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Ernst Ottwalt – Ruhe und Ordnung (1922)
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„FREIHEIT, EHRE, VATERLAND!"

Es ist schwer zu ertragen: das Leben geht seinen geregelten Gang, und ich bin wieder Pennäler. Noch dazu einer, der durchs Abitur gefallen ist. Nichts Geheimnisvolles und Erregendes gibt es, womit ich mich selbst über meine Bedeutungslosigkeit hinwegtäuschen könnte.
Fast jeden Tag treffe ich auf der Straße ehemalige Schulkameraden. Sie tragen stolz die bunte Mütze irgendeiner studentischen Verbindung, und immer glaube ich, aus ihren freundschaftlichen Gesprächen den Ton beleidigender Herablassung und versteckten Mitleids herauszuhören.
Mein Freund Webach trat im Sommer in eine Burschenschaft ein. Wir sehen uns jetzt seltener, denn er hat viel zu tun. Manchmal bringt er mich mit seinen Bundesbrüdern zusammen. Das sind fast alles ehemalige Offiziere, und sie imponieren mir sehr. Sie haben eine selbstverständliche Ruhe und Sicherheit und sprechen mit sonorer, männlicher Stimme.
Nachdem ich ohne besondere Schwierigkeiten das Abitur bestanden habe, werde ich von Webach zu einer Kneipe eingeladen. Ich betrete das Verbindungshaus der Burschenschaft mit der Gewissheit, dass ich es mit Band und Mütze verlassen werde.
In dem Kneipzimmer, dessen Wände mit den Bildern sämtlicher ehemaligen Aktiven geschmückt sind, sitzen nur ein paar Studenten. Die meisten „Bundesbrüder" sind in Ferien.
Wir trinken Bier und Schnaps. Die jungen Leute sind herzlich und höflich zu mir. Bald werde ich betrunken.
Mein Nebenmann, ein älterer Mediziner mit Namen Banse, spricht in einem fort. Ich höre ihm aufmerksam zu: er erzählt von Mensuren, von Kneipereien, die erst am Mittag des nächsten Tages endigten, von tollem Unsinn, den man getrieben hat, von Mädchen und romantischen nächtlichen Kahnfahrten auf der Saale.
Der Qualm unzähliger Zigaretten legt sich um die Lampe. Banse zeigt auf die Bilder an den Wänden und spricht in feierlichem Ton davon, wie sich jeder Bundesbruder einfüge in die fast ein Jahrhundert alte Tradition der Burschenschaft, wie jeder einzelne durchdrungen sei von den Idealen jener Männer, die einst Leben und Freiheit aufs Spiel setzten für die stolze Devise „Freiheit, Ehre, Vaterland!"
Das Kneipzimmer beginnt sich um mich zu drehen. Ein Lied wird angestimmt. Man drückt mir ein Kommersbuch in die Hand, und ich singe begeistert mit, während der Tabaksqualm immer dicker wird, und Brechreiz meinen Magen quält:
„Student sein, wenn die Veilchen blühen, ihr lockend Lied die Lerche singt, der Morgensonne junges Glühen triebweckend in die Erde dringt! Student sein, wenn die weißen Schleier am blauen Himmel grüßend wehn, das ist des Lebens schönste Feier, Herr, lass sie nie zu Ende gehn!"
Dann muss ich hinaus. Webach zeigt mir den Weg zur Toilette und erläutert mir den Zweck des Speibeckens, das in die Wand eingelassen ist: man legt die Stirn auf ein kleines Polster und hält sich an den Griffen fest.
Mit tränenden Augen und keuchender Lunge komme ich gerade noch zurecht, um den letzten Vers des Liedes mitzusingen. Dann höre ich
mich korrekt zu Banse sagen: „Ich möchte bei Ihnen aktiv werden."
