einer Besprechung in seine Wohnung. Ich frage Döring, Scheele und Müller, ob sie auch hinkommen sollen. Aber sie wissen von nichts. Meine offenbare Bevorzugung beunruhigt mich und macht mich gleichzeitig stolz.
Bei Walter finde ich zur verabredeten Zeit etwa zehn ehemalige Angehörige meiner Kompanie. Bis auf Webach nur solche Leute, mit denen ich wenig zusammengekommen bin. Es sind alles ältere Menschen, Studenten, Kaufleute, Bankbeamte. Alle sind sie im Felde gewesen. In der Kompanie bildeten sie eine eigene Clique, in die sie niemand aufnahmen. Schon die Wahrnehmung, dass es die tonangebenden Leute der Kompanie sind, mit denen ich hier zusammentreffe, macht mich stolz und zu allem bereit, was Walter vielleicht von mir will.
Es werden Zigaretten und Schnaps angeboten, und wir tauschen Erinnerungen aus. Der Mord an Meseberg ist das Hauptgesprächsthema. Tatsächlich ist es also der Friseur Siegmann gewesen, der die Sache der Kriminalpolizei verraten hat. Alle sind empört über ihn, und meine Begriffe geraten ins Schwanken.
Ich verabscheue den Mord schon aus dem Grunde, weil ich niemals die zu einer solchen Tat nötige Entschlusskraft aufbringen würde. Aber ich habe viel zu wenig Gleichgewicht, um mich nicht sofort zu fragen, ob das nicht gerade ein Manko von mir ist, und ob ich nicht vielleicht nur meine innere Feigheit moralisch verbräme, um mich ihrer nicht schämen zu müssen.
Emstweilen schweige ich, denn ich habe in dieser Gesellschaft nichts zu sagen. Ich bin gerade noch geduldet. Alle sind sie mir überlegen. An Alter, an militärischer und menschlicher Erfahrung, an Kraft, an Männlichkeit.
Leutnant Walter duzt uns plötzlich. Dann setzt er uns in einem langen Vortrag auseinander, dass für die nächste Zeit mit kommunistischen Unruhen nicht zu rechnen sei. Dass wir also kaum in den nächsten Monaten wieder mit der Waffe in der Hand kämpfen werden. Aber natürlich würden solche Unruhen im Geheimen vorbereitet, und man müsse davon rechtzeitig wissen, um Gegenmaßnahmen treffen zu können.
Seine Rede endet damit, dass er uns Mitteilung von der Gründung einer Nachrichtenabteilung macht, die unter seiner Leitung stehen soll.
„Ich habe mich dabei an Leute gewandt, die mir aus der Kompanie als entschlossene und gewandte Kerle bekannt sind. Ich frage euch also, ob ihr Lust habt, diese Nachrichtenarbeit mitzumachen."
Zunächst ein peinliches Schweigen. Dann fragt Hiller ruhig: „Es handelt sich also, wenn ich dich recht verstehe, um ein Angebot, als Spitzel zu arbeiten?"
Walter macht eine verlegene Handbewegung: „Was heißt Spitzel? Ihr seid doch alle vernünftige Leute und wisst, dass man ohne Spione nicht auskommen kann. Ein Spitzel ist ein sehr ehrenwerter und durchaus notwendiger Mann, und ich garantiere euch, dass ihr bei mir und dem Garnisonkommando jede erdenkliche moralische Unterstützung finden werdet."
Wieder Schweigen. Dann macht Webach die Bewegung des Geldzählens: „Wie ist's denn mit der Marie?"
Es ergibt sich, dass wir genau soviel Geld bekommen sollen wie in der Kompanie. Außerdem Verpflegungsgeld und natürlich vollständigen Ersatz aller Spesen.
Die anderen schmunzeln. Mir ist noch einen Augenblick unbehaglich. Aber ich sehe, dass ich allein stehe, und darum schlage auch ich ein, wie Walter mir die Hand hinstreckt.
