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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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SPARR WILL NICHT STERBEN

Mit dem gemütlichen Leben ist es nun vorbei: es hat in der Stadt die ersten Toten gegeben.
Die Stuttgarter Regierung hat einen Zivilkommissar ernannt. Wir hören davon beim Abendappell und nehmen die Nachricht mit wütendem Gescharre auf. Es ist ein Rechtsanwalt, der bei uns sehr unbeliebt ist. Ein gebildeter Mensch, der trotzdem mit den Arbeitern paktiert! Auf verschiedenen Gesellschaften hat er unliebsames Aufsehen dadurch erregt, dass er die Republik wortreich verteidigte! (Später wurde dieser Rechtsanwalt — Dr. Schreiber — preußischer Handelsminister.)
Wir wissen nicht, welche Machtbefugnisse der Kommissar hat. Uns erscheint die Tatsache, dass in einer schwerbewaffneten Stadt, in der keinerlei Sympathien für die rechtmäßige Regierung vorhanden sind, eben diese Regierung einen Bevollmächtigten ernennt, im höchsten Grade lächerlich. Und wie das Gerücht aufkommt, Schreiber sei vom Garnisonkommando verhaftet worden und sitze im Untersuchungsgefängnis, da freuen wir uns alle herzlichst.
Während wir in Eisleben waren, hat Schreiber eine Versammlung genehmigt, in der Sozialdemokraten und Gewerkschaftler gegen die Kapp-Regierung protestieren wollen. Tausende von Arbeitern ziehen aus der Stadt auf die Saalewiesen, Reden werden gehalten, in denen zum Kampf gegen die Militärdiktatur aufgefordert wird, da die Waffe des Generalstreiks offenbar nicht wirksam genug sei.
Die Versammlungsteilnehmer müssen auf ihrem Weg nach der Stadt zurück am Hettstedter Bahnhof vorbei, der seit einigen Tagen von Zeitfreiwilligen besetzt ist. Es ist eine akademische Sängerschaft, die hier den Wachtdienst versieht.
Ein Doppelposten steht vor der Bahnhofstür. Passanten geraten mit den beiden in ein Wortgefecht, das schließlich in Handgreiflichkeiten übergeht. Immer mehr Arbeiter mischen sich ein. Ein verwirrter Student, der seine Kameraden in Not sieht, gibt einen Schuss ab.
Ein vieltausendstimmiger Aufschrei. Eine schwarze Menschenwoge schlägt über dem Bahnhofsgebäude zusammen. In wenigen Sekunden sind die Posten niedergeschlagen, die Besatzung entwaffnet.
Dreißig Studenten werden als Gefangene nach Merseburg abtransportiert, wo die Arbeiterschaft schon seit Tagen die tatsächliche Gewalt in Händen hat.
Kurz vor der Brücke, die in der Nähe des Bahnhofs über die Saale führt, versuchen zwei Studenten, die von der bestialischen Ermordung von Soldaten durch Spartakisten gehört haben, zu fliehen.
Es ist dieselbe Brücke, auf der vor nicht ganz einem Jahr der Kommunist Meseberg erschossen wurde. Dutzende von gefangenen Arbeitern sind in den letzten anderthalb Jahren von Regierungstruppen „auf der Flucht erschossen" worden. Die Erinnerung an den toten Meseberg ist noch wach, und die verhängnisvolle Identität des Schauplatzes tut ein Übriges:
Den einen der Studenten schießt man tot.
„Rache für Meseberg!" Man wirft den Leichnam in den Fluss.
Der andere ist nur leicht verwundet, er springt über das Geländer der Kaimauer in die Saale und versucht, sich schwimmend in Sicherheit zu bringen. Man schießt hinter ihm her. Er geht plötzlich unter und ertrinkt.
Die Nachricht vom Tode der beiden Studenten — Büsch und May heißen sie — schlägt bei uns ein wie der Blitz ins Pulverfass.
Es gibt jetzt keine Diskussionen mehr über Ziel und Zweck unseres Kampfes. Was alle politischen Argumente nicht erreicht haben, — die Ermordung unserer Kameraden schließt uns zu einer einheitlichen Masse zusammen. Wir müssen Rache nehmen für einen feigen Mord.
Am Abend dieses Tages sitzen wir auf unserer Stube und lauschen atemlos dem Schall der Schüsse, die jetzt überall fallen. Die Arbeiter haben in den Außenbezirken die Wachen der Einwohnerwehr entwaffnet. Es müssen ihnen dabei große Vorräte an Waffen und Munition in die Hände gefallen sein.
