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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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„AUFOPFERUNGSVOLLE TÄTIGKEIT"

Das Leben in der Stadt geht seinen alten Gang. In allen Betrieben wird wieder gearbeitet. Man hat sich an die Anwesenheit der Landesjäger und an die Existenz des Freikorps gewöhnt.
Nachts sind die Straßen aber noch für das Publikum gesperrt, und fast in jeder Nacht fallen Schüsse. In den bürgerlichen Blättern kann man lesen, dass die aufopferungsvolle Tätigkeit unserer braven Truppen immer noch nicht den gewünschten Erfolg gehabt habe. Immer noch gäbe es Nester eines versteckten Widerstandes, immer noch würde von dunklen Elementen auf die tapferen Soldaten geschossen.
Die „Nachrichten" stellen fest, dass es „ordentliche Arbeiter" gibt, die mit diesen dunklen Elementen nichts zu tun haben. Das sei Mob und Lumpenproletariat. Ein anständiger Arbeiter rücke weit von diesen Radaubrüdern ab.
Wir wissen, wie es um die Existenz dieser Radaubrüder steht. Aber wir haben kein Interesse daran, die Bürgerschaft aufzuklären, sonst wäre unser Nimbus schnell dahin. Wir wollen nicht einmal vor uns selbst zugeben, dass unsere Aufgabe eigentlich erledigt ist. Denn wir fürchten uns davor, wieder in die absolute Bedeutungslosigkeit von Pennälern, Studenten und kaufmännischen Angestellten zurückzusinken.
Siegmann ist sogar bloß Friseur, — und heute geht er stolz in der Uniform eines Husarenunteroffiziers herum.
Die Suche nach Plünderungsgut verläuft bald im Sande. Man liest jetzt öfters von einem Tumultschädengesetz, das die Kommunen für die erlittenen Schäden haftbar macht. Wir hören, dass die Geschädigten bei diesem Gesetz viel Geld verdienen können, und es hat infolgedessen niemand mehr ein rechtes Interesse an der Herbeischaffung der geraubten Waren.
Jetzt bemühen wir uns gar nicht mehr, unsere Unterschlagungen von Spirituosen und Lebensmitteln zu verheimlichen. Wenn wir an einem Nachmittag etwa zu Hause einen Besuch machen und von unserem Schlemmerleben erzählen, dann lachen unsere Verwandten darüber und finden es vernünftig von uns, dass wir uns für unsere aufopferungsvolle Tätigkeit schadlos halten.
Zu derselben Zeit richtet das Amtsgericht eine Sonderabteilung ein, die sich ausschließlich der Aburteilung von Plünderern widmet. Die Zeitungen melden Gefängnisstrafen von einem bis zu vier Jahren, und zwanzig solcher Urteile an einem einzigen Sitzungstag sind keine Seltenheit.
Da es nun mit den Haussuchungen nichts mehr ist, haben wir ein anderes Betätigungsfeld gefunden: wir suchen nach Waffen.
Die bedauerlichen Ausschreitungen, die den Einmarsch der Landesjäger begleiteten, haben nämlich bewiesen, dass es in der Arbeiterschaft noch Unmengen von Waffen geben muss. Es tauchen Gerüchte von riesigen Waffenlagern auf, die da und dort in der Umgebung der Stadt liegen sollen.
Tag und Nacht sind wir unterwegs. Einmal heißt es, dass Hunderte von Gewehren und Maschinengewehren auf den Schiessständen der ehemaligen Garnison vergraben sind. Wir suchen einen ganzen Tag danach und finden nichts. Wir bleiben sogar die Nacht über draußen, weil wir damit rechnen, die Latjer würden auf die Nachricht von unserer Waffensuche in der Nacht kommen und die Lager umpacken wollen. Aber sie kommen nicht, obwohl wir die ganze Nacht mit Schussfertigen Karabinern in die Dunkelheit hineinlauschen.
Dann gehen wir wieder unter der Führung eines mysteriösen Marinefeldwebels in die DöÂlauer Heide. Der Feldwebel weiß, wo die versteckten Waffen lagern. Wir laufen einen ganzen Vormittag in den Kiefernschonungen herum und finden nicht das Geringste.
Eines Abends aber wird es ernst. Leutnant Roth macht beim Abendappell sein offiziellstes Gesicht und teilt mit, dass es endlich gelungen sei, die Waffenlager der Spartakisten zu entdecken. Die Waffen — es soll die Ausrüstung etwa eines kriegsstarken Infanterieregiments sein — seien sämtlich im Dorf Dölau versteckt.