Plötzlich habe ich eine Mütze auf, Banse schlingt mir liebevoll das Band um die Brust, alle kommen und gratulieren mir und nennen mich du. Banse hält eine kurze Rede. Er endet mit den Worten „Freiheit, Ehre, Vaterland", und ich fröstele vor Ergriffenheit.
In den frühen Morgenstunden wanke ich, von Webach und Banse gestützt, nach Hause, falle in einen tiefen Schlaf — und lächle beim Erwachen glückselig, da mein Blick auf Band und Mütze fällt, die am Bettpfosten hängen.
Ich bin aktiv! Ich bin wieder wer!
Und von nun an ist das Leben wunderschön! Welch ein Gefühl, mit seinen neuen Bundesbrüdern über die Straße zu gehen! Es ist fast so schön wie das Soldatsein. Von allen Vorübergehenden wird man respektvoll betrachtet, und man ist es seiner Couleur schuldig, durch alle diese armen Menschen hindurchzusehen, als wären sie Luft.
Meiner Bedeutung werde ich mir so ganz bewusst, wenn ich mir meinen Bundesbruder Lauritz ansehe. Der Mann ist fast dreißig Jahre alt und Rittmeister a. D. Er hat im Kriege ein Bein verloren und fängt jetzt gerade an, Medizin zu studieren. Und Lauritz — ein Rittmeister! — ist jetzt Fuchs wie ich und stolz darauf, das bunte Band tragen zu dürfen und von Freiheit, Ehre und Vaterland zu reden.
Dass mein Wert fast über Nacht so gestiegen sein soll, dass ich auf einer Stufe mit Lauritz stehe, ist etwas, was ich manchmal noch nicht begreifen kann. Besonders auf der Kneipe fällt es mir immer wieder auf.
Wir haben einen Bundesbruder, der namenlos unter dem Unglück leidet, Rosenberger zu heißen. Jeder verdächtigt ihn jüdischer Abstammung. Rosenberger ist sehr klein und sieht außerdem furchtbar jung aus. Er trägt darum ständig das schwarz-weiße Band des Eisernen Kreuzes im Knopfloch. Sonst glaubt ihm niemand, dass er im Felde gewesen ist.
Lauritz hat auf der Kneipe einen Witz gemacht, durch den sich Rosenberger aus unerfindlichen Gründen beleidigt fühlt. Jedenfalls wird er krebsrot im Gesicht und brüllt Lauritz an: „Rest weg!"
Nachdem Lauritz dem Befehl gehorcht hat, kommandiert Rosenberger noch ein zweites und drittes Mal: „Rest weg!"
Und Lauritz, der dreißigjährige einbeinige Rittmeister, erhebt sich jedes Mal sofort, nimmt seine Mütze ab und gießt gehorsam sein Seidel hinunter...
Mein Weltbild verschiebt sich. Alle bisherigen Begriffe von Lebenszweck und Menschenwert geraten ins Schwanken. Krone und Ziel aller menschlichen Entwicklung ist der Bursche, der drei Mensuren gefochten hat, auf der Kneipe seinen Mann steht und jederzeit bereit ist, für den Wahlspruch und die Farben seiner Verbindung Blut zu vergießen und zu verlieren.
Aber so ausschließlich ich wünsche, selbst bald so ein Bursch zu werden, und so sehr ich mein Benehmen nach den zahllosen Regeln und Gesetzen meiner Korporation einzurichten bemüht bin, — so schwer wird mir dieses Vorhaben gemacht.
Der Vater meines Bundesbruders Horn ist hoher Beamter in Halle. Ich verkehre oft in seinem Hause. Ich mag meinen Freund Horn gern, aber in der Hauptsache gehe ich so oft zu ihm, weil bei Horns eine Stütze tätig ist, in die ich verliebt bin.
