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Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
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VI.

Heute hatte Wilhelm Thiele schon eine ganze Reihe Häuser abgeklappert, ohne das geringste ergattert zu haben. Vom vielen Treppensteigen war er so müde, vor Hunger elend und schlaff. Völlig entmutigt, gab er alle weiteren Versuche, ein paar
Sechser zu erbetteln, für heute auf. Es war ja doch vergeblich.
Immer öfter, immer lauter hörte man die Menschen klagen und stöhnen: »Was sind das bloß für Zeiten. Es wird nicht besser und wird nicht besser.« Auch die Stammgäste des »Nassen Dreieck« jammerten verzweiflungsvoll; das Fechten brachte ja nicht einmal das Salz zum trockenen Brot. Die älteren Kunden schüttelten verständnislos ihre grauhaarigen Köpfe und murmelten niedergeschlagen, so etwas sei noch nicht dagewesen. Sie kramten ihre Erfahrungen aus und hielten Lobreden auf die gute Zeit, in der alles tausendmal besser gewesen sei als heute. Die jüngeren hörten staunend zu, misstrauten aber den Lobpreisungen ein wenig. In der Kriegs- und Nachkriegszeit meist als Proletenkinder herangewachsen, hatten sie wenig gute Tage in ihrem Leben kennen gelernt.
Dumpf brütend, schlenderte Thiele mutlos dahin, geriet in das Gewühl eines Wochenmarktes und ließ sich vom Strom der Marktbesucher hin und her treiben. Mit leeren Einholetaschen liefen die Frauen aufmerksam spähend von Stand zu Stand, in der Erwartung, die angepriesenen Waren beim nächsten Händler vielleicht einen Pfennig billiger kaufen zu können. Ein betäubender Redeschwall aus den heiseren Kehlen der Händler und ihrer Markthelfer umwogte die zögernde Menge der Käuferinnen. Hin und her rechneten diese im Kopfe und drehten den Groschen zehnmal um, bevor sie sich entschließen konnten, ihn auszugeben. In der durcheinander wogenden Menschenmenge
entdeckte Thiele ab und zu einen Bekannten aus dem »Nassen Dreieck«, der auf dem Markt herumlungerte in der Hoffnung, irgendwie und irgendwo ein paar Pfennige verdienen oder etwas Essbares ergattern zu können.
Aus dem Getriebe des Wochenmarktes wieder in eine der Zugangsstraßen einbiegend, bummelte Thiele ziellos diese entlang. Sie war nur drüben auf der anderen Seite bebaut, während auf der, wo Thiele ging, ein verwitterter, windschiefer Bretterzaun Schuppen und Lagerplätze von der Straße abgrenzte. Ein Stück weiter vor einer breiten Einfahrt hatte sich eine Gruppe von Vorübergehenden angesammelt und sah neugierig einem Vorgang zu, der sich hinter dem Zaune abspielte. Als Thiele hinzutrat, sah er vor sich einen langen, mit schwarzer Schlacke beschütteten, von tiefen Wagenspuren zerfurchten Weg, der von der Einfahrt weit ins Gelände hineinführte. Links und rechts des Weges sah er ein graues Durcheinander von Schuppen, Zäunen, Lagerplätzen, Schildern und Abladestellen, aus dem hier und da ein verkümmerter Baum seine schwarzen kahlen Äste, verkrampft zum Licht strebend, emporreckte. Weit hinten wurde diese trostlose Landschaft von den teergeschwärzten Giebeln vielstöckiger Mietskasernen abgeschlossen.
Etwa zehn Meter von der Straßeneinfahrt entfernt, gewahrte Thiele die Ursache der Menschenansammlung vor der Einfahrt. Ein Handwagen war zwischen einem Pferdefuhrwerk und dem rechts vom Wege befindlichen Drahtzaun fest eingeklemmt. Der Mann, der Thiele den Rücken zudrehte, mühte sich aus Leibeskräften, aber vergeblich, seine Karre freizubekommen. Wüst fluchte und schimpfte der Kutscher des Pferdegespanns. Der Mann am Handwagen brüllte wütend den Kutscher an. Dabei versuchte er aber immer aufs neue, seinen Handwagen vor- oder rückwärts loszubekommen. Der rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Als der Handwagenmann sich jetzt umdrehte, glaubte Thiele, ihn zu erkennen. Richtig! Das war ja der Schaler-Hermann, den er vor längerer Zeit einmal im »Nassen Dreieck« flüchtig kennen gelernt hatte. Er ging den Weg bis zum Wagen, wechselte ein paar Worte mit dem Alten und packte dann an. Gemeinsam hoben sie jetzt das Wintergestell des vollbeladenen Wagens etwas zur Seite und schoben dann mit vereinten Kräften nach vorn. Der Wagen war frei. Der Kutscher hieb auf seine Pferde ein und fuhr lärmend davon. Halb enttäuscht, halb befriedigt verlor sich die Menge der Neugierigen.
