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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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„STRASSE FREI!"

Nach vierundzwanzig Stunden sind wir Pennäler akklimatisiert. Wir sind Revolutionssoldaten, die sich in nichts mehr von den anderen unterscheiden.
Da ist Scheele. Er ist fast ein Jahr älter als ich. Sein Vater ist Universitätsprofessor. Ich habe ihn immer mit einer gewissen Scheu betrachtet, denn er ist der eleganteste Mensch aus dem ganzen Gymnasium. Sein Benehmen ist stets von einer selbstverständlichen Vornehmheit gewesen, einer Sicherheit und Ruhe, die mir imponiert. Darum erschüttert es mich geradezu, zu sehen, wie Scheele, auf seinem Strohsack sitzend, schlürfend und schmatzend den Griessbrei löffelt, den es zu Mittag gibt. Zu allem Überfluss, rülpst er dröhnend, als er fertig ist, und gießt den Rest seines Napfes ins Klosett.
Ein anderer sitzt auf einem Mehlsack und bohrt sich in der Nase, dann spuckt er kräftig auf den Fußboden. Gestern hat er sich mir mit den Worten vorgestellt: „Von der Osten, — Kadett jewesen."
Ich habe mir nie etwas aus dem Kartenspielen gemacht, aber als mich ein älterer Kamerad — Ritter heißt er und ist Student — zum Skat auffordert, sitze ich den ganzen Nachmittag und spiele Skat. Wären nicht die Stunden am Tage, wo ich mit entschlossenem Gesicht und drei Handgranaten am Koppel vorm Tor Posten stehe, dann wäre mir die Soldatenspielerei schon langweilig geworden. So aber fühle ich die bewundernden und ängstlich-respektvollen Blicke der Vorübergehenden und genieße den Triumph, etwas zu sein. Schade nur, dass die Fabrik soweit außerhalb der Stadt liegt. In diese Vorstadtstraßen verirrt sich keiner meiner Bekannten, denen ich mich gern in meiner neuen Würde gezeigt hätte.
Dafür gibt es aber andere Genüsse. Gegenüber der Fabrik liegt ein riesiger Häuserblock mit Arbeiterwohnungen. Eins der grausigsten und lähmendsten Stadtbilder, die man sich denken kann. Es kommen viele Latjer vorbei, und es ist ein unerhörter Genuss, wenn man ihnen näselnd und ganz wie nebenbei zurufen kann: „Weitergehen! Nicht stehen bleiben!"
Sie sehen einen dann hasserfüllt von der Seite an; man fühlt, sie möchten sich widersetzen, aber ein zögernder Schritt auf sie zu, — und sie weichen zurück.
Diese Augenblicke entschädigen für manche Demütigungen, die man auf der Schule erfahren hat, und für die trostlose Langeweile, die sich oben auf unserem Mehlspeicher ausbreitet,
Noch schöner ist es, wenn man in geschlossener Truppe durch die Straßen geht. Man fühlt seine Beine gar nicht, man sieht starr durch die armen Menschen hindurch, die sich auf dem Bürgersteig drängen und krampfhaft ein unschuldiges Gesicht machen, wenn sie unsere Waffen sehen. Wir sind eben wer. Und wenn wir auch scheue und schwächliche Gymnasiasten sind, junge Kaufleute, die von einem schmierigen Chef angeschnauzt werden, arme Studenten, die oft hungern müssen, lächerliche Kleinbürger, die Desperado spielen, — die Uniform deckt alle unsere Schwächen zu, und der Nebenmann gibt einem das Gefühl von Grö­ße und unüberwindlicher Stärke.
In solchen Momenten wachse ich über mich hinaus, lege mein Gesicht in energische Falten und bin stolz und wunschlos glücklich.
Es ist nicht zu leugnen: es gibt wenig oder nichts für uns zu tun. Die revolutionären Energien des Proletariats haben sich mit jenen ersten Schüssen auf die Landesjäger, mit der sinnlosen Nacht der Zerstörung erschöpft. Wir sprechen nicht darüber, aber vor uns allen steht wie ein Gespenst die Aussicht, dass dies nun eines Tages vorbei sein wird, dass wir wieder als Primaner ins Gymnasium gehen und uns über Dr. Krügers Malicen ärgern müssen.
Deshalb suchen wir krampfhaft nach Gelegenheiten, bei denen wir uns selbst bestätigen können. Besonders am Abend wächst unsere Unternehmungslust. Dann wird z. B. ein Maschinengewehr auf dem Dach des Speichers eingeschossen. Der Lauf ist dorthin gerichtet, wo keine Häuser stehen sollen. Genau weiß man zwar nicht, ob es dort nicht doch Häuser gibt, aber das ist gleichgültig: auf alle Fälle hört es sich schauerlich an, wenn die engen Straßen das Dröhnen des M.G.s verhundertfacht wiedergeben.
Oder es werden Patrouillen gegangen. Zehn oder sechzehn Leute machen sich marschfertig, dem Rangeltesten wird das Kommando übertragen, und sie marschieren los. Irgendwohin
in die Stadt. Aufträge gibt es nicht zu erfüllen, und so lautet die Weisung meist nur dahin, sie sollten sehen, wo etwas los ist.
Wir marschieren durch öde Straßen, treffen auf Patrouillen von Landesjägern, mit denen wir uns etwas erzählen, gehen in eine Kneipe, deren Wirt wir aus dem Bett trommeln, und zechen. Oft enden diese Patrouillen auch im Schlamm, wie die Bordellstraße Halles heißt. Das ist zwar streng verboten, denn — so ist uns gesagt worden — dort wurde neulich ein Oberjäger des Korps Maerker mit durchschnittener Kehle auf der Straße gefunden. Aber gerade diese unheimliche Aussicht reizt zu einem Besuch.