„Fräulein Martha" ist ein blutjunges Ding mit einem hellblonden Wuschelkopf, sanften grauen Augen und einer biegsamen, schmalen Gestalt. Wenn sie durchs Zimmer geht, klopft mir jedes Mal das Herz stärker, und immer muss ich ihr nachsehen. Ihr enges Kleid spannt sich um ihre Hüften, und ihre Beine sind schlank und schön.
Horn hat nichts dagegen, dass ich mich um die Stütze bemühe. Für ihn kommt sie nicht in Frage, denn er hält auf Prinzipien. Und es ist ein Prinzip von ihm, seine amoureusen Angelegenheiten außerhalb seines Elternhauses zu erledigen. Das drückt er häufig durch die goldene Lebensregel aus: „Der kluge Hund scheißt nie zuhaus."
Es dauert lange, ehe sich Martha dazu entschließt, an ihrem freien Tag mit mir auszugehen. Endlich erlaubt sie es mir. Nun gehen wir oft in der Peißnitz spazieren oder rudern auf der Saale. Dabei erzählt Martha von zu Hause, und manchmal kommen ihr die Tränen in die Augen. Ihr Vater ist kleiner Beamter in Schlesien, und sie soll bei Horns „au pair" die feine Wirtschaft lernen.
Ich liebe sie. Oft stehe ich stundenlang vor Horns Haus und warte darauf, dass Martha einkaufen geht. Dann drücken wir uns scheu an
die Mauer eines Gartens, schweigen oder reden nebensächliche Dinge. Ich halte ihre Hand in der meinen und atme den Duft ihres Körpers, bis sie hastig und traurig sagt: „Nun muss ich wieder gehen." Wenn es keiner sieht, küssen wir uns dann, und ich bin stolz und glücklich.
Manchmal besuche ich auch meinen Freund Horn zu einer Zeit, wo ich Martha allein zu Hause weiß...
Es ist fast unwirklich schön. Weil Martha es nicht nett von mir findet, dass ich immerzu nur trinke und fechte, gehe ich sogar regelmäßig zur Universität.
Einmal, wie wir an einem kalten Wintertag wieder auf den Saalewiesen spazieren gehen, treffen wir meinen Bundesbruder Spiegel. Er grüßt korrekt und mit ernstem Gesicht.
Am nächsten Convent der Burschenschaft, der jede Woche stattfindet, erhebt sich Spiegel plötzlich und stellt Strafantrag gegen mich.
„Ich habe ihn am vorigen Donnerstag Arm in Arm mit dem Dienstmädchen unseres Bundesbruders Horn in der Peißnitz spazieren gehen sehen."
„In Couleur?" fragt unser Sprecher, der den Convent leitet, zurück.
Spiegel schreit es fast: „Jawohl, in Couleur! Am hellen lichten Nachmittag!"
Ich erhole mich langsam von meinem Erstaunen und begreife, dass man mich eines schweren Delikts beschuldigt, das bei uns „Couleur senken" heißt. In Couleur dürfen wir nämlich nur mit „Damen der Gesellschaft" verkehren, andere weibliche Wesen existieren für uns nur am Freitagabend, wo wir couleurfrei haben. Nach einer durch jahrzehntelanges Herkommen geheiligten Regel ist der Freitagabend für einen Besuch im Puff reserviert oder für eine Unternehmung mit einer der drei oder vier „Bundeshuren", die unter uns reihum gehen.
Spiegel sagt also, Martha sei keine Dame, und ich hätte meinen Verkehr mit ihr dem Convent bekanntgeben müssen, wozu ich auf Ehrenwort verpflichtet sei.
Mein erster Gedanke ist, Spiegel für seine Unverschämtheit ins Gesicht zu schlagen! Die kleine Martha auf eine Stufe mit den Mädchen zu stellen, mit denen wir uns Freitags zu amüÂsieren pflegen!
Zur Rede gestellt, verweigere ich über dieses Vorkommnis jede Aussage: Martha sei nicht
das Dienstmädchen, sondern die Stütze der Familie Horn, also fraglos eine Dame. Und über meine Erlebnisse mit Damen dürfe ich bekanntlich nicht sprechen.
