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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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„VATER UNSER..."

Die Umklammerung wird immer enger. An mehreren Stellen sind die Arbeiter bereits weit in die Stadt eingedrungen. Der Marktplatz ist in ihrem Besitz. Die Verbindung zwischen den Truppen in den Frankeschen Stiftungen und der Artilleriekaserne ist durch Barrikaden unterbrochen.
Im Norden ist die Umzingelung so weit vorgeschritten, dass wir die ersten Linien der Arbeiter schon von unserem Quartier aus erreichen können: auf dem Dach der Oberrealschule ist jetzt ein M. G. aufgestellt, das fast ständig in Tätigkeit ist.
Mitten auf der Straße steht vor der Kaserne ein Minenwerfer, und in Abständen von etwa zehn Minuten schießt man eine Mine über den nächsten Häuserblock hinweg auf das dahinterliegende unbebaute Feld ab.
Es fließt kein Wasser mehr in der Leitung. Wir müssen daher das Wasser eimerweise vom
Hof der Kaserne holen, wo ein Brunnen ist Man braucht nur über die Straße zu gehen. Aber auch da pfeifen schon die Kugeln.
Ich hole Wasser. Auf dem Kasernenhof ist eben ein Transport Gefangener eingebracht worden. Eine Abteilung Schupo hat sie auf einem Vorstoß nach scharfem Handgranatenkampf gefangen genommen. Es sind etwa acht Mann.
Keiner nimmt eigentlich viel Notiz von ihnen Man sieht sie sich flüchtig an: es sind Arbeiter, an denen nichts Bemerkenswertes ist.
Da kommt aus der Kaserne plötzlich ein Feldwebel. Ein dicker, aufgesoffener Kerl mit aufgezwirbeltem Schnurrbart und hervorstehenden Augen. In der Hand hält er einen Karabiner.
Er begrüßt die Gefangenen mit Schimpfreden. Die paar Schupos unternehmen nichts dagegen.
Er lässt die Arbeiter stillstehen, dann kommandiert er:
„An die Hausmauer! Marsch! Marsch! Zurück, marsch, marsch!"
Die Gefangenen laufen. Ich sehe mehrere Kameraden, die sich angewidert abwenden.
Am andern Ende des Hofes liegen die Latrinen. Der Feldwebel zeigt dorthin und kommandiert:
„An die Latrine, marsch, marsch!" Die Gefangenen sind etwa zwanzig Meter gelaufen, da kracht ein Schuss.
Ich wende mich um. Der Feldwebel hat das Gewehr an der Backe. Einer der Gefangenen schreit laut auf und sinkt vornüber zusammen.
Im selben Augenblick sehe ich Leutnant Michael und einige Andere auf den Feldwebel zustürzen. Michael hat die Pistole in der Faust und schmettert dem Feldwebel den Kolben zwischen die Augen, dass der taumelt.  Der Karabiner entfällt ihm, ein Schuss geht los.
Michael ist unheimlich ruhig. Der Feldwebel blutet.  Michael steht mit der Pistole in der Hand vor ihm und winkt einigen Schupoleuten: „Verhaften, das Schwein!" Er reißt ihm das Koppel ab. Der Feldwebel! sieht sich mit blutenden Augen nach Hilfe um. J Er begegnet überall eisiger Ablehnung. Man führt ihn ab. Michael geht langsam hinterher.
Andere haben sich um den Getroffenen bemüht. Er ist tot. Die Kugel hat ihm die Niere zerfetzt und ist vorn wieder ausgetreten. Man trägt den Toten fort. In der allgemeinen!
Verwirrung kümmert sich niemand um die Gefangenen. Sie stehen eng aneinander gepresst und warten. Schließlich werden sie in den Exerzierschuppen gebracht...
Ein Angehöriger der Einwohnerwehr, ein fetter alter Mann mit einem schütteren Vollbart und mit dünnen Beinen, kritisiert Michaels Verhalten. Es kostet ihn einige Mühe, sich der drohend erhobenen Fäuste mehrerer Studenten zu erwehren.
Benommen und entsetzt gehe ich zu meiner Gruppe zurück und erzähle den Fall. Man findet, dass sich Michael richtig benommen hat, und ich atme erleichtert auf. Mir selbst unbewusst, habe ich eigentlich etwas Anderes befürchtet.
Es bleibt mir nicht viel Zeit, über diese grauenhafte Szene nachzudenken, denn gleich darauf werden wir schon wieder eingesetzt. Fast unmittelbar hinter der Kaserne, nur durch ein Villenviertel getrennt, dehnt sich unbebautes Feld bis zum Flugplatz hin. Die Straßen, die von dort zur Kaserne führen, hegen jetzt fast immer unter Feuer. Darum hat man dort ein Stacheldrahtverhau errichtet, das diese Zufahrtsstraßen absperrt
Die Wache liegt im Erdgeschoß eines Hauses.