Schaler-Hermann hatte sich an seinen Wagen gelehnt und strich sich, nachdem er die Mütze abgenommen hatte, mit dem Jackenärmel über die schweißnasse Stirn. Sich zu Thiele wendend, stutzte er plötzlich:
»Wenn ick ma nich irre, kennen wir uns - aber natierlich! Wir ha'm uns doch neilich im >Nassen Dreieck< getroffen, nich wah?«
Er reichte Thiele seine riesige Reibeisenhand zum Gruß. Dann schlug er Thiele vor, ihm rasch beim Verkauf seiner Ware ein wenig zu helfen; er wäre dann schneller fertig, und sie könnten nachher zusammen einen trinken gehen. Jetzt erst sah Thiele die seltsame Ladung, die auf dem kleinen Wagen hochgetürmt verstaut war: Packen von gebündeltem Zeitungspapier, gebrauchte leere Flaschen, zerbrochene, halbverrostete Metallteile und obenauf ein altes eisernes Bettgestell!
Als sie den schweren Wagen auf dem schwarzen Schlackenweg ein ziemliches Stück entlanggezogen hatten und nun um eine Ecke bogen, bot sich Thieles Blicken ein Bild wie aus einer anderen, ihm unbekannten Welt, dar. Ganze Gebirge von alten Eisen türmten sich da hochauf, aus denen ein Gewirr von verbogenen Stangen, zerfressenen Rohren, Drahtgeschlingen und zerbrochenen Maschinenteilen, zerbeulten Kannen, Kochgeschirren und wer weiß, was noch alles, in wirrem Durcheinander hervorragten. Ein halbes Dutzend leerer Handwagen stand herum, während ihre Besitzer am Boden hockten und die abgeladene Ware eifrig sortierten. Einige von ihnen schleppten das bereits Sortierte zu einer großen Waage, die ein dicker Mann bediente, der auch gleich die paar Groschen an die Verkäufer ausbezahlte.
Mit seinem neuen Freunde, dem Schaler-Hermann, war Thiele nun schon seit mehreren Tagen gemeinsam auf Tour gegangen. Mit der raschen Anpassungsfähigkeit eines aufgeweckten, arbeitsfreudigen Menschen begabt, fand Thiele diese neue Beschäftigung immerhin viel angenehmer als die verfluchte Bettelei. Man war gewissermaßen sein eigener Herr und leistete eine produktive, für den Schrottgroßhandel sogar ganz unentbehrliche Arbeit. Treppensteigen und an die Türen klopfen musste er zwar nach wie vor. Aber wie ganz anders stand er den Öffnenden gegenüber, wenn er sie fragte, ob sie Knochen, Lumpen, Papier oder sonstigen alten Hausrat zu verkaufen hätten.
Freilich, gelernt sein musste diese Arbeit auch. Mit dem bloßen Kaufen war es nicht getan. Man musste so billig wie möglich einkaufen. Die Leute durften aber auch in ihren Erwartungen nicht zu sehr enttäuscht werden, damit sie einem ihre Kundschaft nicht entzogen. Auch Sachkenntnis war unbedingt erforderlich, wenn man durch falsche Einschätzung nicht Verluste erleiden wollte. Die verschiedenen Metallarten mussten auch unter der dicksten Oxydationsschicht erkannt, gegebenenfalls durch Anfeilen geprüft werden. Baumwolle musste von Wolle, Leinen von Halbleinen genau geschieden werden. Der Inhaber der Lumpenstampfe, der für den Schalkram an sich schon die allerniedrigsten Preise zahlte, pflegte sofort die Preise zu drücken, wenn er feststellte, dass die zu ihm gebrachten Lumpen oder Metalle nicht streng voneinander geschieden, sondern mit verschiedenen Sorten untereinander vermischt waren. Durch jahrzehntelange Erfahrungen gewitzigt, war Schaler-Hermann ein hervorragender Fachmann auf diesem Gebiet, den keiner so leicht »uff de Schippe« nahm. Stolz nannte er sich den Behörden und seiner Kundschaft gegenüber Produktionshändler, obwohl er eigentlich nur ein besserer Schaler war. Diesen Beruf als Schaler übte er nun schon über fünfundvierzig Jahre aus.
Ja, früher, da brachte dieses Geschäft noch was ein! Auf dem Wedding weit draußen an der Müllerstraße war die »Ablage« der städtischen Müllabfuhr. Dort suchten die Proletarierjungens aus der näheren Umgebung, besonders vom »Ochsenkopp« (einem Elendsquartier) und von »der Insel« (einem damals frei im Felde stehenden Häuserblock) nach Kohle. Beim Kohlesuchen fanden sie achtlos zum Müll geworfene Metallstücke, Knochen und andere Dinge, die sich zu Geld machen ließen. Schnell sprach sich das herum - und bald wimmelte die Abladestelle von Schaljungen. Ja, das waren noch Zeiten! Aber dann kam die Berliner Stadtverwaltung dahinter, dass man auch aus Müll Geld machen kann, und errichtete ein »Schal-Monopol«! Jetzt durfte nur noch gegen Abgabe von 30 Pfennigen »Schalgeld« pro Tag und Kopf dort im Müll gewühlt werden. Die Jungens mussten sich fügen und zahlten diese erzwungene Lizenzgebühr. Was sie über Tag zusammengeschalt, kaufte Lumpen-Krüger des Abends auf und schaffte es mit seinem eigenen Gespann fort.