Horn soll Auskunft geben, ob Martha eine Dame ist. Ich sehe ihm an, dass ihm die ganze Sache furchtbar unangenehm ist, und dass er eine Wut auf mich hat: „Ob die Stütze meiner Eltern eine Dame ist, weiß ich nicht. Jedenfalls benimmt sie sich tadellos."
Spiegel genügt das noch nicht: „Hat sie auch bei euch Familienanschluss?"
Horn bejaht.
„Isst sie mit an eurem Tisch?" fragt der Sprecher. Auch das bejaht Horn. Aber: er würde mit ihr nicht in Couleur in der Peißnitz spazieren gehen.
Ich werde abwechselnd rot und blass vor Verlegenheit und Zorn. Nachdem ich hinausgeschickt worden bin, weil die Burschen sich geheim über meine Straffälligkeit beraten wollen, setzte ich mich zu unserm Couleurdiener und trinke einen Cognac nach dem andern, um einen unangenehmen Geschmack im Munde loszuwerden.
Nach zweistündiger Beratung werde ich wieder in das Conventszimmer gerufen.
Der Sprecher steht steif und feierlich: „Ich habe dir aus dem Convent mitzuteilen, dass Bundesbruder Sponholz beauftragt worden ist, sich davon zu überzeugen, ob das junge Mädchen eine Dame ist. Bis dahin gibt dir der Convent auf, jeden näheren Verkehr mit der betreffenden weiblichen Person zu unterlassen."
Ich beschließe, dem Befehl des Convents nicht zu folgen. Aber ich warte die nächsten Tage vergebens auf Martha. Endlich treffe ich sie, wie sie einkaufen geht. Sie weint. Horns Vater hat ihr befohlen, nicht mehr mit mir auszugehen, sonst werde er ihrem Vater darüber schreiben, und überhaupt schicke es sich nicht für ein junges Mädchen, sich von einem Studenten auf der Peißnitz küssen zu lassen.
Sie sieht scheu zu mir auf. Mich erfüllt eine ungeheure Wut auf meine Bundesbrüder. Am liebsten möchte ich ihnen jetzt Band und Mütze vor die Füße werfen.
„Das kannst du doch nicht," weint Martha, „dann gehe ich aus Halle weg. Du sollst dir meinetwegen nicht solche Scherereien machen. Tu mir den Gefallen, ja?"
Martha wird ganz eifrig und stellt mir vor, wie viel für mich von meiner Zugehörigkeit zur
die Alten Herren des Bundes später viel leichter eine anständige Stellung bekommen. Und sie müsse bei Horns bleiben und wolle ihren Eltern keinen Kummer machen. Dann küsst sie mich zum Abschied.
Ich stehe mit leerem Kopf. Ich kann nicht mehr sehen, wie ihre schmale Gestalt am Ende der Straße verschwindet, denn mein Blick verschwimmt...
Einige Tage darauf wird mir — wieder nach zweistündiger Beratung — vom Sprecher mitgeteilt: „Der Convent bestraft dich wegen deines Verkehrs mit der Stütze des Bundesbruders Horn mit einem einfachen Verweis. Bundesbruder Sponholz ist zwar persönlich der Ansicht, dass die betreffende Dame keine Dame ist, aber er gibt zu, dass sie äußerlich durchaus den Eindruck einer solchen macht. Maßgebend für die Meinung des Convents war die Tatsache, dass sie in der Familie Horn nur einen beschränkten Familienanschluss genießt und nicht im vollen Maß als Dame gilt. Der Convent gibt dir auf, dich an nicht couleurfreien Tagen jeden Verkehrs mit dem jungen Mädchen zu enthalten."
Am nächsten Freitag, wo ich couleurfrei habe, gehe ich zum ersten Mal zum Tanz nach Büschdorf und komme die Nacht nicht nach Hause...