Dann gehe ich nach Hause. Ich bin also ein Spitzel. Ich verband bisher mit diesem Begriff die Vorstellung eines unsauberen Menschen, der für Geld seine Freunde verrät. Aber das kann ja nicht stimmen. Die Latjer, die ich bespitzeln soll, sind ja nicht meine Freunde. Und Webach, Hiller und auch Walter sind doch keine unsauberen Menschen. Im Gegenteil: Walter und Hiller sind Offiziere, Webach ist Student und verkehrt in sehr guten Familien der Stadt.
Es ist ein sehr ehrenwertes, aber sehr gefährliches Handwerk, und darum kann man zu
Spitzeln nur tadellose Leute gebrauchen. Und ich bin auch einer, sonst hätte man mich ja nicht aufgefordert mitzumachen. Ich gelte also etwas. Und das genügt mir.
Zunächst verpflichten wir uns durch Handschlag, mit keiner dritten Person über Angelegenheiten der Nachrichtenabteilung zu sprechen. Und wir halten diese Abmachung genau ein, nicht einmal unsere Familien sind über unser Tun und Treiben orientiert. Das ist Ehrensache. Bei mir führt das allerdings im Anfang manchmal zu Schwierigkeiten, wenn ich einen nächtlichen Ausgang mit dem Zauberwort „Dienst" begründe. Aber auf die Dauer können sich meine Verwandten dem Gewicht dieses Begriffs nicht verschließen, und ich kann unbehelligt von Fragen oder Vorwürfen gehen und kommen, wann ich will.
Ich bin mit Leib und Seele Spitzel. Mein Leben hat wieder einen Inhalt. Ich bin nur nach außen hin ein kleiner Pennäler. In Wirklichkeit bin ich ein „entschlossener und gewandter Kerl", der im Geheimen eine höchst wichtige Arbeit leistet. Den das Garnisonkommando moralisch unterstützt, der viel Geld verdient, ungefähr soviel, wie ein Akademiker mit Frau und Kind. Und dabei bin ich erst siebzehn und ein halbes Jahr alt.
Es ist eine fabelhafte Zeit, in der ich lebe: aus halben Kindern werden über Nacht Männer, die ihren Platz im Leben ausfüllen. Ich habe unbegrenzte Hochachtung vor mir, weil ich ein Spitzel bin.
Niemand sagt uns, wie die Spitzelarbeit anzugreifen ist, und anfangs ist das Ganze mehr eine Spielerei. Ich halte es vor Eifer nicht aus, und bereits am ersten Abend nach unserer Besprechung bei Walter gehe ich, in einen alten Militärmantel gehüllt, der mich völlig unkenntlich macht, in die verrufensten Viertel der Stadt.
Ich weiß nicht recht, was ich da will. Ich habe eine dunkle Vorstellung, als ob in irgendeiner obskuren Kneipe einige Kommunisten beisammen säßen und die Umsturzpläne der nächsten Zeit besprächen. Von meiner Umsicht und Gewandtheit wird es abhängen, ob ich solche Gespräche belauschen kann.
Ich gehe durch menschenleere Straßen, trete in kleine Kneipen, wo ein paar Männer schläfrig oder halbbetrunken Karten spielen, bohre mich in fremde Gespräche ein und höre, dass es sich immer um Dinge handelt, die für mich keinerlei Interesse haben: Weibergeschichten, Witze und hier und da Erinnerungen an den
Weltkrieg.
Ich weiß nicht, ob diese Männer, die ich belausche, nun gerade Kommunisten sind. Aber ich kann mir nichts anderes vorstellen, als dass die roten Verschwörer in den schlechten Vierteln der Stadt zu finden seien. Wenn ich nicht gleich am ersten Abend in den Puff gehe, so liegt es nur daran, dass ich kein Geld habe; im übrigen sind die Begriffe Puff, Kneipe, Verbrecher, Kommunisten bei mir unlösbar und unentwirrbar mit einander verknüpft.
Bald aber kommt System in die Arbeit: man findet einen Brief in seiner Wohnung, auf dem nichts weiter steht als Ort und Zeit einer Versammlung. Man geht hin und liefert möglichst noch am gleichen Abend einen Bericht bei Leutnant Walter ab.