Während wir über alle diese Dinge sprechen, macht sich Sparr langsam und umständlich zum Ausgehen fertig. Das ist ein sehr riskantes Unternehmen, denn schon gestern soll man einen Zeitfreiwilligen, der sich in Uniform auf der Straße gezeigt hat, in der Innenstadt buchstäblich zertrampelt haben.
Sparr gilt bei uns als Außenseiter. Er passt eigentlich gar nicht in unsere Gruppe. Er ist bedeutend älter als wir alle, sehr still und verschlossen und außerdem fast taub. Seine Schwerhörigkeit gibt oft zu den peinlichsten Szenen Anlass. Zudem gehört er der katholischen Verbindung an. Wir lassen ihn neben uns herlaufen und kümmern uns nicht viel um ihn.
Reicke schreit ihn an: „Wo wollen Sie denn hin?"
„Meine Eltern besuchen," antwortet Sparr verlegen.
Alle schreien wir durcheinander: „Lassen Sie doch den Unfug sein, Sie werden ja totgeschlagen."
Aber Sparr lächelt still und höflich, antwortet uns nicht und geht schließlich, nachdem er uns allen eine korrekte Verbeugung gemacht hat.
Wir besprechen den Fall. Einige von uns halten Sparr für mutig, weil er sich in diese Gefahr begibt. Andere sagen, er wäre ganz einfach dumm.
„Das kommt nur von seiner Schwerhörigkeit," sagt Guhre abfällig, „der kriegt immer bloß die Hälfte mit und weiß gar nicht, was gespielt wird."
Wie wir uns schlafen legen, ist Sparr noch nicht wieder da.
„Entweder ist er getürmt, oder er ist tot," stellt Webach abschließend fest. Und dann schlafen wir.
Wir schrecken aus dem ersten Schlaf auf. Ein Karabiner fällt polternd um. Jemand schreit auf: „Mensch, sieh' dich doch vor! Du trittst mir ja auf die Mauken!"
Guhre schimpft über diese Rücksichtslosigkeit. Wir sind alle sehr ungehalten. Berg, unser Führer, dreht das elektrische Licht an.
Mitten im Zimmer steht Sparr. Er ist totenbleich und lächelt blöde.
„Der ist ja besoffen," knurrt Webach.
„Was ist denn los?" rufen wir ihn an.
Sparr fuchtelt erregt mit den Händen. Er ist in sinnloser Verwirrung: „Meine Herren," schreit er, und seine Stimme fistelt, „meine Herren, das ist eine Gemeinheit, das habe ich nicht gewusst! Meine Herren, ich bitte Sie, Sie müssen mir Aufklärung geben! Sie sehen, verzeihen Sie bitte, aber ich bin sehr erregt. Das habe ich wirklich nicht gewusst. Ich bitte, also verstehen Sie mich bitte richtig."
Er schweigt hilflos. Berg steht auf und klopft
ihm auf die Schulter: „Beruhigen Sie sich doch, Mann, was ist denn los?"
„Danke sehr, vielen Dank auch," stottert Sparr. „Es ist nur, — also in der Stadt sagt man ganz allgemein, wir stehen auf Seite von Kapp-Lüttwitz. Das ist doch nicht wahr! Meine Herren, ich bitte Sie, sagen Sie mir ehrlich: kämpfen wir wirklich für Kapp?"
Ein kurzer Augenblickbetretenen Schweigens. Dann bricht ein aufgeregter Stimmwirrwarr los. Gelächter, Schimpfworte, Erklärungen und Beruhigungen.
„Selbstverständlich kämpfen wir für Kapp."
„Kommen Sie ooch schon aus dem Mustopf?"
„Idiot!"
„Dussliger Hund!"
„Natürlich ein Kathole!"
Sparr lächelt noch immer. Er versteht uns nicht. Mir tut der arme Kerl leid, wie er — den Kopf angestrengt lauschend geneigt, die Hände nervös krampfend und spreizend — da im Zimmer steht. Eine armselige, lächerliche Erscheinung.
Dann herrscht wieder Schweigen. Jeder scheut sich offenbar, Sparr die Wahrheit zu sagen. Sparr scheint langsam zu begreifen: „Meine
Herren, das ist eine Gemeinheit: man hat mich betrogen! Ich will nicht für Kapp sterben. Ich kämpfe für Ruhe und Ordnung, ich will das Chaos verhüten. Ich kämpfe für die Republik!"