So oft ich in der nächsten Zeit an Martha denke, schäme ich mich. Allmählich aber komme ich mir doch sehr heldenhaft vor und rede mir ein, sie für die Devise meines Bundes geopfert zu haben.
Mit meinem Bundesbruder Spiegel rede ich noch lange Zeit kein Wort. Ich finde es gemein von ihm, dass er mich beim Convent angezeigt hat.
Während einer Kneipe treffen wir uns ein paar Wochen später auf der Toilette. Spiegel hat am Morgen dieses Tages gerade sein Physikum bestanden und ist sehr betrunken. Ich will ihm höflich Platz machen, aber er kommt auf mich zu, drückt mir die Hand und sagt warm und energisch: „Du bist mir böse, nicht wahr? Aber sieh mal, ich konnte doch gar nicht anders handeln. Wenn ich der Ansicht war, dass du mit diesem Mädel Couleur gesenkt hast, dann musste ich dich doch anzeigen. Und außerdem, — sei froh, dass du die Ziege los bist. Das sind gerade die schlimmsten, bei denen man nicht weiß, ob sie 'ne Hure oder 'ne Dame
sind. Nee, nee, das hat schon alles seine Gründe, dass wir so auf unsere Füchse aufpassen. Ich habe schon manchen gesehen, der durch solche Weibergeschichten vor die Hunde gegangen ist, davor hätte ich dich gern bewahrt. Komm, wollen uns wieder vertragen!"
Ich bin auch schon nicht mehr ganz nüchtern und schlage ein. Vielleicht ist Spiegel sogar im Recht. Vielleicht will er wirklich mein Bestes.
Am Schluss der Kneipe ist Spiegel so betrunken, dass er nicht mehr allein nach Hause gehen kann. Um unsere wiederhergestellte Freundschaft zu bekräftigen, bringe ich ihn gemeinsam mit Horn in seine Wohnung. Spiegel lohnt es uns nicht: er schimpft in einem fort und schlägt und stößt nach uns.
Wie wir oben in seiner Bude angekommen sind und Horn das Licht andreht, sehe ich, dass in Spiegels Bett ein Mädchen schläft. Horn scheint nicht weiter überrascht. Er packt das Mädel an der Schulter und schreit: „Mach' dass du raus kommst, Trude!"
Die Kleine springt auf und redet wütend auf Spiegel ein, der in der Sofaecke schon fast eingeschlafen ist: „Bist du schon wieder besoffen, du altes Schwein!"
Horn lacht aus vollem Halse. Spiegel versucht, das Mädchen auf seinen Schoß zu ziehen, und wimmert weinerlich: „Trudchen! Trudchen!'"
„Komm! Trude kann ihn ins Bett bringen," sagt Horn zu mir, und wir gehen die Treppen hinunter.
„Wer war denn das Mädchen?" frage ich auf der Straße.
„Wusstest du denn nicht, dass Spiegel ein Verhältnis mit seiner filia hospitalis hat?" fragt Horn ganz erstaunt.
„Nein, das wusste ich allerdings noch nicht," antworte ich bitter und verabschiede mich schnell.
Ich habe keine Zeit, mich über Spiegel und seine doppelte Moral zu ärgern, denn morgen ist Totensonntag, da muss ich wieder früh auf den Beinen sein.
In Halle liegt ein Bundesbruder begraben, der schon vor vierzig Jahren gestorben ist. Alljährlich am Totensonntag besucht die ganze Burschenschaft sein Grab und legt einen Kranz nieder. Unsere Ehrung des Toten ist zugleich als Ehrung aller im Krieg gefallenen Bundesbrüder gedacht
Keiner hat recht ausgeschlafen, wie wir uns am nächsten Morgen „auf dem Hause" versammeln. Man begrüßt sich missmutig. Aber ich finde die pietätvolle Anhänglichkeit meiner Bundesbrüder so schön, dass ich gerne einen Sonntagmorgenschlaf daran gebe.