Eine ganze Anzahl der Schaljungen blieb ihrer langgewohnten Tätigkeit auch dann treu, als sie aus der Schule entlassen und eingesegnet waren. Sie wählten das Schalen zu ihrem Beruf. Nur gingen sie jetzt bald nicht mehr zur Abladestelle, sondern direkt an die Quelle des Zuflusses. Sie durchwühlten die Müllkästen auf den Höfen der Wohnhäuser. So ersparten sie die 30 Pfennige Schalgeld!
Ü ber ganz Berlin erstreckten sich die Streifzüge dieser berufsmäßigen Schaler vom Wedding.
Allein oder zu zweien und dreien zogen sie täglich los und erwarben sich so ihren Lebensunterhalt. Des Abends kamen sie dann mit ihren mehr oder minder vollbeladenen Handwagen alle zur Mittelstraße, wo verabredungsgemäß der Aufkäufer mit seinem Fuhrwerk wartete und ihnen ihre Ware abkaufte. Wer die richtige Schaler-Spürnase hatte, verdiente manchmal recht gut. Vereinzelte unter ihnen, die schalten, was nicht niet- und nagelfest war, wurden im Laufe der Zeit selbst Aufkäufer; besonders Geschäftstüchtige brachten es bis zum eigenen Pferd vorm Wagen. Die meisten freilich blieben ihr Leben lang gewöhnliche Schaler und zogen ihre Handkarre selbst.
Thiele kam jetzt mit anderen Menschen zusammen als bloß mit Kunden und Pennern. Ein Schaler ist nun einmal kein Penner. Er weiß das auch genau und hält streng auf diese Unterscheidung -wenn er selbst auch noch zu wenig zu brechen und zu beißen hat.
Ins »Nasse Dreieck« kam Thiele in der letzten Zeit nur noch zum Schlafen. In den Schankräumen war er selten zu sehen. Eines Abends spät, als die Jalousien schon heruntergelassen waren und hinten alles schlief, hörte er plötzlich lautes Schreien aus dem Schanklokal zu sich herüberdringen. Er erkannte Muttchens angstverzerrte Stimme und sprang aus dem Bett auf, lief, so wie er war, mit dem Dicken Stern zusammen nach vorn, um nachzusehen, was geschehen war. Muttchen stand mit totenbleichem Gesicht der Toilettentür gegenüber an die Wand gelehnt. Unfähig, einen weiteren Laut herauszubringen, zeigte sie auf Befragen der beiden erstaunten Männer angstvoll nach der Tür, die zum Toilettenraum führte. Schnell riss der Dicke Stern dieselbe auf, fuhr aber entsetzt zurück und wurde ebenfalls käseweiß. Thiele, der ihm über die Schulter geblickt hatte, erkannte mit Schaudern: hinten am schmalen Fenster hing ein Mensch. Ohne zu zaudern, sprang er hinzu und schnitt ihn ab. Es war bereits zu spät! Auch der Arzt, den der Hausdiener inzwischen herbeigeholt hatte, konnte nicht mehr helfen. Der Tote, ein junger Mensch von etwa 25 Jahren, war allen Stammgästen des »Nassen Dreieck« unbekannt. Nur ganz flüchtig erinnerten sich einige, ihn ein paar Mal dort gesehen zu haben. In derselben Nacht noch wurde die Leiche abgeholt und ins Schauhaus gebracht.
Wieder ins Bett zurückgekehrt, konnte Thiele keinen Schlaf finden: das Bild des am Klosettfenster baumelnden Toten hatte er immerzu vor seinen Augen.
Acht Tage nach diesem traurigen Ereignis feierte man Weihnachten. Muttchen hatte einen Tannenbaum und das dazugehörige Flitterzeug spendiert. Die Gäste hatten ihn ausgeschmückt.
Am Heiligabend wurden die Lichter angezündet. Das flackernde Licht ließ halbdunkle Schatten über die herumhockenden Menschen huschen, geheimnisvoll glitzerte der bunte Flitterkram. Einige der Frauen bekamen feuchte Augen und fingen in Erinnerung an frühere Jahre an, ein sentimentales Weihnachtslied zu summen. Die Männer aber machten Witze und grölten mit, wobei sie die Melodie absichtlich in die Länge zogen. Da genierten sich die Frauen und hörten auf. Jemand drehte das Licht an, die Wachskerzen wurden ausgelöscht.
Alle waren froh, als die Feiertage vorüber waren. Das war nichts für arme Teufel wie sie, die von der Gebelaune anderer Menschen abhängig waren. Die anderen Menschen wollten am »Fest der Liebe« ihre Ruhe haben und nicht durch Bettler gestört werden. Für die Kunden waren Feiertage regelmäßig Hungertage und deshalb niemals willkommen.
Wilhelm Thiele war jetzt Tag für Tag mit Schaler-Hermann unterwegs. Sie verdienten fast nichts, die allgemeine Absatzkrise hatte auch ihr Geschäft erfasst und völlig lahm gelegt. Als man eines Tages über die schlimme Lage sprach, sagte der alte Hermann unvermittelt zu Thiele, dass er wüsste, wo man mal ein paar gute schwere Brocken »schalen« könnte, - allerdings müsste man ein Herz haben dazu.
