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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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Roman aus dem Leben der nationalgesinnten Jugend

Dieser Roman ist ein wahrheitsgetreues Protokoll eigener Erlebnisse; keine Seite beruht auf freier Erfindung. Die Form des Romans wurde lediglich gewählt, weil hier nicht Schuld oder Verhängnis bestimmter Einzelpersonen dargestellt werden soll, sondern das Bild jener Nachkriegsjugend, die sich die nationale nennt. Die Gefühle, Meinungen und Taten dieser Jugend sind weder an eine bestimmte deutsche Stadt, noch an ein bestimmtes jener Jahre gebunden, die uns vom Ende des Weltkriegs trennen. Nicht Einmaliges und Zufälliges wird in diesem Buch geschildert: Es läuft ein roter Faden von den Novemberkämpfen über München, Kapp, Mitteldeutschland und Oberschlesien bis zu den Bombenattentaten der jüngsten Vergangenheit. Ich half diesen Faden spinnen. Dieses Buch soll ihn zerreißen helfen.

 

DER NEUNTE NOVEMBER

Wir gehen nicht mehr in die Schule. Seit vierzehn Tagen schon arbeiten wir auf einem Rittergut unmittelbar an der Stadtgrenze. Wir ernten Kohlrüben ein, die unbedingt noch vor Eintritt der scharfen Fröste in den Keller gebracht werden müssen. „Im Interesse der Volksernährung", hat unser Direktor, Professor Schmidt, gesagt, als er seine Prima zu dieser Arbeit kommandierte.
Und wenn Professor Schmidt „Volksernährung" sagt, dann klingt das genau so, als ob er vom Vaterland spricht, vom Endsieg oder von der Erstürmung Kownos. Er hat nämlich das E. K. I., einen zerschossenen linken Arm, die Uniform eines Reservehauptmanns und ist nach seinen eigenen Angaben der erste deutsche Soldat gewesen, der seinen Fuß in jene feindliche Feste gesetzt hat.
Der Direktor spricht seit Jahr und Tag von Vaterland und Endsieg, und wir finden ihn furchtbar lächerlich, wenn er seinen halbsteifen Arm demonstrativ und ekstatisch in die Höhe reckt und mit krähender Fistelstimme von Deutschlands Zukunft redet, die angeblich auf unseren Schultern liegt. Sein Gesicht wird dabei immer ganz rot, und seine grauen Fischaugen, die ohnehin etwas hervorstehen, drohen aus dem Kopf herauszutreten. Es ist wirklich lächerlich. Seit vier Jahren immer dieselbe Leier!
Krieg, — du lieber Gott, das ist etwas, was immer war und immer sein wird. Er steht vor uns wie ein Unabänderliches, das hingenommen werden muss. Und nächstens werden wir auch eingezogen. Die Kameraden vom Jahrgang 00 sind schon im Feldrekrutendepot oder im Felde. Einer ist sogar schon gefallen.
Wir haben uns an den Krieg gewöhnt. Von Zeit zu Zeit kommt ein Klassenkamerad morgens mit einem Trauerflor um den Arm zum Unterricht. Dann wissen wir: sein Bruder ist gefallen oder sein Vater. Am Kemmel oder in Flandern. Wir kondolieren ihm korrekt und finden dies alles im Grunde höchst natürlich. Der umflorte Mitschüler hält sich ein paar Tage abseits von uns und zeigt „stolze Trauer", so, wie er und seine Verwandten es im Generalanzeiger angezeigt haben. Dann beteiligt er sich wieder an unseren Diskussionen und Schlägereien.
Das ist der Krieg. Und das Wichtigste ist für uns im Augenblick, dass wir uns um ein Regiment bemühen, bei dem wir als Fahnenjunker eintreten können. Denn wenn man auch nicht gerade „Berufsoffizier" werden will, hat man als Fahnenjunker doch mancherlei Vorteile. Wir bemitleiden taktvoll und heimlich die armen Kerle unter unseren Mitschülern, deren Väter Eisenbahnsekretäre oder kleine Kaufleute sind. Denn die wagen natürlich gar nicht, sich nach einem Regiment umzusehen: sie würden ja doch nicht angenommen werden und müssen den Krieg eben als Gemeine mitmachen.
Auch vier Jahre genügen schon, um eine Tradition entstehen zu lassen...
Die Tage sind kühl und regnerisch, und morgens sind die Äcker bereift. Wir frieren viel bei der Arbeit auf dem Felde; aber das macht nicht nur der feine, schneidende Sprühregen, sondern das Unheimliche, das uns in den Knochen liegt, und das wir in diesen Tagen überall um uns herum fühlen.
„Revolution," sagt jemand, und in unseren klassisch infizierten Gehirnen rollen sich altbekannte Gedankenreihen ab, die in dem Begriff „Ochlokratie — Pöbelherrschaft" ihren Endpunkt finden. Von „ochlos" — der Haufe.