Es ist dort ganz gemütlich. Wir spielen Klavier, erzählen uns etwas und sind vor den Schüssen sicher, wenn wir nicht gerade auf Posten sind.
Am Nachmittag ist alles ruhig. Zarnke, Webach und ich hocken draußen auf dem Kiesboden des kleinen Platzes, den wir bewachen, und spielen Skat. Fünf Straßen laufen hier zusammen. Man kann das ganze Gelände gut übersehen.
Plötzlich bekommen wir Feuer. Die Kugeln pfeifen so dicht an uns vorbei, dass wir nicht einmal mehr Zeit haben, zu unserm M. G. zu stürzen, das etwa zehn Meter von uns auf dem Platz eingegraben ist.
Es ist Maschinengewehrfeuer, und ganz offensichtlich gilt es nur uns. Beim ersten Schuss lasse ich mich nach hinten fallen und liege platt auf dem Rücken.
Instinktiv habe ich den Kopf aus der Feuerrichtung genommen und kann nun deutlich beobachten, wie die Kugeln wenige Schritte neben mir in den Boden fahren. Ganz sachlich überlege ich mir, dass über kurz oder lang eine mich treffen muss.
Es ist ein ganz merkwürdiges Gefühl: Ich habe keine Angst, obwohl ich ganz genau weiß, dass ich jeden Augenblick getroffen werden kann.
Ich weiß genau: dies ist das Ende. Aber diese Gewissheit hat nichts Schreckliches für mich.
Ich wundere mich selbst darüber und versuche, alle meine Gedanken in den Begriff „tot" versinken zu lassen. Es gelingt mir nicht.
Ich werde also in einigen Sekunden oder Minuten sterben. Ich kann aber doch nicht einfach hier liegen und mich totschießen lassen!
Aufstehen und weglaufen kann ich nicht. Ich wäre sofort von vielen Kugeln durchbohrt. Aber ich muss doch sterben, ich werde tot sein!
Plötzlich fällt mir ein, dass man da wohl beten müsse. Ich bin mir nicht recht darüber klar, ob ich an Gott glaube oder nicht. Ich kann doch eigentlich gar nicht beten, wenn ich nicht weiß, ob Gott überhaupt existiert.
Ich überlege mir das alles ganz kalt Genau so, als ob ich mit einem Freunde über Gott diskutierte. Aber hier ist es doch etwas anderes. Ich rufe mir das immer wieder ins Gedächtnis. Ich hege hier auf freiem Platz ohne die geringste Deckung in einem wilden Maschinengewehrfeuer. Es ist überhaupt ein Zufall, dass ich noch nicht getroffen bin!
„Irgendetwas muss doch wohl daran sein," sage ich mir ruhig und versuche zu beten.
„Vater unser..." fällt mir ein, aber ich komme mit den einzelnen Bitten nicht zurecht, und außerdem hat es ja gar keinen Zweck.
Ich muss sogar über mich lächeln. Im selben Augenblick durchfährt mich aber ein entsetzlicher Schreck: Wenn Gott nun doch ist?
Plötzlich verstummt das Feuer. Ich bin mit meinen Gedanken zu weit fort. Ich bemerke es zunächst gar nicht. Dann denke ich: die da drüÂben werden jetzt einen neuen Gurt einziehen, habe ich noch soviel Zeit, mich in Sicherheit zu bringen?
Plötzlich ruft mich jemand an: „Mensch, biste dot?"'
„Nee," sage ich verwundert und springe auf. Da geht das Feuer wieder los, ich muss also wieder zweihundertfünfzig Schuss lang still hegen.
Wie ich mich niederwerfe, spüre ich einen kleinen Schmerz an meinem rechten Knie. Ich bin also verwundet. Es tut gar nicht so weh. Ich habe mir das immer viel schlimmer gedacht
Ich kann mich nicht aufrichten, um nachzusehen. Ob es wohl schlimm werden wird? Vielleicht das Kniegelenk?
Dann höre ich einen schwachen Schrei. Es muss Zarnke sein, der Stimme nach.
Endlich verstummt das Feuer; ich reiße mich zusammen und laufe in das Haus, wo unsere Kameraden sind. Die kommen uns schon an der Haustür entgegen, und wenige Sekunden später feuert unser Gewehr. Zarnke steht plötzlich neben mir. Er blutet an der Schulter.