„Ich habe — wie ich weiß: mit Eurem Einverständnis — darum gebeten, dass die zweite Kompanie diese Waffenlager ausheben darf. Die Sache ist natürlich nicht ganz ungefährlich, und es wird dabei sicher noch einmal zu Kämpfen kommen. Auf alle Fälle gebe ich den strikten Befehl: Jeder Mensch, der morgen mit der Waffe in der Hand angetroffen wird, ist ohne Gnade sofort und unbedingt umzulegen!"
Roth schnarrt vor Schneidigkeit, und wir erschauern unter der Feierlichkeit dieses Augenblicks und versprechen, unser Bestes zu tun.
Am nächsten Morgen marschieren wir zum Dorf Dölau und umstellen es. Dann durchwühlen wir Scheunen, Ställe und Heuschober mit den Bajonetten, stochern in Kartoffelmieten herum, durchsuchen Gärten, — aber nach vierstündiger Arbeit ist immer noch nichts weiter gefunden worden als ein verrostetes franzöÂsisches Infanterieseitengewehr und eine ausgeblasene Eierhandgranate, die sich ein Arbeiter als Andenken aus dem Krieg mitgebracht hat.
Es wird langweilig. Nur um überhaupt etwas zu tun, klettert einer von uns auf das Dach des Gemeindehauses, von dem eine rote Fahne flattert. Sie wird unter Gejohl in lauter kleine Fetzen zerrissen. Wir raufen uns um die Stücke und protzen noch lange mit der roten Fahne, die wir vom Dach des Dölauer Rathauses heruntergeholt haben.
Gegen Mittag treten wir dann einen blamablen Rückzug an. Die Dölauer betrachten unsern Abmarsch schweigend. Wir können nichts machen gegen diesen stummen Hohn und ärgern uns sehr darüber.
Auf unserm Rückweg — nur noch einige hundert Meter von unsrer Fabrik entfernt — stoßen wir plötzlich auf eine Menschenansammlung. Wir glauben, in ihrer Mitte einen Stahlhelm zu sehen, und eilen im Laufschritt auf die Menge zu, die sich bei unserem Herannahen teilt.
Auf dem Pflaster liegt ein Angehöriger unserer Kompanie. Vor ihm steht ein anderer, Schiebel mit Namen, und fuchtelt aufgeregt mit einer Handgranate in der Luft herum. Er unterbricht sein wütendes Schimpfen, wie er uns sieht, und torkelt johlend vor Freude auf uns zu.
Er ist, ebenso wie der Matrose Sonnemann, der sich auf dem Pflaster wälzt, total betrunken. Wir stellen Sonnemann auf die Beine und nehmen die beiden, die unausgesetzt singen und lärmen, unter die Arme.
Aus der Menge steigt Gelächter auf, das aber im Keim erstickt, als Roth drohend die Faust hebt.
Vor dem Tor steht kein Posten. Oben auf dem Speicher herrscht ein wüstes Durcheinander: überall liegen Gewehre und Karabiner herum, die Tür zum Geschäftszimmer ist zu Splittern zerschlagen, Mehlsäcke sind umgeworfen, die Strohsäcke mit Mehl bestäubt, und mitten in diesem Chaos liegen die zehn Mann, die als Wache zurückgelassen worden sind, gröÂlend, manche wie tot schlafend, andere leise vor sich hin stöhnend. Einige haben sich auf Tische und Strohsäcke erbrochen.
Der Wachthabende ist nüchtern. Er ist ein Fahnenjunkerunteroffizier, der fast weinend vor Erregung erzählt, dass die Wache über eine Kiste Weinflaschen und über einen Ballon Schnaps geraten sei, die noch von den Haussuchungen her bei uns stehen. Er hat die Leute nicht zurückhalten können, sie haben geschossen, Fensterscheiben eingeschlagen, ihn bedroht, und schließlich sind Schiebel und Sonnemann schwer bewaffnet in die Stadt spazieren gegangen.
Wir packen die Betrunkenen in einer Ecke auf die Strohsäcke und machen notdürftig Ordnung. Schiebel will immer noch nicht Ruhe geben. Er ist wie wahnsinnig und fängt mit jedermann Streit an.
Wir treten auf dem Speicher noch einmal an, und Roth verkündet mit schneidiger Stimme: „Der Musketier Schiebel ist aus der Kompanie ausgestoßen!"
Schiebel torkelt dabei vor der Front herum. Er ist Jurist wie Roth und kennt ihn schon von früher.
„Ausgestoßen, ausgestoßen!" äfft er dem Kompanieführer nach.
„Pust' dich man nicht so auf, du Arschloch!"