»Wenn de mitmachen willst?« fragte er lauernd.
Thiele wollte Näheres wissen, aber Schaler Hermann wich aus: »Wenn't soweit is, wirste schon sehen...«
Einige Tage später war es soweit! Thiele wurde unterrichtet. Ihm war alles egal. Endlich mal ein paar Mark in die Hand bekommen, sich mal wieder richtig satt essen können; was hatte er denn schließlich zu verlieren?
Mit einem schweren Kastenwagen und mehre-
ren alten wollenen Decken und Lumpen versehen, fuhren sie spät abends los. Noch ein dritter, den Thiele öfters auf der Lumpenstampfe gesehen und unter dem Spitznamen Kalte Hand kennen gelernt hatte, gesellte sich ihnen zu. Er war noch jung und hatte ein forsches, fast verwegenes Aussehen.
In einer kleinen Kneipe hatten sie vorher jeder ein paar Schnäpse getrunken, »um bei det kalte Wetter een bißken inzuheizen«, wie der alte Schaler-Hermann erklärte: in Wirklichkeit aber, wie Thiele erkannte, um sich für das geplante Unternehmen einen Schuss Mut einzuflößen.
Die wenigstbelebten Straßen wählend und um jeden Polizisten und jede Laterne einen weiten Bogen machend, fuhren sie nach Moabit rüber. Nach etwa einer guten halben Stunde gelangten die drei an die Stelle ihres Vorhabens. In nächtlichem Dunkel ragte hinter einem Bauzaun ein riesiges Gerüst auf, das um eine Kirche errichtet war. Seltsamerweise hatte Thiele keine Spur von Angst. Er half gleichmütig, den Wagen in eine stockdunkle Ecke zu schieben. Von Hermann geführt, gelangten alle drei zu einer Stelle, wo eine ca. 50 cm hohe Turmglocke vor ihnen auf dem Boden lag. Weil sie einen Sprung hatte, war sie abmontiert worden. Der alte Schaler, der mit den Fingerknöcheln gegen die Glocke pochte, flüsterte ihnen aufgeregt zu: »Reene Brongseü!«
Schnell entschlossen packten alle drei zu. Die Glocke war schwer. Beim Anheben hatte Thiele das Gefühl, als würde ihm das Rückgrat brechen.
Ein paar Mal mussten sie wieder absetzen. Endlich aber hatten sie es doch geschafft. Die Glocke lag auf dem Wagen. Fix wurde sie mit den Decken gut verhüllt, und dann ging's wieder hinaus in die Nacht.
Auf großen Umwegen fuhren sie nach dem Norden, ein Stück Weges außerhalb Berlins. Auf freiem Felde hielten sie an. Schaler-Hermann hatte umsichtigerweise alles schon vorbereitet. Sie warfen die Glocke in eine Grube, die sie dann mit Brettern und den Decken schaldicht machten. Mit schweren Vorschlaghämmern schlugen sie abwechselnd auf das Metall ein, versuchten sie die Glocke zu zertrümmern. Es war eine mühevolle Arbeit. Endlich aber, nach mehrstündiger Arbeit, glückte es ihnen. Die ziemlich dickwandige Glocke war in mehrere Bruchstücke zerlegt. Diese wurden noch weiter zerkleinert, bis man kleine, leicht transportable Stücke hatte.
Wenige Stunden später wurde sie als Altmetall in der Lumpenstampfe verkauft. Als des Nachmittags die Kriminalpolizei auf die erfolgte Diebstahlsmeldung hin nachsuchen kam, war bereits alles restlos eingeschmolzen und nichts mehr zu identifizieren.
Als seinen Beuteanteil an diesem nächtlichen Raubzug erhielt Thiele einen Zwanzigmarkschein. Für seine jetzigen Begriffe war das ein »Haufen Geld«! Soviel auf einmal hatte er seit vielen, vielen Monaten nicht mehr in der Hand gehabt.
Nun brauchte er nicht mehr beim Ausgeben jedes Groschens gleich an das Morgen zu denken, konnte er sich endlich einige schon längst notwendige Kleinigkeiten an Wäsche anschaffen.
Zu keiner Menschenseele sprach Thiele über diese Nacht, auch nicht mit dem Dicken Stern, der sich über den plötzlichen Reichtum Thieles gar nicht weiter wunderte und auch nicht neugierig war, wie er dazu gekommen.
Thiele selbst wunderte sich allerdings einigermaßen über die Gleichmütigkeit, die ihn erfüllte, wenn er an das Geschehen zurückdachte. Eine solche Robustheit seines »Gewissens« hätte er gar nicht für möglich gehalten. Ach, wie wenig kennen die meisten Menschen sich selbst, und wie wenig ahnen sie, dass sie fast ausnahmslos zu allem, auch dem Abscheulichsten, Verwerflichsten fähig sind, wenn nur die Vorbedingungen zur Tat gegeben sind und die Macht der obwaltenden Verhältnisse unwiderstehlich drängt!!!