Mit dem Couleurdiener, der den Kranz trägt, an der Spitze, gehen wir zwei und zwei zum Friedhof. Unterwegs schleppt sich das Gespräch mühsam hin. Fast jeder hat von der gestrigen schweren Kneipe einen Kater. Außerdem ist es kalt.
Wir finden das Grab unseres Bundesbruders nicht gleich, denn der Couleurdiener August ist trotz dem frühen Morgen schon wieder nicht ganz nüchtern.
Endlich können wir den Kranz niederlegen. Dann stehen wir eine Zeit lang stumm am Grabe und sehen uns verlegen an. Schließlich nimmt einer die Mütze ab, und wir markieren „stilles Gebet".
Schließlich rückt August den Kranz noch einmal zurecht und stellt fest: „So, da liejt er sehre scheen."
Und dann gehen wir zum Frühschoppen, der diesmal in einem uralten Lokal am Fuß der
Burg Gibichenstein stattfindet. Erst trinken wir Bier, dann die Spezialität der Kneipe, „Regenschirme". Das sind große offene Kelche, die mit acht verschiedenen Sorten Schnaps gefüllt werden.
Wir vergessen das Mittagessen. Nachmittags um vier singen wir stundenlang hintereinander immer den einen einzigen Vers des „Fürst von Thorn":
„Ich bin der Fürst von Thoren, Zum Saufen auserkoren. Wir alle sind erschienen, Eur Gnaden zu bedienen."
Um sechs gehen wir zu Wiedemann auf die Bude, der von seinem Vater einen Ballon Obstwein geschickt bekommen hat. Bald darauf schlafen die meisten auf Stühlen oder wälzen sich stöhnend auf dem Bett und auf dem Teppich. Wiedemann spielt Klavier, und Schön, unser erster Chargierter, schluchzt wie ein Kind vor sich hin.
Er sitzt neben mir. Er muss sehr betrunken sein; ausgerechnet mir, dem jüngsten Fuchs, klagt er sein Leid.
„Ich habe meinen Eltern versprochen, ich wollte mich in diesem Semester etwas mehr vom Bund zurückziehen und fürs Physikum arbeiten. Und nun habe ich mich sogar noch zum Sprecher wählen lassen."
„Ich bin ein Schwein! Ein Schwein bin ich, dass ich meinen Eltern mein Versprechen gebrochen habe!" brüllt er plötzlich.
Dann erläutert Schön mir die Seelenkämpfe, die er auszufechten hat: „Mein Lieber, das ist ein tragischer Konflikt. Griechische Tragödie und so. Konflikt der Pflichten in der Brust des Helden. Verstehst du? Hier meine Pflicht gegen die armen Eltern..."
Wiedemann brüllt vom Klavier aus dazwischen: „Die sitzen, ärmlich aber reinlich gekleidet, aufrecht im Bett und trinken gramzerfetzt kleine Helle."
„...und da die Burschenschaft. Tragischer Konflikt, mein Junge. Aber gibt es eine Wahl? Es gibt keine Wahl, sage ich dir. Hier: die Bitte meines Vaters, da: Freiheit, Ehre und Vaterland. Freiheit! Ehre! Vaterland!" johlt Schön und wirft sein Glas mit Erdbeerwein pathetisch an die Wand.
Ich bewundere die Seelengröße meines Bundesbruders Schön, und während Ringstedt sich aus dem Fenster erbricht, fallen alle, die überhaupt noch singen können, in das Lied ein, das Wiedemann am Klavier anstimmt: „Wo Mut und Kraft in deutscher Seele flammen..."
Und johlend vor Begeisterung und Betrunkenheit singe ich, während Wiedemanns Wirtsleute entsetzt an die Türe poltern, den Refrain mit: „Freiheit, Ehre, Vaterland!"

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