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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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MORD

Wenige hundert Schritte abseits von unserem Rückweg zur Kaserne führt eine eiserne Brücke über einen Nebenarm der Saale. Wir hören aus jener Richtung zwei kurz aufeinander folgende, peitschende Schüsse. Aber wir sind müde und faul und achten nicht darauf...
Dort führten soeben ein Leutnant und drei Mann den Kommunisten Meseberg in die dunkle Nacht.
Sie haben ihn bei Einbruch der Dunkelheit verhaftet und auf dem Speicher einer Brotfabrik im Süden der Stadt einige Stunden festgehalten. Ohne Angabe von Gründen. Waffen und Uniformen der Leute und das Einglas des Führers waren Legitimation genug.
Mitten in der Nacht hat man ihn dann hinausgeführt. Am Fabriktor stehen zwei zuverlässige Leute als Posten. Die wissen von nichts und haben niemanden gesehen.
Gegen den ahnungslos vor den Soldaten über die Brücke Gehenden hebt sich langsam ein
Pistolenlauf. Zwei Schüsse krachen, und der Kommunist sinkt um. Der leblose Körper wird über das Geländer gehoben und klatscht schwer auf das schwarze Wasser.
Zwei Tage später findet man die Leiche des Kommunisten Meseberg an einem Schleusentor hängend. Zwei Schusslöcher am Hinterkopf...
Wir kommen am Hotel „Zur goldenen Kugel" vorbei. Es ist eins der feinsten Häuser der Stadt und dient den Landesjägern als Stabsquartier. Die Wache wird von unserer Kompanie gestellt.
Es ist noch Licht in den Restaurationsräumen. Wir sind müde und haben noch eine halbe Stunde bis zur Kaserne zu gehen. Darum begrüßen wir den Posten und treten ein.
An zwei zusammengeschobenen Tischen sitzt eine Gesellschaft von Offizieren und zecht. Man winkt uns heran, und wir dürfen mittrinken.
Der Mittelpunkt der Tafelrunde ist ein großer schwerer Mann in der Uniform eines Kürassierrittmeisters. Er ist völlig betrunken. Sein Gesicht ist aufgedunsen und rot, und seine kalten grauen Augen irren blöde umher.
Es ist der Rittmeister Schlosser, persönlicher Adjutant des Generals Maerker. Er soll ein
schwerreicher rheinischer Industrieller sein. Jedenfalls beteiligt er sich an dem Feldzug des Landesjägerkorps mit zwei eigenen Automobilen.
Den Vorsitz führt ein dicker junger Mann mit Schmissen im Gesicht. Man spielt Studentenkneipe. Der Rittmeister kann sich als Rangeltester nicht daran gewöhnen, dass ein junger Leutnant mehr zu sagen haben soll als er.
„Herr Rittmeister hatten die Güte, mir schon wieder dazwischen zu quatschen!" näselt der Präside. „In die Kanne!"
Der Rittmeister lächelt irre und gießt ein großes Glas voll schwerem Burgunder hinunter. Sein Chauffeur steht hinter ihm und füllt es wieder.
Dann fängt er — diesmal mit Genehmigung des Kneipwarts — an zu singen. Wirtinverse, die wir noch nicht kennen. Dann nach der Melodie von „Befiehl Du Deine Wege" ein Lied von abenteuerlicher Unanständigkeit, das grölend angehört wird.
Ich trinke. Ich sitze mit einem Rittmeister und mehreren Offizieren als gleichberechtigtes Glied an einem Tisch. Man prostet mir zu. Ich springe auf, vorschriftsmäßig das Glas am zweiten Waffenrockknopf, und ernte deswegen ein Lob des Rittmeisters.
Ein Kellner bedient uns respektvoll. Ich reiche ihm mein leeres Glas über die Schulter. Er füllt es mit einer Verbeugung.