Die paar Mark waren schneller aufgezehrt, als Thiele es sich hätte träumen lassen. Um zu leben, musste er wieder mit dem alten Hermann durch die Stadt ziehen. Es waren aber nur Groschen, die das Geschäft einbrachte. »De Leite dragen jetzt die Lumpen selbst, die se frieher vakooft ha'm«, erklärte trübselig der alte Schaler-Hermann.
Dem Druck der schlechten Geschäftsverhältnisse nachgebend, hatte der bald wieder eine günstige Gelegenheit zu einem kleinen »Diebeken« ausbaldowert. Auch die Kalte Hand war wieder von der Partie.
Diesmal ging's nach einem Vorort hinaus. Im Garten einer Villa, die während des Winters unbewohnt und unbewacht war, standen auf dem Rande eines Springbrunnens bronzene Putten, die im Sommer mit gleichfalls bronzenen Meerweibchen ihre lustigen Wasserspiele trieben und hoch im Bogen blitzende Wasserstrahlen in das Becken spuckten. Die drei waren eifrig beim Abmontieren, als plötzlich ein Wasserstrahl hoch emporschoss. Zu ihrem Schrecken gewahrten sie, dass der Zufluss des Wassers nicht abgesperrt worden war. Nach kurzer Zeit standen sie schon bis an die Knöchel im eiskalten Wasser. Schaler-Hermann fluchte wie ein Teufel. Er sah aber ein, dass es zwecklos war, noch länger zu bleiben. Schnell brachen und schlugen sie mit vereinten Kräften die ihnen am nächsten stehenden Figuren ab, warfen sie auf den mitgebrachten Wagen und machten dann schleunigst, dass sie fortkamen. Die drei Männer stellten den beladenen Wagen auf Schaler-Hermanns Laubengrundstück unter; dann gingen sie in die schiefe Holzbude hinein. Hermann machte im Ofen Feuer an. Als es brannte, hockten sich die drei herum, um die immer noch nassen Kleider am Leibe zu trocknen.
Dem Wilhelm Thiele war das Abenteuer in die Knochen gefahren. Er war nach der ausgestandenen Angst heilfroh, dass er jetzt hier sicher in der Bude hockte. Mit blassem Gesicht saß er da und stierte ins Feuer.
Die Kalte Hand zog Zigaretten hervor - und reichte Thiele eine hin - sagte so nebenbei:
»Det bißken heute, scheint dir ja ganz scheen in die Rippen jefahren zu sin - oller Freind.«
Als Thiele nichts erwiderte, fuhr die Kalte Hand fort: »Dir fehlt ebent die Jewohnheit, mein Junge
- Jewohnheit. - Wenn du det hinter dir hätt'st wie ick, na Mensch, denn würde dir so'n kleenet Abenteier bloß Laune machen.«
Die Kalte Hand drückte das Feuer ihrer Zigarette aus und steckte den Kippen in die Tasche, dann erzählte sie weiter: »Da ha ick als Lausejunge schon janz andere Sitatsjohnen hinter mir jebracht.
- Ick war euch mal een Ding erzehl'n, det ick mit zwee andre Halbstarke verzappt habe.
Icke, der Bruch-Artist un der Kesse Emil. Wir hatten als Jungs alle keene Bleibe un zijeunerten in Baiin rum. Nischt war vor uns sicha! An de Schusterkellas, wo >uffjewärmte< Trittchen (ick meene jetragene Schuhe un Stiebel) vor de Ladendier hingen, schnipperten wia die frech am hellichten Dage ab! Zuletzt hingen die Schuster bloß noch lauter rechte oder lauter linke Trittchen raus. Aba ick wollte da ja azehln, wat wa mal forn besonders frechet Ding jedreht ha'm. Also pass uff! Da war in eener Straße een Kleiderjude, der hatte een Ladenjeschäft un direkt daneben noch een Kellajeschäft
- beedet for Monatjadrobe. Meestens stand der Jude nu vor seinen Laden, manchmal ooch in de Ladendier. In den Kella war keen besondrer Verkäufer. Det hatten wir spitzjekriecht un ooch ausbaldowert, det de zweete Kellastufe von oben mit 'ne elektrische Klingel vabunden war. Eenes Mittachs hatten wia uns entschlossen, in den Kella zu schleichen un uns da neu inzupuppen. Wie wa also sehn, det der Jude im Laden steht, so det er den Kellaeinjang nich sehn kann, jehn wir drei, der
Kesse Emil voran, an de Häuser lang un--------
husch runter in den Kella. Ieba die Stufe mit de Klingel ha'm wia natierlich riebajetretn. Der Jude hatte nischt jemerkt. Uff die eene Seite aba war 'ne Öffnung hinter den Jadrobenstender, - da jing et in eenen Kohlnkella. Also da rutschen wir alle drei rasch in diesen Kohlnkella un vasteckten uns da. Der Kesse Emil schleicht raus, sieht, ob de Luft reen is, un holt denn jenau nach Jröße 46 fier jeden eenen elejanten Anzug un dazu een >Iber-mann<, det is een Paletoh! Die Kluft ziehn wir uns in unsa Vasteck sofort an. Denn jeht det freche Luda noch mal raus un holt noch for jeden een Anzug zum Einpacken un Mitnehm! Un nu kommt det Scheenste! Wie wa nu uffn Sprung stehn, um wieda raus zu komm aus die Löwenhöhle, - da sehn wa, det der Jude uff de Straße vor'n Laden steht un nich weicht! Iber zwee Stunden saßen wir jetzt schon da unten. Da fängt der Bruch-Artist plötzlich so richtig herzhaft an zu beten: >Lieba Jott, sei so jut un lass uns noch eenmal jlicklich rauskomm!!!< Wir andern beeden fangen laut an zu lachen. Der Bruch-Artist bleibt aba doternst un vasichert, det Beten immahin noch helfen konnte. Un er behielt recht! In detselbe Haus neemlich, wo det Kleiderjeschäft war, befand sich eene Steindruckerei, die jerade bestreikt wurde. Vor de Tür standen den janzen Dach drei Streikposten. Wie nu um halbe finfe die Streikbrecha de Fabrik valassen wolln, jab et uff de Straße jroßen Klamauk. Woll an de Hundert Menschen liefen zusamm und bildeten vor den Kella, wo wir drei Stipper drinsaßen un nich rauskonnten, eenen mechtigen Uffloof! Det war unsere Rettung! Ohne von irjendwen beachtet zu wem, kamen wir de Kellatreppe ruff un schoben uns in det Jedrenge. Denn vadufteten wir uns aber schnell.