„Gehen Sie doch nach Hause, Sie Rindvieh, wenn Sie Schiss haben!" brüllt ihm Reicke zu.
Er muss es noch einmal sagen, denn Sparr hat ihn nicht verstanden. Der wird rot und sagt leise: „Herr Kommilitone, das ist nicht wahr Ich bin nicht feige. Aber wenn ich schon sterben soll, dann will ich wenigstens wissen, wofür."
Berg unterbricht ihn: „Sparr, jetzt legen Sie sich schlafen! Was ist denn das für ein Unsinn! Wer redet denn hier von Sterben müssen? Sie sind doch ein alter Soldat und ein geschmackvoller Mensch, dann lassen Sie doch diese großen Worte. Im übrigen hat das alles jetzt keinen Zweck mehr. Verlassen Sie sich darauf, in ein paar Tagen weiß niemand mehr, wofür wir kämpfen. Dann werden wir uns nur noch wehren, und Sie haben Gelegenheit genug, das Chaos zu verhüten. Und nun schlafen Sie sich aus."
Sparr gibt noch nicht Ruhe: „Aber wenn das wahr ist, ich meine, wenn wir uns nur noch gegen die Roten wehren müssen, dann haben wir doch eigentlich angefangen, nicht wahr? Oder irre ich mich da? Ich meine, — dann haben doch die anderen recht, wenn wir wirklich auf der Seite von Kapp stehen?"
„Ick hab' den Kriech nich jewollt!" witzelt Guhre weinerlich aus dem Hintergrund.
Einige lachen. Berg wird jetzt energisch: „Nun halten Sie bitte endlich den Mund, ja? Zu spitzfindigen Erörterungen haben wir jetzt wirklich keine Zeit. Außerdem können Sie morgen tun, was Sie wollen. Meinetwegen können Sie nach Hause gehen."
Das Licht wird ausgedreht, und wir legen uns wieder hin. Ich bin merkwürdig erregt. Sparr ist doch sicher ein ganz dummer Kerl, warum erschüttert mich seine Hilflosigkeit so? Und warum kann ich nicht einstimmen, wie Webach neben mir, schon halb im Schlaf brummt: „Schiss hat der Kerl, und nichts weiter."?
Das schwarze Fensterviereck füllt sich manchmal mit dem grellerr Schein von Leuchtraketen. Hin und wieder knallen Schüsse. Aber bald schlafe ich auch.
Früh am nächsten Morgen wieder Alarm.
Wir werden auf zwei Lastautos verladen und fahren zur Artilleriekaserne: die Merseburger
Garnison muss Merseburg verlassen. Der Arbeiterrat hat den Truppen freien Abzug zugesichert. Wir sollen zu ihrem Schutz eine Aufnahmestellung für sie bilden.
Wie wir auf dem Kasernenhof ausgeladen werden, pfeifen Kugeln. Die Kaserne wird fortwährend aus größerer Entfernung beschossen, aber die Kugeln gehen alle zu hoch.
Ich ducke mich jetzt nicht mehr, wenn ich das Pfeifen höre. Manchmal wundre ich mich selbst darüber. Ich muss doch wohl ein ganz tüchtiger Soldat sein.
Wie wir dann unsere Stellung beziehen wollen, kommen uns ein paar Leute entgegen, die einen Toten tragen. Ich kenne ihn. Es ist ein Turnerschafter, mit dem ich öfter zusammen gewesen bin. Sein Gesicht ist ganz blau.
Wir fragen die Träger, was mit ihm geschehen ist. Verwundet ist er nicht. Als die Stellung eben schweres Maschinengewehrfeuer bekam, hat sich der Student, der nicht im Felde war, so aufgeregt, dass er anscheinend einen Herzschlag bekommen hat.
Wir besetzen den Straßengraben längs der Chaussee, auf der die Merseburger kommen müssen.
Es ist ein wunderschöner, klarer Frühlingsmorgen.
Sparr geht neben mir. Er trägt ein leichtes M. G. und sieht ruhig und gleichmütig aus. Ich sehe ihn verstohlen von der Seite an. Der Spuk von heute Nacht ist verschwunden. Sparr ist ein Soldat wie alle anderen. Aus irgendeinem Grunde freue ich mich darüber.
Wir bringen unsere M.G.s in Stellung und bestreichen einen Bahndamm, von dem aus wir manchmal beschossen werden. Dann ist alles ruhig.
Nach zwei Stunden sehen wir in der Ferne die Merseburger ankommen. Leute von uns gehen auf die Chaussee und winken ihnen zu.