Das bin ich! Siebzehn Jahre und vier Monate alt! Ein fabelhafter Kerl, der mit Offizieren zecht und schweinigelt. Zu dem man „Herr Kam'rad" sagt, dem man auf die Schulter klopft! Mit dem Rittmeister Schlosser zwischen zwei Zoten Brüderschaft trinkt! Mann! Soldat!
Vor mir verschwimmt bald alles in einem wirren Nebel von Begeisterung und Betrunkenheit. Ein unerhörtes Hochgefühl meiner eigenen Bedeutung durchströmt mich. Der kleine Pennäler, der ich früher einmal war, liegt irgendwo begraben. Ihn hat es nie gegeben.
Die Offiziere stehen auf. Wir singen „Deutschland, Deutschland über alles!" Alle drei Verse. Ich stehe stramm. Ich fühle meine Augen feucht werden.
Mein Nebenmann sinkt auf seinen Stuhl nieder, schlägt mit dem Kopf auf den Tisch und erbricht sich auf den Teppich. Der Rittmeister hat den Arm um die Schulter seines Chauffeurs geschlungen und stützt sich auf ihn.
Dabei grölt er mit Riesenstimme: „Deutsche Frauen, deutsche Treue!" und schwenkt mit weit ausholender Bewegung sein Glas durch die Luft.
Dann stehe ich einen Augenblick im Waschraum. Schlosser stützt sich mit beiden Händen gegen die Wand. Sein Chauffeur kniet vor ihm, und knöpft ihm die Hosen auf, dann erleichtert sich sein Herr...
Irgendwann in der Nacht bekommen wir Zuzug. Ich sehe undeutlich Leutnant Roth, der mir auf die Schulter schlägt, und drei Kameraden aus der Kompanie.
Einer von ihnen, namens Fischer, setzt sich neben mich. Ein noch sehr junger Mensch in der Uniform eines Jägerbataillons. Er ist totenblass. Seine schmalen Finger drehen wie irrsinnig den Fuß seines Weinglases unausgesetzt hin und her, so dass mir schwindlig wird.
Die Uhr zeigt halb drei.
„Wo kommt ihr denn jetzt noch her?" frage ich ihn erstaunt.
„Eine Verhaftung," verstehe ich undeutlich.
„Was? So spät noch?" frage ich wieder.
„Lassen Sie gefälligst den Fischer zufrieden, ja?" knallt da plötzlich die Stimme des Kompanieführers, und ich wundere mich über diese ungewohnte und hier doch ganz unangebrachte dienstliche Schärfe. Aber ich bin zu glücklich, um mir Gedanken darüber zu machen.
Rittmeister Schlosser rezitiert jetzt das goldene Alphabet. Sein Chauffeur begleitet ihn melodramatisch auf einer Laute, die plötzlich da ist.
Irgend jemand hält eine Rede. Ich verstehe nicht genau, was er sagt. Denn Fischer fängt sinnlos an zu weinen und muss hinaufgeführt werden, wo man ihn in einem Hotelzimmer zu Bett bringt. Er muss wohl sehr betrunken sein.
Die Rede geht ihrem Ende zu. Ich höre „echte deutsche Soldaten", „Männer, die das Vaterland braucht." Und dann wird Hoch gerufen, und man stößt mit Leutnant Roth und den beiden anderen Kameraden an, die außer Fischer mit ihm gekommen sind...
Es ist heller Morgen, wie wir zu unserer Fabrik zurückwanken.
Leute, die zur Arbeit gehen, sehen uns hassvoll und verächtlich nach. Wir schreien ihnen Drohungen zu, und sie gehen schweigend weiter.
Endlich sinke ich völlig zerschlagen auf meinen Strohsack. Das Letzte, was ich — schon im
Halbschlaf - höre, ist Ritters Gesang. Ich weiß nicht genau, was er singt. Es hört sich so an, als ob es Wirtinverse seien. Aber dann ist plötzlich immer wieder der Refrain da: „...über alles auf der Welt".
Mir ist schlecht, aber ich schlafe mit glücklichem Lächeln ein: ich habe mit Rittmeister Schlosser Brüderschaft getrunken!

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