Als det unsere Kollexe hörten, wat wir da jemacht hattn, habn se uns bestaunt. Wie richtigjehnde Helden kamen wir se vor! Einige wurden aba neidisch uff die feine Kluft un wollten sich ooch uff diese billige Weise nei inpuppen. Ick un der Bruch-Artist hatten de Neese voll. Die drei Stunden da unten warn uns doch een bißken zu sehr an de Niern jejangen. Der Kesse Emil hätte aus lauter Abenteierlust die Tour woll noch eenmal riskiert: aba - die Sache hatte een Haaken! In unsrer Angst hatten wir da unten in Kella so'n deemlichet Jefiehl in'n Magen gespiert un, - um unsere neien Hosen zu schonen, hatten wa uns alle drei in eene Ecke hinjesetzt und unserem bedrängten Herzen in iebelriechender Weise Luft jemacht. Der Kesse Emil, der immer an die Spitze war, arjumentierte nur so: >Wenn der Jude schließlich ooch nich jleich sieht, det die Anzüge fehlen, - riechen wird er et aba bestimmt, det da unten etwat faul is!!!< «
Wilhelm Thiele hatte mit steigender Aufmerksamkeit zugehört. Als die Kalte Hand jetzt fertig war, platzte er los und lachte so, dass ihm die Kinnladen weh taten. Auch der alte Schaler kicherte vergnügt vor sich hin.
Man blieb bis morgens beisammen. Dann, als es
schummrig wurde, suchte Thiele das »Nasse Dreieck« auf.
Am Nachmittag konnte er wieder mit Silberstük-ken in der Tasche klimpern. Ein wenig hatte sich die Sache also doch gelohnt.
Zwei Überraschungen auf einmal erlebte Thiele, als er an einem der nächsten Abende in das »Nasse Dreieck« zurückkehrte. Die erste bestand darin, dass Muttchen ihm einen Brief aushändigte, der bei ihr für ihn abgegeben war. Mit erstaunten Blicken betrachtete er ihn von allen Seiten. Wie der Poststempel und die Anschrift erkennen ließen, war der Brief in Elbing aufgegeben und an seine frühere Adresse gerichtet worden. Viele andere Stempel und Notizen auf der Vorder- und Rückseite des Briefes bewiesen, dass er fast durch ganz Berlin gewandert war. Sicher von meiner Frau, dachte Thiele und war auf den Inhalt gar nicht neugierig. In Wirklichkeit aber war es das Schreiben eines Elbinger Rechtsanwalts, der ihm mitteilte, dass Frau Thiele sich von ihrem Manne scheiden lassen wollte und um seine Einwilligung bat. Ohne tiefere Bewegung steckte Thiele den Brief in seine Brusttasche; er wollte ihn morgen beantworten.
Und dann kam die zweite Überraschung. Als er sein Logis aufsuchen wollte und durch den finsteren Schankraum ging, hörte er jemand seinen Namen rufen. Er blieb stehen und sah sich um. Zu seinem größten Erstaunen erkannte er den Zahmen Willi, der mit der Einäugigen friedlich in einer Ecke am Tisch saß. Unverkennbar war der Zahme wirklich erfreut, und auch die Einäugige hatte ein Lächeln im Gesicht, als sie beide ihrem verflossenen Schlummergefährten die Hand zum Gruß reichten. Dieser bestellte sich ein Bier und setzte sich zu ihnen. Nur schleppend kam ein Gespräch in Gang. Sie sprachen schließlich über alles mögliche, nur nicht über die eigenen Erlebnisse während der Zeit ihrer Trennung. Das Gesicht der Einäugigen sah noch runzliger, staubiger aus als vordem. Der Zahme hatte sich kaum verändert; nur die Augen schienen nicht mehr so recht zu wollen. Sie hatten wohl damals durch den Brennspiritus etwas abbekommen. Lange saßen die drei beisammen. Als Muttchen Schluss gebot, zog der Zahme mit seiner Begleiterin davon. Sie wollten sehen, ob ihr früherer Boden noch zugänglich war. Die Hausbewohner, meinten sie, hätten die Sache von damals doch längst vergessen.