Jetzt erst sehe ich, dass aus meiner Hose Blut läuft. Vorsichtig streife ich sie hoch. Am Knie eine kleine Fleischwunde. Es tut sehr weh, wenn ich das Bein bewege, aber es ist nur ein Streifschuss. Beinahe tut es mir leid, dass es weiter nichts ist.
Ich lege einen Notverband auf und helfe Zarnke, der sehr bleich ist und leise stöhnt Dann gehen wir beide humpelnd die wenigen hundert Meter zu unserem Quartier zurück.
Ein Sanitäter verbindet uns. Er ist ein alter Herr mit weißem Vollbart in der Uniform der freiwilligen Sanitätskolonne, der seine Sache sehr ernst nimmt. Mir legt er einen Verband an, dass ich kaum gehen kann. Zarnke wird mit einem Auto ins Krankenhaus gebracht.
Ich verabschiede mich von ihm und will ihn bedauern. Zarnke aber lächelt: „Bin froh, dass
ich aus dem Dreck raus komme," sagt er leise...
Am Abend bekomme ich Besuch. Mein Direktor, der unten bei der Einwohnerwehr ist, hat von meiner Verwundung gehört. Das nächste halbe Jahr werde ich ihn als Klassenlehrer haben; aber wie fern ist das jetzt alles!
Kaum, dass ich mich von meinem Strohsack erhebe, kommt er ins Zimmer. Ein Soldat wie hundert andere. Ich bin still und kühl. Der Direktor geht auch bald wieder...
In der Nacht verstärkt sich der Lärm der Schüsse noch. Jetzt knallen sie überall. Wir können kaum schlafen. Nicht wegen der vielfältigen Geräusche, sondern wegen der Unruhe in uns, gegen die wir uns immer wieder wehren müssen.
Wie lange soll das noch weiter gehen? Wie lange können wir uns noch halten? Was wird, wenn wir uns vielleicht doch entwaffnen lassen müssen?
Es ist noch, kein Ende abzusehen. Die Stimmung ist gedrückt und ernst.
Am Morgen hören wir, dass es in der Nacht wieder einen Toten bei unserer Kompanie gegeben hat. Wir zählen nicht mehr unsere Verluste, wie wir es in den ersten Tagen getan haben.
Ich darf im Quartier bleiben, weil mich mein Verband am Gehen hindert, die anderen werden wieder an derselben Stelle eingesetzt, wo wir gestern standen.
Nach einer Weile halte ich es nicht mehr aus, Es ist beängstigend still, trotz des Kampflärms, und ich bin allein mit meinen Gedanken. Sie kreisen mit schmerzender und wütender Hartnäckigkeit immer und immer um dieselbe Frage: „Warum muss das alles sein?"
Im Trubel der letzten Zeit hatte ich nicht mehr an die Nöte denken können, die mich oft während meiner Spitzeltätigkeit überfielen. Nun sind alle die alten Fragen wieder da und drücken und quälen doppelt schwer. Ich kämpfe gegen die Arbeiter. Aber was gehen mich die Arbeiter an? Ich habe doch in den letzten Monaten genug gesehen und erfahren, was mir ihren Kampf gegen die bestehende Gesellschaftsordnung gerechtfertigt erscheinen lassen könnte.
Und was geht mich die bestehende Gesellschaftsordnung an? Bin ich denn so sehr mit ihr verbunden, dass ich sie mit meinem Blut
Bei ihnen werde ich hoch aufgenommen Irgendeiner sagt mir sogar, es sei sehr anständig von mir, dass ich freiwillig mit nach vorne komme, obwohl ich es doch gar nicht nötig hätte.
Ich schäme mich. Ich gelte hier nun für einen tapferen Menschen. Ich sehe es an den kleinen Liebenswürdigkeiten, die man mir erweist, spüre es an dem leise respektvollen Ton, in dem man mit mir spricht...
Und ich bin doch nur mutig, weil ich feige bin, weil ich das Alleinsein fürchte, weil ich mich meiner Gedanken nicht erwehren kann, weil ich ganz einfach Angst habe: Angst vor dem wirren, unverständlichen und sinnlosen Leben, in das ich mich hineingestellt sehe.
Aber ich bin ein tapferer Soldat, wenn ich auch nur nach vorne geflohen bin.
Heute ist Sonntag. Wenige Schritte von unserer Wache entfernt liegt eine Kirche. Die Glocken läuten. Überall feiert man Einsegnung.
Männer mit Zylindern, Frauen in feierlichem Schwarz, Mädchen mit gebrannten Haaren, mit Blumensträußen und goldgeränderten Gesangbüchern in den Händen, Jungens, den Hals verteidigen muss? Ist es nicht eigentlich eine Gemeinheit von mir, wenn ich mich für eine Sache einsetze, an deren Gerechtigkeit ich immer wieder Zweifel habe?