Schiebel fällt schließlich auch auf einen Strohsack. Am nächsten Morgen ist seine Ausstoßung vergessen. Er tut, als wäre nichts gewesen.
An diesem Abend fragt Roth wie beiläufig: „Wer meldet sich freiwillig, um eine Verhaftung ohne Haftbefehl vorzunehmen?"
Ich habe nicht genau verstanden, worum es sich handelt, aber ich trete trotzdem mit der Mehrzahl der Kompanie vor. Roth sucht sich fünf Leute aus. Ich bin nicht darunter und vergesse den Vorfall bald.
Denn ich soll nachher mit Ritter auf eine „Unternehmung" gehen. Das ist eine große Ehre für mich, und ich freue mich sehr dar-
über. Ritter ist ein schlanker Mensch mit einem kühnen und schönen Gesicht, den ich aus der Ferne heimlich bewundere und verehre. Er studiert Jura und zeichnet sich in der Kompanie dadurch aus, dass ihm das Schießen Spaß macht. Ritter schießt bei den unmöglichsten Gelegenheiten, und wenn seine Schüsse große Aufregung hervorrufen, dann freut er sich wie ein Kind. Alle haben ihn gern.
Wenn Ritter auf Patrouille geht, dann passiert immer etwas, und wenn es auch nichts weiter ist, als dass die Patrouille im Puff endet.
An diesem Abend liegt eine ganz eigenartige Stimmung über dem Appell. Roth geht frühzeitig fort. Ein Unteroffizier verliest eine Mitteilung, dass der General Maerker morgen eine Ansprache an das versammelte Freikorps halten will. Morgen soll auch endlich die Straßensperre aufgehoben werden.
Hier und da stehen zwei Leute zusammen und unterhalten sich flüsternd. Trete ich hinzu, schweigen sie oder reden von gleichgültigen Dingen. Es liegt etwas in der Luft. Eine Stimmung wie vor einem schweren Gewitter.
Um neun Uhr brechen wir auf. Ritter, der „ausgestoßene" Schiebel, der inzwischen wieder nüchtern geworden ist, Schmidt und ich. Auf der Straße eine kurze Beratung, wohin wir eigentlich gehen wollen. Wir marschieren schließlich zum Marktplatz. Als wir gerade auf den Platz einbiegen, fallen Schüsse.
Wir sehen im Schein einer Straßenlaterne einige Landesjäger, die eng an die Mauer eines Hauses gepresst zu dem gegenüberliegenden Haus hinaufschießen. Wir laufen zu ihnen und fragen nach der Ursache der Schüsse. Die Landesjäger wollen vom Dach dieses Hauses beschossen worden sein. Getroffen ist keiner.
Wir stürmen die Treppen des Hauses hinauf. Die Hausbewohner kommen bei dem Lärm ängstlich aus ihren Wohnungen heraus. Es sind alles feine Leute. Auch ein Professor meiner Schule wohnt hier.
Aus dem höchsten Flurfenster spähen wir auf die Dächer hinaus. Es ist natürlich nichts zu sehen. Schmidt hat ein Fernglas.
„Da drüben bewegt sich etwas!" ruft er plötzlich.
Wir sehen zwar auch ohne Glas ganz deutlich, dass sich dort drüben der Windschutz eines Schornsteins im Wind dreht Aber Ritter macht
nun einmal das Schießen Spaß. Trotz des ängstlichen Protests der Hausbewohner, die einen ernsthaften Kampf mit Dachschützen befürchten, legen wir auf Ritters Kommando an und schießen zu dem Schornstein hinüber.
Fensterscheiben klirren. Einige von uns müssen wohl etwas zu tief gehalten haben...
Da sich auf unsere Schüsse hin drüben nichts regt, und nachdem wir mit den Landesjägern die Sache ausreichend besprochen haben, steigen wir wieder die Treppen hinunter. Was nun?
Die paar Schüsse haben unsere Nerven erregt, und Ritter will jetzt in den Puff.
Als wir gerade in die Straße „Schlamm" einbiegen, wendet sich Ritter gutmütig lächelnd zu mir: „Na Kleiner, du hast doch auch Lust, mitzugehen?" Ich lache laut und gequält und lärme: „Aber selbstverständlich!" Denn ich darf doch nicht sagen, dass ich noch nie bei einer Frau war!
Die Straße „Schlamm" liegt leer. Vor den meisten Häusern brennen nicht einmal die roten Lampen. Es hat ja doch keinen Zweck. Die Mädchen haben jetzt schlechte Zeit, denn nach acht Uhr kommen keine Besucher mehr.