An der Spitze fahren einige Wagen. Unter dem Zeltdach des ersten sehen wir ein Bein herausragen, eine Hand: Tote.
Dann folgt die Infanterie — etwa ein Bataillon — im Laufschritt. Alle sehr erschöpft, mit unruhigen Augen, in denen die Angst sitzt.
Plötzlich knattert ein irrsinniges Maschinengewehrfeuer los. Die Kugeln pfeifen dicht über unsere Köpfe hin, wir werfen uns in den Graben und suchen vergebens, den Feind zu entdecken.
Sparr steht immer noch auf der Chaussee. Er kann das Pfeifen der Kugeln nicht hören, und wir sind zu sehr mit uns selbst beschäftigt, um ihn warnen zu können.
In einer kurzen Feuerpause hebe ich den Kopf. Sparr hüpft mit an den Leib gepressten Armen auf der Chaussee hin und her. Unter seinen verkrampften Händen sickert Blut hervor. Das Geräusch der Schüsse verstummt, einige Verwundete wimmern und stöhnen leise.
Sparr schreit entsetzlich.
Zwei, drei springen auf und zerren ihn in die Deckung des Grabens. Er hegt dicht neben mir.
Ich kann dieses dumpfe, klagende, fast tierische Gebrüll nicht ertragen. Ich presse mir die Hände vor die Ohren. Ich kämpfe mit dem Erbrechen.
Das Feuer beginnt von neuem. Ich werfe mich neben Sparr, reiße wie die Anderen mein Verbandspäckchen heraus.
„Halt' ihm doch die Hände fest!" schreit mich mein Nebenmann an, der sich vergebens bemüht, Sparrs Wunde zu verbinden.
Ich packe ihn bei den Armen. Er schreit noch immer. Sinnlos vor Entsetzen und Mitleid rufe ich ihm zu: „Sparr! Es wird ja gleich gut!"
Sparrs Augen verdrehen sich. Man sieht nur
noch das Weiße. Ein Zittern durchläuft seinen Körper. Endlich, endlich ist er besinnungslos.
Der Kamerad, der ihn verbindet, schüttelt den Kopf: „Wenn er heute morgen gut gefrühstückt hat, ist er erledigt. Immer so bei Bauchschüssen."
Das Verbinden hat keinen Zweck. Unaufhaltsam dringt das Blut unter dem Verband hervor.
Ich krieche vorsichtig zurück, laufe zur Kaserne und schleppe eine Tragbahre herbei. Bei meiner Rückkehr höre ich schon von weitem Sparrs Schreien. Er ist wieder zu Bewusstsein gekommen.
Die Chaussee wird immer noch beschossen. Mehrere Verwundete kriechen mühsam den Graben entlang zur Kaserne.
Wir heben Sparr auf die Bahre. Er ist plötzlich ganz ruhig geworden, schlägt die Augen auf und versucht ein freundliches Lächeln.
„Ich danke Ihnen," flüstert er kaum hörbar. Dann sagt er nichts mehr.
Wir tragen ihn vorsichtig zurück. Gegenüber der Kaserne liegt das Krankenhaus „Bergmannstrost". Wir liefern ihn dort ab.
Dann gehen wir schweigend zurück.
Webach sieht mich an: „Mensch, du bist ja ganz blass. Daran wirst du dich wohl noch gewöhnen. Geht jedem zuerst so, wenn er einen Menschen sterben sieht. Komm, wir wollen in der Kantine erst einen Schnaps trinken, ehe wir wieder nach vorne gehen."
Ich gieße mit zitternder Hand ein paar Gläser Cognac hinunter. Halb betrunken gehen wir zu unserer Kompanie zurück.
Das Feuer ist verstummt. Dafür fängt jetzt im Nebenabschnitt ein Feldgeschütz an zu schießen.
Ich liege dumpf, halb ohne Bewusstsein bis zum späten Nachmittag hinter unserm M. G. Manchmal schießen wir auch. Mir ist alles gleichgültig.
Bei Einbruch der Dunkelheit werden wir abgelöst. Ich trage Sparrs M. G.
Am Abend sind wir wieder in unserem Quartier. Von einer später eintreffenden Abteilung hören wir, dass Sparr kurz nach der Einlieferung im Krankenhaus gestorben ist.
Ich stehe am Fenster und sehe auf den dunklen Schulhof. Die Fensterscheiben sind schön kühl.
Sparr ist tot.
Sparr, der nicht für Kapp sterben wollte...Beim Appell hören wir am gleichen Abend, dass die Regierung Kapp zurückgetreten ist.

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