Wir haben Angst Vielleicht nur vor der feindlichen Leere, die hinter dem Begriff Revolution droht. Dass wir z. B. in einigen Tagen vielleicht keinen Kaiser mehr haben werden, — das ist ein ganz merkwürdiger Gedanke. Es ist einem so, als bekäme man plötzlich keine Luft mehr.
Und dann sprechen wir auch von der allgemeinen Gleichheit. Ein beliebtes Thema seit den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk. Dort führten auf unserer Seite die Verhandlungen Generäle, Unterstaatssekretäre und Ministerialdirektoren, Leute, die studiert hatten und im Korps waren. Und drüben bei den Russen saß ein Herr Sowieso, dessen Namen man niemals gehört hatte, der ein ganz einfacher Arbeiter gewesen sein soll; und trotzdem wurde er von unseren Exzellenzen für voll genommen. Saß mit ihnen an einem Tisch! Damals haben wir das sehr komisch gefunden. Heute ist uns die Erinnerung daran unheimlich.
Denn vielleicht ist das in einigen Tagen bei uns genau so, und was soll dann aus uns werden? Was nützen uns dann unser Abitur und alle unsere Verbindungen, wenn jeder einfache Arbeiter genau dasselbe werden kann wie wir? Wir empfinden die Drohung der allgemeinen Gleichheit als eine große Ungerechtigkeit.
Unrecht und die Herrschaft der verhassten ,Latjer", — so steht die Revolution vor uns.
Latjer ist ein Lokalausdruck und ein Gattungsbegriff mit sehr verschwommenen Grenzen. Er umschließt ebenso den soliden Arbeiter mit Frau, Kind und Stube und Küche, der abends müde und dreckig aus den Leuna-Werken kommt, wie die unheimlichen Gestalten, die nachts im Marktviertel Betrunkene fleddern und die Straßenmädchen tyrannisieren. Latjer, das ist alles, was eine Ballonmütze und keinen Kragen trägt, jenes gestaltlose und vielgestaltige feindliche Etwas, das uns bösartig aus tausend Augen anstiert, wenn wir lärmend und lachend, die weiße Mütze auf dem Ohr und die Zigarette im Mund, bei Schichtwechsel durch die Straßen gehen.
Gewiss, — wir stehen in Opposition zu allem, was von Erwachsenen gemacht wird, und unsere boshafte Kritik macht selbst vor so ernsten Dingen wie Endsieg und Vaterland nicht halt. Denn es sind ja Eltern und Pauker, die uns die Hochachtung vor diesen Dingen eintrichtern wollen. Aber deshalb Revolution?
Die dumpfe Angst vor dem Haufen, der siedende Schreck vor der Ungewissheit unserer Zukunft und die selbstverständliche Sympathie für Bügelfalte und Oberhemd machen uns zu klassenbewussten Bürgern.
Freiheit? Wir denken nicht „Freiheit, die ich meine" sondern „Weh' denen, die den ewig Blinden des Lichtes Himmelsfackeln leihen." Wir sind die Feinde der Revolution, weil sie von Latjern gemacht wird.
Wir gehen durch den dunklen Abend des neunten November zur Stadt zurück. Schweigend, fröstelnd.
Plötzlich fängt jemand an zu singen. Das tun wir sonst nie. Wir sind viel zu erwachsen dazu, und wir genieren uns. Aber einer nach dem andern fällt ein, der Gesang wird lauter, wir schreien uns unsere Beklemmung von der Seele: „O Deutschland hoch in Ehren" und „Lieb' Vaterland magst ruhig sein".
Wir haben Angst vor den Latjern, und nun sagen wir Vaterland.
Wir sorgen uns um unsere Zukunft, und nun singen wir „Einigkeit und Recht und Freiheit".
Wir fahren mit der Straßenbahn durch die Stadt. Offiziere ohne Kokarden und Achselstücke drücken sich scheu an den Häuserwänden vorbei. Ein Schwarm Arbeiter brüllt die Internationale, die Augen des Straßenbahnschaffners leuchten irrsinnig, er nennt alle Menschen „Du". Wir stehen abseits und fühlen stolz unsere Abseitigkeit.
An diesem Abend tritt an die Stelle von Endsieg und Vaterland eine dritte Größe: „Ruhe und Ordnung".
Darauf eine Leere von acht Tagen. Dann fängt die Schule wieder an. Die erste Stunde ist Religion. Dr. Krüger kommt und ignoriert die Revolution: „Wir waren bei der Scholastik stehen geblieben."
Lange bekommt einen Anschnauzer, weil er immer noch nicht den ontologischen und den kosmologischen Gottesbeweis auseinander halten kann. Es ist alles wie sonst. Dr. Krüger ist uns nicht sympathisch, er ist ein kluger, kalter und boshafter Mensch. Aber heute sind wir ihm uneingestanden dankbar, denn er hat uns den Glauben an unsere Zukunft wiedergegeben.
Die Schule geht weiter, die Revolution ist also nicht das Chaos, wie uns immer gesagt worden ist. Es wird wohl alles nicht so schlimm werden.
Und es ist ja dann auch nicht so schlimm geworden.

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