Mein Arbeitsgebiet sind die öffentlichen Versammlungen der Kommunistischen und der Unabhängigen Partei. Ich bin fast jeden zweiten Abend im Volkspark. Die Referate der Redner kann man zwar am nächsten Tag in der Zeitung lesen, und darum brauche ich mich um sie nicht sonderlich zu kümmern. In der Hauptsache soll ich mich unter den Versammlungsteilnehmern herumtreiben, Gespräche belauschen und versuchen, dabei „Wichtiges" zu erfahren. Die Entscheidung darüber, was wichtig ist und was nicht, bleibt mir überlassen.
Wie ich zum ersten Mal als Spitzel eine Versammlung besuche, schlägt mir das Herz im Halse. Der große Saal ist gedrängt voll, es mögen an die tausend Menschen sein, die da dem Redner lauschen.
Ich bleibe dicht neben der Tür stehen. Erst nach einer Weile kann ich den Redner verstehen. Es handelt sich um die Taten der Ordnungstruppen während der Kampftage. Der Redner berichtet von haarsträubenden Gefangenenmisshandlungen, die in der Hauptpost dem Quartier der Landjäger, vorgefallen sein sollen.
Die Menge brüllt alle Augenblicke wild auf: „Nieder mit den Bluthunden! Totschlagen muss man die Bande!"
Ich habe Angst: Hier mitten unter diesen wütenden Menschen steht einer von diesen „Bluthunden". Wenn mich jetzt jemand stellt? Die Folgen wären nicht auszudenken. Meine Hand umkrampft in der Manteltasche den Griff der Pistole, der schon ganz schweißig ist. Aber was hilft das? Was kann im Ernstfall ein einziger Revolver gegen eine Menge von tausend aufgeregten Menschen ausrichten?
Ich bin immer weiter vom Eingang weggedrängt worden und stehe plötzlich mitten im Saal. Wieder überfällt mich diese unheimliche Angst, deren ich mich schäme. Aber ich kann nichts dagegen tun. Ich bin diesem lähmenden Entsetzen hilflos ausgeliefert und versuche, mich unauffällig wieder dem Ausgang zu nähern, den ich endlich auch erreiche.
Dort bleibe ich stehen. Kein Gedanke daran, irgendwelche Gespräche zu belauschen. Ich bin froh, dass ich hier unbeobachtet in meiner Ecke stehen darf. Mein Ehrgeiz, einen fabelhaften Bericht mit nach Hause zu bringen, ist plötzlich ganz und gar verflogen.
Bei einem neuen Wutausbruch der Menge will ich mich wieder durch einen Griff zur Pistole beruhigen, da rutscht sie mir aus der Tasche. Den Bruchteil einer Sekunde stehe ich starr. Der Saal kreist um mich. Ich fühle, wie ich bleich werde.
Dann bücke ich mich hastig, stecke die Pistole wieder ein und sehe mich unauffällig um. Neben mir steht ein alter Arbeiter, gebückt, das faltige und ausgemergelte Gesicht von einem schütteren Vollbart umrahmt. Ich fühle, wie sein Blick prüfend auf mir ruht, und wieder stockt mir der Herzschlag.
Der Alte schüttelt missbilligend den Kopf und sagt im schauerlichsten höllischen Sächsisch: „Du, Gleener, mach dadermit bloß geene Zikken!"
Ich beruhige ihn errötend und schäme mich furchtbar. Denn eben noch zuckte mir einen Augenblick der wahnwitzige Gedanke durchs Gehirn, auf meinen „Entlarver" zu schießen und darauf das Weite zu suchen.
Bald gehe ich dann still und mit zitternden Beinen nach Hause, und die Nachwehen des ausgestandenen Schreckens und meiner BeschäÂmung verdichten sich zu dem Vorsatz: „Nie wieder Spitzel!" Mein Bericht fällt an diesem Abend sehr kläglich aus.
Aber am nächsten Tag ist alles so ganz anders. Gestern Abend habe ich meine EmpöÂrung über die Gefangenenmisshandlungen, von denen der Redner sprach, damit niederhalten können, dass ich mir sagte: es werden wohl alles Lügen sein. Nun frage ich einen Kameraden:
„Nicht wahr, das mit dem Verprügeln von Gefangenen in der Hauptpost ist doch sicher Schwindel?"
Aber mein Kamerad, es ist der dicke Berger, sagt gemütlich und gelangweilt: „Nee, nee, in der Hauptpost sollen schon dolle Dinger vorgekommen sein."
