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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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...UND KEIN ENDE

Jahre sind vergangen.
Ruhe und Ordnung sind zu historischen Begriffen geworden. Oberschlesien ist gerettet. Hitler und Ludendorff blieben Episoden. Das Ruhrgebiet ist lange schon von den Franzosen geräumt. Eine neue Generation wächst heran, die von jenen unruhigen Zeiten kaum noch etwas weiß...
An einem friedlichen Herbstsonntag, auf einem Ausflug, stoße ich am Rand eines Waldes auf etwa dreißig junge Leute mit Windjacken und Feldmützen. Ich bleibe stehen: sie haben eine Art Schützengraben aufgeworfen und starren gespannt nach vorne, wo über eine Wiese eine dünne Schwarmlinie näher kommt. Ich höre Kommandorufe:
„Sprung auf — Marsch, marsch!"
Dann bricht ein ohrenbetäubender Lärm im Graben los. Mit Trommelschlägen wird Maschinengewehrfeuer markiert.
Die Schwarmlinie geht zum Sturm vor. Die gleichen Uniformen, das gleiche Geschrei: „Hurra! Hurra!"
Dicht vor mir springt ein kleiner Kerl auf. Er reißt mit beiden Händen Grasbüschel aus dem Boden und wirft sie gegen die Stürmenden. Dazu schreit er mit heller, lustiger Kinderstimme:
„Handgranaten! Handgranaten!"
Die Trommeln rasseln immer noch.
Der Junge ruft seinen „Feinden" mit höhnendem Triumph zu:
„Ho! Ihr seid ja alle tot! Lauft direkt ins Maschinengewehr hinein!"
Neue Kommandos. Das Gefecht wird abgeblasen. Der Führer, ein großer Mann mit Schmissen im Gesicht, lässt die jungen Leute antreten und hält Kritik.
Ich trete näher. Ist das nicht...
Den breiten Durchzieher hat ihm doch Mirbach damals auf der schweren Säbelmensur geschlagen?
Es ist Webach, mein Freund, der dort den Jungens die Gefechtslage klar macht.
Jetzt lässt er die jungen Leute wegtreten und im Grase lagern. Ich gehe auf ihn zu.
Webach sieht mich unsicher an. Er erkennt mich, aber er weiß nicht recht, wie er sich verhalten soll. Denn ich bin damals nicht eben im Guten von der Burschenschaft geschieden. Nach kurzem Zögern streckt er mir lächelnd die Hand hin:
„Lange nicht gesehen."
„Allerhand Jahre," sage ich nachdenklich.
Webach erzählt mir, dass er jetzt hier Gerichtsassessor sei.
„Und das da?" frage ich mit einer Handbewegung auf die jungen Leute in Uniform.
„Na ja," sagt er lächelnd, „irgendwie muss man sich doch noch ein bisschen betätigen. Soviel wie früher gibt es ja jetzt für uns nicht mehr zu tun. Waren doch schöne Zeiten damals im Freikorps und in der Nachrichtenabteilung, was?"
Er wartet meine Zustimmung gar nicht erst ab. „Na ja, und darum muss man doch wenigstens die jungen Leute erziehen, damit alles klappt, wenn's mal so weit ist."
Dieser Herr in der grauen Windjacke war einst mein Freund Webach, mit dem ich drei Jahre lang Tag für Tag zusammen gewesen bin...
Mein Schweigen fällt Webach auf: „Sagst ja gar nichts?"
Was soll ich auch sagen?
„Ich denke darüber schon lange ganz anders als du," antwortete ich schließlich lächelnd. „Wozu willst du denn die jungen Leute erziehen?"
„Dazu, dass sie ihre Pflicht tun und ihren Mann stehen, wenn es einmal so weit ist. Genau so wie wir damals unsern Mann gestanden haben."
„Und wofür haben wir eigentlich ,unsern Mann gestanden'?"
„Das weißt du nicht?" fragt Webach sehr erstaunt. „Für unser deutsches Vaterland und unsre Ehre! Dafür haben wir unser Leben aufs Spiel gesetzt und unser Blut vergossen."
„Ach Webach, wir haben getrunken, Karten gespielt und viel Geld verdient. Und manchmal haben wir auch auf die Arbeiter geschossen. Aber wozu, — heute weiß ich es, aber damals habe ich es nicht gewusst."
„Wir haben doch Ruhe und Ordnung erkämpft und Deutschland vor dem Chaos gerettet!"
„Wir haben die bestehende Gesellschaftsordnung vor dem Untergang geschützt und fühlten uns wohl in der Unruhe, die wir im Kampf für Ruhe und Ordnung hervorriefen."