Höchstens einmal ein paar Soldaten. Oder ein Polizist, aber der findet seinen Weg auch so.
Unsere Nagelstiefel klappern auf dein Pflaster, da öffnen sich ein paar Fenster:
„Hallo, ihr kleinen Noske, hierher!"
Schmidt winkt ab: „Das ist die dicke Frieda aus Eisleben, bloß da nicht hin!"
Wir betreten dann ein anderes Haus. Ein niedriger, kleiner Raum, verqualmt, verschmutzt und vom Geruch billigen Parfüms durchweht. Auf einem Sessel in der Mitte des Zimmers sitzt ein alter Mann und schläft. Sein Mund steht halboffen und lässt ein paar schwarzgelbe Zahnstummel sehen. Er schläft noch, wie wir später das Haus wieder verlassen.
In einer Ecke flegelt sich auf einem Stuhl ein junger bleicher Mensch, der bei unserm lärmenden Eintritt mürrisch den Kopf hebt. Vier Flauen begrüßen uns mit lautem Hallo.
Wir stellen unsere Karabiner in die Ecken, setzen uns und bestellen Wein. Unter Zoten und Gelächter werden meine drei Kameraden mit den Frauen handelseinig.
Ritter weist ungeniert auf den jungen Mann in der Ecke.
„Ist das euer Louis?" fragt er harmlos.
„Das ist mein Freund," berichtigt eins der Mädchen hastig.
Der junge Mensch erhebt sich und geht einen Fluch murmelnd aus dem Zimmer. Ritter lacht herzlich. Er bindet sein Koppel ab und hängt es an den Garderobenständer. Die Handgranaten klappern baumelnd an das Eisen des Hakens.
Als die drei mit ihren Frauen gerade das Zimmer verlassen wollen, zieht Ritter mich in eine Ecke.
„Hör' mal," flüstert er leise, „willst du auch mit einer von den Säuen schlafen gehen?"
Ich werde rot vor Verlegenheit. Was muss ich jetzt tun, um mich vor Ritter nicht zu blamieren?
„Nicht so gern," sage ich verlegen und fürchte, nun sein spöttisches Gelächter hören zu müssen.
Aber zu meiner großen Erleichterung sagt er freundlich: „Das ist ja fein! Weißt du, ich traue dem Louis nicht. Bleib du doch hier unten im Hausflur stehen, bis wir oben fertig sind. Und bei dem geringsten verdächtigen Geräusch kommst du rauf und knallst dazwischen, verstanden?"
Dann stehe ich allein im Flur. Ich glühe vor Begeisterung. Von oben her tönt das Lachen und Kichern der Mädchen, Witzworte und Stöhnen.
Ich wünsche, der Zuhälter möchte jetzt kommen, damit ich eine Heldentat vollbringen kann. Ich will schießen, will irgend etwas Unerhörtes tun, was dieser unglaublichen, dieser fabelhaften Situation angemessen ist. Dem einen Mädchen, das noch im Zimmer ist, ins Gesicht schlagen, aus dem Fenster schießen oder etwas Ähnliches.
Diese Situation! Ich stehe in dem dunklen Hausflur eines Puffs, und der Tod kann hinter jeder Türe lauern. Huren sind um mich herum, ich habe Wein getrunken, und nun stehe ich hier mit dem Karabiner im Arm und bewache meine Kameraden.
Antikisches Heldentum glänzt mir über dieser Szene, blühende Romantik des Landsknechtlebens, ferner Schimmer wilder und heroischer Zeiten!
Ich bin siebzehn Jahre vier Monate alt und bewache den Beischlaf meiner Kameraden. „Zwischen Lipp und Kelchesrand," — diese Stunde kann meinen Tod bedeuten. Vor ein Paar Tagen hat man hier einem Landesjäger
die Kehle durchgeschnitten. Vielleicht ist es in diesem Hause geschehen. Vielleicht hat es der bleiche Zuhälter getan.
Ich bin ganz erfüllt von dem beseligenden Gefühl der Kameradschaft. Volker hält Wacht! Nibelungentreue! Blutsbrüder! Todgenossen!
Nach einer Weile kommen die drei die Treppe herunter. Müde und mürrisch. Sie zahlen. Die Mädchen sagen artig adieu.
„Danke schön!" nickt mir Ritter zu.
„O bitte," sage ich höflich und abwehrend.
Dann stehen wir auf der Straße.
„Saukalt!" schimpft Schmidt und gähnt. Und nun wollen wir nach Hause gehen. Unsere Tätigkeit ist für heute zu Ende.

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