„Aber das ist doch eine Gemeinheit!" entrüste ich mich. „Wehrlose Gefangene zu schlagen!"
Berger wird ordentlich wütend: „Red' doch keenen Stuss, Mensch! Wie haben es denn die Anderen gemacht, was?"
Ich werde unsicher, davon weiß ich nichts. Ich könnte wohl noch Vieles dazu sagen. So z. B., dass es mir schon im Krieg immer nicht eingeleuchtet hat, warum bei uns „Repressalien" ergriffen werden mussten, wenn in England oder Frankreich einmal deutsche Gefangene misshandelt worden waren. Die Gefangenen bei uns konnten doch gar nichts dafür?
Aber wenn Berger sich so aufregt, dann muss das wohl nicht ganz stimmen.
Und auf einmal habe ich Angst vor meinen Kameraden. Wenn ich nicht weiter mitmache, halten sie mich vielleicht für feige und un-
männlich. Das geht natürlich nicht. Ein Grund mehr, um weiter Spitzel zu bleiben.
Allmählich gewöhne ich mich an den Versammlungsdienst. Ich fürchte mich nicht mehr so sehr, seit ich weiß, dass mir nichts passiert, wenn ich mich still und bescheiden benehme. Ich kann manchmal sogar ganz interessante Sachen melden, die ich in zufälligem Gespräch erlauscht habe. Staatsgeheimnisse sind es gerade nicht. Aber es ist schon sehr wichtig, zu erfahren, dass es neulich in der Bezirksleitung der K. P. einen großen Krach gegeben hat, oder dass die Maßnahmen des Genossen X. in der Partei scharf kritisiert werden.
Die bespitzelten Organisationen sind gewerkschaftliche Verbände, die Kommunistische und die Unabhängige Partei. Auch Versammlungen der S. P. D. werden von Zeit zu Zeit besucht.
Dann ist da plötzlich ein Herr Kurz, der die Geschäfte der Abteilung übernimmt und den Sold auszahlt. Man weiß nichts von ihm, als dass er aus Mecklenburg stammt. Niemand hat ihn vorher gekannt. Im Freikorps war er nicht. Er ist etwas beschränkt, Typ pommerscher Gutsbeamter, aber er hat im Spitzelhandwerk einige Erfahrung und unterstützt Walter in der
Ausbildung unserer detektivistischen Fähigkeiten.
Nur ist mir oft nicht klar, was meine Berichte für einen Wert haben sollen. Ich bin der Ansicht, dass es meine Aufgabe ist, von Plänen zu berichten, die direkt die Vorbereitung eines offenen Aufruhrs bezwecken. Aber ich muss zu den harmlosesten Versammlungen gehen und Berichte schreiben über die nebensächlichsten Dinge.
So fahre ich eines Tages zum Kreistag der U. S. P. in Delitzsch. Zweiter Klasse natürlich. Erst esse ich sehr gut zu Abend, die Spesen werden ja ersetzt. Dann spricht in einem Saal, in dem kleinbürgerliches Publikum an langen Tischen sitzt und Bier trinkt, ein weißbärtiger alter Herr über die Kommunalpolitik der U. S. P. Der Bau einer Chaussee nach irgendwohin und die Tarifpolitik der Halle-Delitzscher Elektrischen sind wichtige Punkte seines Referats.
Spät abends bin ich wieder in Halle und schreibe sorgfältig einen Bericht.
Oder ich fahre mit der Straßenbahn nach einer Papierfabrik, weit außerhalb der Stadt. In der Nähe liegt ein Gartenlokal, in dem eine Betriebsversammlung stattfindet. Es muss irgendetwas sehr Wichtiges vorgehen, denn ich höre schon von weitem erregtes Geschrei. Die Gegend ringsum ist menschenleer. Es ist stockdunkel. Einen Augenblick kommt mir der Gedanke: wenn mich hier jemand totschlägt, kräht nicht Huhn, nicht Hahn danach. Ich schleiche mich vorsichtig in den Garten.
Anscheinend hat man in der Papierfabrik den Betriebsrat entlassen. Ich verstehe die Zusammenhänge nicht, und es interessiert mich auch nicht: Lohnfragen, Materialbereitstellung, Akkorde, Werkmeister Wittig...