Die anscheinend besonders befähigte Spürnase des alten Schaler-Hermann hatte eine neue Gelegenheit ausfindig gemacht, wo wieder Metall (sein beliebtester Handelsartikel!) zu krampfen war. Diesmal handelte es sich um Kupfer, und zwar nicht bloß um ein paar lumpige Kilos, sondern um mehr, als sie wegschaffen konnten.
Schon am hellen Nachmittag wurde der Wagen in die Nähe des Tatortes gebracht und im Walde hinter Buschwerk versteckt. Bis zum Einbruch der Dunkelheit schlenderten die drei Männer im Walde herum. In harmloser Freude bewunderten sie die ersten Knospen am Gezweig der Sträucher und Bäume; sahen belustigt einem Eichhörnchen nach, das unabsichtlich von ihnen aufgescheucht worden war und nun, in großen Sätzen davoneilend, mit fabelhafter Behendigkeit einen hohen Baum erkletterte. In halber Höhe des Stammes blieb es hocken und schaute neugierig auf die Männer hinab, die in die Hände klatschten und sich kindlich freuten, wie das braune Kerlchen schleunigst im Geäst verschwand, sie dabei mit einem Regen von trockenem Gezweig überschüttend.
Die hochragenden Stämme der Laubbäume weckten andächtige Bewunderung in ihnen. Mit einem gewissen Mitleid betrachteten sie aufmerksam eine verkümmerte Tanne, der die dichten Wipfel der größeren Brüder fast jede Entfaltungsmöglichkeit genommen hatten. Alles, was sie rings um sich sahen, kam ihnen so neu, so bewundernswert vor. Thiele fragte sich im stillen, wie lange es eigentlich schon her sei, dass er in einem Wald gewesen war. Er konnte sich gar nicht mehr darauf besinnen. Die sonst ziemlich kesse Kalte Hand wurde ganz melancholisch:
»Wenn ick mir so bedenke, wie scheen det allens is - wie so'ne feine jroße Halle-, ordentlich feierlich wird eenen da zumute. Wisst ihr, wenn man hier so alleene Spazierengehen kann, kommt man sich so jut vor, keene fremde Menschen - bloß Bööme un Bööme -, Kinders, ick kann eich janich sagen, wat man da fier een Gefiehl hat. Man mechte hier janz in sich rinkriechen un nischt mehr sehn von de dreckige Welt da draußen... «
Auch der Schaler-Hermann war nachdenklich
geworden und fing an, in seinen Erinnerungen zu kramen:
»Ja, Kinders, wenn ick so dran denke - damals, als ick noch so'n Junge war, - na, wie alt war ick? -so Sticker zehn Jahre valeicht - da zogen wir mit Muttan immer raus nach Tegel, Besinge suchen-, manchen Dag finfenzwanzig Liter-, aber den janzen Dag ha'mer jeflickt, bis uns der Puckel wehdat un bis et dunkel wurde. Dunnenmals wa da draußen noch der richtige Urwald - keenen sennijen Menschen bejejnete man den janzen Dag, man wa mutterseelenaleen. Un de Beeren, un die Vefferlinge, da kennt ihr eich ja keen Bild nich von machen, so dicht standen die. Abends jings denn miede nach Baiin zurück. De Straßenbahn fuhr ja noch nich, bloß der Ferdebus ging bis nach Tejel. Det Jeld reichte ooch janich, um alle fahren zu lassen; bloß Mutta fuhr, un wir drei Jungs liefen nebenher bis nach Berlin rin.«
Langsam war es Abend geworden. Im Walde machte sich die Kühle unangenehm bemerkbar. Die drei gingen in eine nahegelegene Kneipe und tranken ein paar Schnäpse. Als es dann richtig dunkel geworden war, kehrten sie zum Wald zurück. Der Wagen wurde hervorgeholt und zum »Arbeitsplatz« geschafft. Mitten durch den Wald führte die Starkstromleitung einer weitabgelegenen Kraftzentrale. Steil ragten die Eisenkonstruktionen, welche die Drähte trugen, empor. Etwa alle 30 Meter stand ein solcher Turm. Die Stromleitung sollte erst im nächsten Monat in Betrieb genommen werden. Hermann hatte sich genau orientiert. Vorläufig wurde der Strom noch nicht eingeschaltet; Gefahr war also nicht vorhanden.
Thiele und die Kalte Hand erkletterten einen der Eisentürme. Alles war in tiefste Dunkelheit gehüllt; der Himmel war tief schwarz; kein Stern war zu sehen. Schaler-Hermann konnte die beiden Gestalten dort oben kaum unterscheiden. Heftig pfiff den beiden der Wind um die Ohren. Sie arbeiteten fieberhaft. Mit Metallsägen zerschnitten sie die ziemlich starken Drähte der Drehstromleitung. Pfeifend sausten diese durch die Luft und schlugen klatschend auf den Erdboden. Eilig kamen die beiden herab und erstiegen schnell den nächsten Turm. Schaler-Hermann rollte inzwischen die herabgefallenen Drähte zu einem großen Ring zusammen, den er auf den Handwagen verlud. Derselbe Vorgang wiederholte sich mehrere Male. Dann fuhren die drei in Schweiß Geratenen eilig, aber mit der nötigen Vorsicht davon. Die Sache hatte sich gelohnt.