Manchmal suchen wir auch nachts nach Waffen. Da kommt ein Posten angstbleich und empört auf den Speicher gestürmt und berichtet, auf ihn sei eben aus einem Fenster der Schmiedstraße geschossen worden. Alarm. Im grellen Schein einer elektrischen Bogenlampe tritt die Kompanie auf dem Fabrikhof an. Alles ist erregt und fiebert in der Hoffnung auf ein Nachtgefecht. Gewehrschlösser schnappen bedrohlich auf und zu. Dann geht es hinüber in den Häuserblock der Schmied- und Schlosserstraße.
Es ist erst elf Uhr, aber da die Straßen um acht Uhr gesperrt werden, ist nur noch in wenigen Fenstern Licht. Wir schreien trotzdem: „Straße frei! Fenster zu! Vom Fenster weg!" Und das Licht geht aus.
Der Mann, der vor mir geht, hebt plötzlich ohne ersichtlichen Grund sein Gewehr und schießt zu einem Haus hinauf.
Ein anderer schreit: „Da, da ist geschossen worden!" Und deutet auf ein geschlossenes Fenster im zweiten Stock. Er hat einen Feuerschein gesehen. Ich habe ihn auch bemerkt: die Funken hat die Kugel verursacht, die unser Kamerad da hinauffeuerte. Ich rufe es erregt den anderen zu, aber niemand hört auf mich. Das betreffende Haus wird umstellt, der Hausmeister wachgetrommelt.
„Aus Ihrem Haus ist eben geschossen worden!"
Der Alte, angstbleich, mit hängenden Hosen und schlappenden Filzpantoffeln, leuchtet uns die zwei Treppen hinauf. Wir gehen nicht leise, aber als wir oben angekommen sind, müssen wir doch erst lange an die Türen klopfen, ehe uns aufgemacht wird.
„Aufmachen! Regierungstruppen!"
In der einen Wohnung öffnet eine alte Frau,
die mit einem Schrei das Licht fallen lässt, wie sie uns erblickt. Sie ist allein in der Wohnung, ihr Mann ist tot. Wir glauben ihr, dass sie nicht geschossen hat. Ihr Kopf wackelt vor lauter Erregung hin und her.
Die andere Wohnungstür öffnet ein alter Arbeiter, gebückt, müde und schwach. Er leuchtet uns vorauf. Wir prallen vor einem entsetzlichen Stickgeruch zurück. In dem Zimmer nach der Straße zu schlafen acht Menschen, Frauen, Mädchen, ein paar Kinder und ein junger idiotischer Mann, dem der Speichel aus dem Mund läuft, und der höchst vergnügt lacht, wie er uns bemerkt. Einige Kinder beginnen zu weinen, die Frauen beruhigen sie und starren uns ängstlich an. Der Alte steht mit der Petroleumlampe in der Hand demütig neben uns.
„Hier schießt niemand," lächelt er müde.
Die dritte Wohnung wird von einem stämmigen jungen Mann geöffnet, der im Bewusstsein seiner Unschuld mit jovialer Freundlichkeit uns in seine Stube sehen lässt. Er öffnet sogar Schränke und Kommoden.
„Sie müssen sich irren, meine Herren!" sagt er weltmännisch.
Aber wir sind trotz unserer Misserfolge noch nicht überzeugt. Die anderen suchen weiter. Ich gehe die Treppen hinunter und gelange statt auf die Straße auf den Hof. Wie ich durch den Torweg hinausgehen will, stoße ich an eine Tür. Ein schwacher Schrei, und die Tür wird aufgerissen.
Ein phantastischer Anblick: der Raum ist fast kahl. In der einen Ecke ein unbestimmbares Lager, ein Tisch mit einer Karbidlampe, zwei Stühle, ein Herd.
Und mitten im Zimmer eine junge Frau. Ihre langen schwarzen Haare hängen offen über ihren Rücken herab. Ihre Augen weiten sich vor Entsetzen, wie sie meinen Helm und meinen Karabiner sieht. Sie hebt in einer fast irren Gebärde der Verzweiflung — so wie man sie manchmal auf primitiven Holzschnitten sieht — ihre Arme und stöhnt, stöhnt so entsetzlich, dass es mir heiß und kalt über den Rücken läuft. Dann springt sie mich an:
„Wo habt Ihr ihn? Wo habt Ihr ihn? Ihr Mörder!"
Ich pralle in einer unwillkürlichen Bewegung der Abwehr zurück.
Hinten im Zimmer fangen zwei Kinder an zu weinen: „Vater! Vater!"
Ich bin maßlos erschüttert. „Das kann doch nicht wahr sein!" — dieser bittende Gedanke ist alles, was mir zum Bewusstsein kommt. Aber es ist kein Traumbild; die Frau stürzt mit einem Aufschrei an das Bett zu ihren Kindern und weint sinnlose Liebkosungen.
Ich stehe mit leerem Kopf noch den Bruchteil einer Sekunde, dann ziehe ich die Tür langsam hinter mir zu und stürze auf die Straße.
Morgen werden wir hier wieder nach Waffen suchen. Aber ich gehe nicht mit. Während wir zur Kaserne zurückmarschieren, will ich Webach von der Frau erzählen. Aber ich bringe kein Wort über die Lippen. Ich merke, mein Bericht würde zu verworren und zu unwirklich klingen.
Und lange noch sehe ich die junge Frau, die in starrer, betender Verzweiflung die Arme hebt, da sie einen Mörder ihres Mannes zu erblicken glaubt...

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