„Bestehende Gesellschaftsordnung, — du redest ja wie die Latjer! Wir schützten unser Vaterland, das Deutschtum, Kultur..."
„...und das Privateigentum. Missbrauchen ließen wir uns. Wir haben für Ideale gehalten, was nichts als gefährliche Phrasen waren, die uns das wirkliche Leben versperrten und unsere Seelen vergifteten."
„Alles Unsinn! Man hat uns gelehrt, unsre Pflicht zu tun. Man hat uns zu Vaterlandsliebe, Tatkraft und Aufopferung erzogen, denn wir waren junge Leute und hatten keine Ahnung, worauf es im Leben ankommt."
„Ja: wir waren junge Leute und fragten nicht viel, was wir taten."
Webach unterdrückt seine Antwort, denn einer der jungen Menschen ist zu uns herangeschlendert und will unserm Gespräch zuhören. Webach wendet sich hastig an ihn: „Geht mal da drüben zu der Chausseekreuzung und schätzt Entfernungen! Wie weit es zum Beispiel von der Kreuzung bis zum Kirchturm ist oder bis zu dem gegenüberliegenden Seeufer."
Der Junge geht. Ich lächle: „Er darf wohl nicht hören, was wir hier sprechen?"
„Nein," sagt Webach sehr ruhig. „Das würde ihn nur auf unnütze Gedanken bringen."
„Unnütz? Für wen? Für die Jugend, oder für die Herren, in deren Hand ihr nichts als Schachfiguren seid, — du samt deinen Jungen? Wenn’s nach denen ginge, dürfte die Jugend überhaupt nicht denken."
„Wozu auch? Erst sollen die Kerlchen gehorchen lernen und sich sagen lassen, was ihre Pflicht ist. Man sieht es ja an dir, wohin man mit diesem selbständigen Denken kommt!"
„Und wohin seid ihr gekommen?"
„Wir? Zur Erkenntnis unserer Aufgabe: Widerstandsgeist und Wehrwillen zu wecken und so die Befreiung Deutschlands vorzubereiten." Webach lächelt bitter: „Es ist traurig, zu sehen, dass ein Mann wie du seiner Vergangenheit untreu geworden ist. Und jetzt hältst du mich vielleicht sogar für einen schlechten Kerl, weil ich nach wie vor zu unsrer Sache stehe?"
„Ach, wenn es so einfach wäre! Wenn es hier nur um gute oder schlechte Menschen ginge! Aber du willst nicht sehen, was du tust. Du bist verstrickt in Vorurteile, die dir Abstammung und Erziehung aufgezwungen haben."
„Hör' auf! Das kenne ich schon: an allem soll das System schuld sein. Dieser jüdische Schwindel zieht bei mir nicht! Du bist zum Verräter geworden, und nichts weiter."
„Wenn du es so nennst: ja. Ich bin zum Verräter geworden an einer Klasse von Menschen, deren Zeit bald vorbei ist. Und ich freue mich noch, dass ich den Mut dazu gefunden habe."
Webach will gehen. Er zögert, mir die Hand zu geben. „Ich darf wohl nicht sagen ,Auf Wiedersehen'?" Seine Stimme stockt. „Wenn wir uns wieder sehen, dann stehen wir alten Kameraden vielleicht auf verschiedenen Seiten und kämpfen gegeneinander?"
Ich zucke die Achseln.
Webach sieht mich ernst an. „Dann leb' wohl!" sagt er und wendet sich ab.
Er lässt seine Abteilung antreten. Ich höre seine Kommandos.
Aber noch einmal kommt er auf mich zu. Ich sehe ihm an: es fällt ihm schwer, so von mir zu gehen.
„Mensch!" flüstert er heiser und zeigt auf die Truppe. „Lacht dir denn nicht das Herz im Leibe, wenn du so etwas siehst? Willst du dich denn von dieser Jugend beschämen lassen?"
„Ich will!"
Webach salutiert militärisch. Seine Hacken knallen zusammen. Im Weggehen ruft er mir noch zu, — und es ist Drohung und Triumph zugleich: „Unsre Sache marschiert!"
Ich sehe ihm nach, wie er zu der Abteilung zurückspringt.
Gut sieht er aus in der enganliegenden Uniform mit dem blanken gelben Lederzeug, den Sturmriemen unterm Kinn. Die Jungen werden für ihn durchs Feuer gehen, denke ich mir.
„Still gestanden!" gellt sein Kommando.
Die Körper der jungen Leute straffen sich. Ihre Augen hängen wie gebannt an den Lippen des Führers. Ihre Gesichter sehen plötzlich alle gleich aus. Herzklopfende und atemraubende Gespanntheit liegt über der Kindertruppe...
Webach schnarrt: „Abteilung — marsch!!"

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