Ich habe einen Weg von zwei Stunden gemacht, um mir diesen Unsinn anzuhören. Ich ärgere mich, also schreibe ich in meinem Bericht, es hätte sich nur um nebensächliche wirtschaftliche Fragen gehandelt.
Das trägt mir am nächsten Tag einen Rüffel ein. Denn gerade über diese Dinge wollte man etwas von mir hören. Ich verstehe nicht, wie sich ein Mensch ernsthaft um die Lohnstreitigkeiten in einer Papierfabrik kümmern kann.
Aber bald bekomme ich Aufklärung. Durch einen Zufall stellt sich heraus, dass wir nicht nur vom Garnisonkommando bezahlt werden, sondern auch von einer geheimnisvollen Berliner Organisation, die sich „Deutsche Wirtschaftshilfe" nennt. Einer von uns hat zufällig Walters Bankbuch gesehen, in dem ständig recht erhebliche Eingänge von dieser Vereinigung verbucht worden sind.
Es gibt eine Palastrevolution, erregte Auseinandersetzungen, die damit enden, dass wir für unsere Tätigkeit, soweit sie lediglich der Information von Arbeitgeberverbänden dient, eine besondere Zuwendung erhalten.
Mir ist das alles trotzdem noch schleierhaft. Ich habe mich bisher niemals um Streiks und Tarifkämpfe bekümmert. Ich verstehe davon nichts und halte sie für durchaus nebensächlich. Wirtschaft, — das ist etwas, was mit Politik überhaupt nichts zu tun hat. Und Wirtschaftskämpfe interessieren mich nur deshalb, weil aus ihnen sich manchmal innenpolitische Schwierigkeiten und Unruhen entwickeln können.
Ein Kamerad, der Volkswirtschaft studiert, hält mir einen langen Vortrag. An die Stelle der dynastischen Interessen, auf die sich früher alle politischen Verwicklungen bezogen, seien heute Wirtschaftsinteressen getreten. Aber er überzeugt mich nicht ganz.
Gewiss, ich weiß aus meinem Elternhause, dass wirtschaftliche Sorgen unangenehm und drückend sein können. Aber ich bin der Ansicht, ein tüchtiger Kerl findet immer genug Verdienstmöglichkeiten, wenn er nur etwas leistet und „entschlossen und gewandt" ist.
Ich bin doch noch ein ganz junger Mensch. Und verdiene ich nicht sehr anständig? Lohnforderungen und Tarif kämpfe sind sicher nichts als Äußerungen plebejischer Unzufriedenheit und Habgier, für die kein anständiger Mensch Verständnis haben kann.
Natürlich verstehe ich sehr gut, dass man gern besser leben möchte. Ich ärgere mich selbst jeden Tag über die eleganten Anzüge und die vornehme Wäsche meines Schulkameraden Lange. Aber dagegen ist doch nichts zu machen, Langes Vater hat eben mehr Geld als meiner. Da muss man selbst zusehen, dass man ordentlich verdient.
Und außerdem ist das doch nicht das Wichtigste. Die Hauptsache ist, dass man aus guter Familie stammt und sich ordentlich benehmen kann. Wenn man dazu noch etwas gelernt hat, dann wird es einem an nichts fehlen.
Ich bin erst in den Vorhof der unterirdischen Politik eingedrungen und glaube immer noch an politische Ziele und Ideale, die gewissermaßen im luftleeren Raum der Idee schweben und nur an Weltanschauung und Charakter gebunden sind.
Wir sind eben für Ruhe und Ordnung und weiter nichts. Wir haben die Aufgabe, Unruhen zu verhüten und merken es zunächst nicht, dass wir die Unruhe brauchen, um überhaupt leben zu können.
Die Aufregung der Kampftage muss sterilisiert, die Unruhe der Arbeiterschaft sorgfältig auf Eis gelegt werden, damit Freikorps und Kampfverbände ihre Existenzberechtigung nicht verlieren.
Niemand sagt uns das so klar, aber es dauert doch nur einige Wochen, bis ich diese Klarheit über Ziel und Zweck unserer Arbeit gewonnen habe.

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