Der Appetit kommt beim Essen. Alles hatte so gut geklappt, dass sie beschlossen, es noch einmal zu wagen. Was man hatte, das hatte man.
Vorsichtig hinanschleichend, überzeugten sie sich am nächsten Abend, dass am Schauplatz ihrer vornächtlichen Tätigkeit keine Bewachung ausgestellt worden war. Alles war ruhig und kein Mensch zu entdecken. Der Diebstahl war also noch nicht bemerkt worden. Sie konnten unbesorgt sogleich wieder ans Werk gehen. Wieder wie gestern stiegen die Kalte Hand und Thiele nach oben, während der alte Schaler-Hermann unten wartete, bis die ersten Drähte herunterfallen würden.
Kaum hatte die Kalte Hand, die Thiele einige Meter voraus war, die Metallsäge angesetzt, als ein Schrei durch die Nacht schrillte. Ein Schrei - so unmenschlich, so entsetzenerregend, dass er den beiden anderen bis ins Knochenmark drang. Völlig gelähmt, klammerte sich Thiele an die Eisenkonstruktion und stierte verständnislos nach oben, wo es in bläulichen Flammen sprühte und zischte und im gleichen Augenblick ein widerlicher Geruch von verbranntem Fleisch zu ihm herabwehte. Und dann sauste ein schwarzer Klumpen an ihm vorbei zur Erde. Unten klatschte es dumpf und schwer auf. Mehr rutschend als kletternd, flüchtete Thiele nach unten. Das leichenblasse, angstverzerrte Gesicht des ebenfalls vor Schreck erstarrten Schaler-Hermann sah er neben sich durch die Finsternis geistern.
»Kinder, Kinder, - so een Unjlick, - nee so wat, - wat solln wa jetz bloß machen? Ach du lieber Jott nee, - wie is det bloß meejlig, - uff meine ollen Dage muss mir det passieren, - nee, nee, nee, nee... «, jammerte fassungslos der alte Schaler und hielt verzweifelt seinen Schädel zwischen den Händen.
Zögernd gingen die beiden zu der Stelle, wo der schwarze Klumpen lag. Mit zitternden Händen strich der Alte ein Streichholz an und leuchtete dem Abgestürzten ins Gesicht. Es war ein furchtbarer Anblick. Das Kopfhaar und die Augenbrauen waren völlig abgesengt. Schwarze Flecken und Streifen gaben dem Gesicht ein entsetzenerregendes Aussehen. Ein ekler Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihnen unabwehbar in die Nasen. Als Thiele das Jackett des Verunglückten berührte, fühlte er zu seinem Schreck: der Stoff zerfiel wie Zunder in seiner Hand!!!
Beide Männer wussten, dass die Kalte Hand tot war; aber keiner wagte, es dem anderen zu sagen. Sie aber mussten jetzt machen, dass sie schleunigst verschwanden, sonst konnten sie in »Teufels Küche« kommen. - Der Kalten Hand war ja doch nicht mehr zu helfen.
Thiele hatte alle Überlegung verloren. Er stolperte hinter dem alten Schaler-Hermann her, der zum Wagen eilte. Bloß fort von hier - weg - so schnell und so weit wie möglich weg! Die beiden fuhren durch den Wald, als ob die »Polente« schon hinter ihnen wäre. Etwas erleichtert atmeten sie auf, als der Wald hinter ihnen lag, die erste Straße erreicht war.
Kein Mensch war zu sehen. Alles war stockdunkel. Lärmend ratterte der Wagen auf dem Kopfpflaster durch die Ruhe der schlafenden Stadt. Im Eilschritt trotteten die beiden Männer mit ihrer Karre dahin. Ganz leer, wie ausgebrannt war es in ihrem Innern.
Endlich war der Norden erreicht. Noch ein kurzes Stück, dann hatten sie ihr vorläufiges Ziel erreicht. Der Wagen wurde untergestellt. Nur wenige Worte sprachen sie und gingen dann auseinander. Man hatte rasch verabredet, dass Thiele sich vorläufig, bis etwas Gras über die Sache gewachsen sei, beim Schaler-Hermann nicht sehen lassen sollte. Man konnte nicht wissen, was noch alles nachkäme.
In sich zusammengesunken schlich der alte Schaler seiner Bleibe zu, immer wieder murmelte er vor sich hin: »Nee, nee, so wat - det mir det noch uff meine ollen Dage passieren muss... «
Auf einer Parkbank sitzend, wartete Thiele, bis es hell wurde; dann ging er zum »Nassen Dreieck«, wo gerade die Jalousien hochgezogen wurden. Als er eine Stunde später wieder auf die Straße trat, blickte er sich scheu und ängstlich um. Er hatte drinnen alles rasch in Ordnung gebracht; seine paar Habseligkeiten hatte er dem Dicken Stern in Verwahrung gegeben.

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