Und meine Kameraden. Was zwingt sie dazu, ihr Leben an ein Unternehmen zu setzen, das ihnen im besten Fall nichts weiter zu bieten hat als das sinnlose Bewusstsein, revolutionäre Arbeiter besiegt zu haben? Und dafür Kampf und Blut? Wissen sie überhaupt, was sie tun?
Sie wissen ja nicht, was und wer sie von den Arbeitern trennt.   Sie sind junge Leute, die der Macht der Phrase erliegen. Und darum stehen sie hier unter Waffen, und merken nicht, dass sie die Waffen letzten Endes gegen sich selbst erheben...Ich halte es nicht aus, dieses Nachdenken! Ich gehe zum Verbandsraum hinunter und lasse mir von dem Sanitäter einen bequemeren Verband anlegen, der mich beim Gehen überhaupt nicht mehr stört. Dann mache ich mich auf den Weg zu meinen Kameraden. Sie liegen nur ein paar hundert Meter von der Kaserne entfernt, und das ganze Gelände ist von Stacheldrahtzäunen umgeben, so dass der Weg nicht gefährlich ist.
in den ersten steifen Kragen eingezwängt und mit lächerlich ängstlichen und feierlichen Gesichtern.
Sie gehen zur Kirche. Manchmal fegen Kugeln die Straßen entlang. Dann presst sich die sonntäglich geputzte Familie in Hausflure und an Mauerwände. In langen Sätzen stürzen sie auf die rettende Kirchtür zu...
Ein groteskes Bild.
Nach einer Stunde wird der Platz vor der Kirche immer noch beschossen. Man kann nicht erkennen, von wo die Kugeln kommen. Vielleicht schießen die Arbeiter von den hinter der Kirche liegenden Feldern, vielleicht kommen die Schüsse auch aus der Kaserne.
Wir schleichen uns vorsichtig zur Kirche hin. Wir hoffen, von dort den Feind sehen zu können.
Vor einem neuen Kugelregen drücken wir uns in den Vorraum. Vorne am Altar steht der Geistliche. Vor ihm knien die jungen Menschen.
„Vater unser..." sagt der Pfarrer gerade. Einige Fensterscheiben splittern. Schreie steigen auf und werden noch im Entstehen unterdrückt.
Wir binden Taschentücher an unsere Karabiner und führen die Kirchgänger über den Platz, wobei wir fortwährend die weißen Fahnen schwenken...
Am Nachmittag wird es endlich etwas ruhiger. Wir werden abgelöst.
Ich gehe mit Webach noch einmal auf den Kasernenhof. Dort bringt man gerade einige Tote in einen Schuppen. Wir schließen uns an.
Etwa zehn Leichen liegen da auf flüchtigen Strohschütten. Ganz vorn ein Schupomann. Man hat ein weißes Tuch über sein Gesicht gedeckt und ihm die Hände gefaltet. Er hat keine Stiefel an. Augenscheinlich ist die Leiche beraubt worden, ehe man sie bergen konnte.
Neben mir steht ein Reichswehrmann. Seine Augen funkeln vor Hass und Abscheu.
„Nicht einmal Leichen sind vor der Bande sicher!" stößt er zwischen den Zähnen hervor und sieht uns an, als sollten wir ihm beistimmen.
Ich wende mich ab. Neben dem Schupomann liegt der gefangene Arbeiter, den gestern der Feldwebel auf dem Kasernenhof erschossen hat. Niemand hat ihm die Hände zusammengelegt, kein Tuch bedeckt sein Gesicht. Sein Kopf ist hintenübergesunken. Seine Augen stehen offen, die starren Hände sind gespreizt und verkrampft. Das Hemd hängt ihm aus der Hose, ein Gazebausch ist unordentlich in die Schussöffnung gestopft. Auf seiner Weste hat man mit einer Stecknadel einen Fetzen Papier befestigt: „Beschlagnahmt! Der Staatsanwalt". Darunter Stempel und Unterschrift.
Der Reichswehrmann schimpft immer noch über die vertierte Rohheit der Roten.
Ich kann mich nicht zurückhalten. Ich zeige auf den Arbeiter:
„Sehen Sie sich mal das an!"
Der Soldat versteht mich nicht.
„Den hat gestern ein Kamerad von Ihnen auf dem Kasernenhof erschossen," sage ich. „Einen wehrlosen Gefangenen. Ohne Grund, bloß so, zum Spaß."
Webach zupft mich am Ärmel: „Lass doch!" sagt er hastig.
Der Reichswehrsoldat sieht uns verwundert nach. Er hält mich sicher für verrückt.

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