Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
http://nemesis.marxists.org

IX.

Die Zeit verflog wie ein Rauch. Im »Nassen Dreieck« saßen die hungrigen Kunden mit ihren Schicksen und bliesen Trübsal. Überall, wo ein paar Menschen zusammenstanden, hörte man dieselben Klagen:
»Drüben der Zigarrenhändler ist auch kaputt... und'n Stück weiter, der Grünkramhändler auch, und der Abzahlungsfritze an der Ecke hat gestern auch den Laden zugemacht.«
»Nanu, der? Der war doch fast 'n Menschenalter da drin?! Nee, nee, immer einer nach dem andern... «
Die Proletenkinder hatten ein neues Spiel ausfindig gemacht: Sie liefen durch die Straßen und zählten die leeren Läden, die das rote Plakat »Zu vermieten!« an den Scheiben kleben hatten. Als sie es in einigen Straßen bis auf dreistellige Zahlen gebracht hatten, wurde ihnen die Sache langweilig, sie gaben das Spiel auf.
In den Mietskasernen redete man nicht mehr viel. Nur noch ein dumpfes Stöhnen machte sich öfter und öfter Luft. Die Menschen fraßen den Groll verbittert in sich hinein: Bis an den Hals damit voll gestopft, liefen sie stumpf brütend umher. Sie brüllten nicht, denn das war ja verboten. Eilig flitzten die Polizeiautos durch die Straßen der Arbeiterbezirke, überall ausspähend, ob nicht das unter der Asche glimmende Feuer der Verzweiflung irgendwo schon, zur Flamme entfacht, emporzüngelte. Wenn die Hupen dieser Bereitschaftsautos schrill ertönten, flackerten die fiebrigen Augen der Hungernden ängstlich oder - wurden plötzlich wie geschliffener Stahl: hart und kalt! Zwischen den zusammengepressten Zähnen quetschten sie es heraus:
»Es wird schon mal anders kommen, jawohl, es wird schon mal.«
Wenn es irgendwo an die Wohnungstüren klopfte, gingen die Leute schon gar nicht mehr hin. um aufzumachen. Det is ja doch bloß een Bettler!, so sagten sie sich, durch tägliche Erfahrung gewitzigt.
Die Bettler aber gingen auf die Straße und Hefen hinter den besser gekleideten Passanten und jammerten:
»Bitte, bitte, liebe Dame, - bitte, bitte, lieber Herr, schenken Sie mir 'ne Kleinigkeit!!!«
»Skandal! Unerhörte Zustände!« schimpften die
Satten und fluchten auf die Polizei, die solche Belästigungen nicht verhinderte. Diese war indes durchaus nicht untätig. Sie veranstaltete Razzien in größerem Ausmaß, nahm an einem einzigen Abend Hunderte von Bettlern fest, die sie dann nach einer scharfen Verwarnung am andern Tage wieder laufen ließen. Manchmal wäre einer dieser armen Teufel froh gewesen, wenn sie ihn für ein paar Wochen eingesperrt hätten. So musste er mit knurrendem Magen wieder in das kalte Elend der Obdachlosigkeit hinaus.
Es ging immer weiter. Die Not der Masse wuchs von Tag zu Tag, und mit ihr die Verzweiflung. Draußen im Westen waren sie wiederholt über ehrsame Bürger auf offener Straße hergefallen. Man hatte diese nicht beraubt, doch misshandelt, weil sie den ungestüm Fordernden keine Gabe reichen wollten. Die Presse schlug Lärm und forderte energisch ausreichenden Schutz für den Bürger.
In den Arbeitervierteln standen hungernde Menschen mit brennenden Augen vor den Auslagen der Geschäfte. Sie stierten auf all die Dinge, die da zum Kauf angeboten wurden, von ihnen aber nicht gekauft werden konnten. Äußerlich zwar noch ruhig, knurrten sie innerlich wie angekettete Hunde, denen man das Futter in verlockender Nähe vor die Nase hält, es ihnen aber doch nicht gibt.
Thiele lebte jetzt schon einen Monat mit der Schwarzen Minna zusammen in ihrer Bude. Mit Mühe und Not hatten sie die zwölf Mark Miete zusammengekratzt. Voll staunender Bewunderung
sah er, wie diese Frau ihre kleine Stube liebte, wie sie sich die erdenklichste Mühe gab, alles ein bisschen schön zu machen, den öden Raum wohnlicher, anheimelnder zu gestalten. In qualvoller Sehnsucht verzehrte er sich nach Arbeit und Verdienst. Im Bewusstsein eines Unvermögens, der Frau wenigstens ein bisschen was vom Leben bieten zu können, litt er unsäglich und zerbrach fast darunter. Sie waren doch so furchtbar anspruchslos, wollten nicht viel. Nur so ein ganz klein wenig Menschsein... Das Allernotwendigste hätten sie gern haben mögen!
Verstohlen betrachtete er mitunter seine Hände und stellte fest, wie weich, wie empfindlich sie geworden waren. Seine Muskeln wurden vom Nichtstun und schlechten Fraß von Tag zu Tag schlaffer. Dann bekam er wahnsinnige Angst. Habe ich überhaupt noch Mut und die Kraft und die Ausdauer, um schwere körperliche Arbeit verrichten zu können?
Dieses zermürbende Grübeln über das Heute und Morgen jagte ihn tagsüber ruhelos umher, verfolgte ihn bis in die Nacht und raubte ihm den Schlaf.
Oft, wenn er sich so mit offenen Augen in seinem Bette herumwälzte, hörte er in der Küche nebenan die Wirtin rumoren, die sich irgendeinen Mann gekapert hatte. Manchmal war so ein Kerl betrunken und fing dann auch noch an zu schimpfen und zu spektakeln. Angeekelt zog Thiele sich dann die Bettdecke über die Ohren, um von all diesem Mist nichts mehr zu hören.
Zuweilen kam es vor, dass Frau Kneschke mitten in der Nacht, wenn die anderen Hausbewohner friedlich schliefen, einen Tobsuchtsanfall bekam. Dann schrie sie in gellenden Tönen:
»Die Hunde verfluchten, - mit de Axt hau ick se vor'n Kopp, et sinn doch meine Kinder, et is doch mein Blut!«
Hatte sie sich in dieser entsetzlichen Weise ausgetobt, dann fing sie an zu ächzen und zu stöhnen. Allmählich nur wurde sie ruhiger, so ruhig friedlich, dass die Schwarze Minna Angst bekam und aufstand, um nachzusehen, ob die Frau in der Küche noch am Leben sei. In solchen Nächten biss sich Thiele in hilfloser Qual die Lippen blutig und hämmerte mit den Fäusten gegen seinen Schädel, dass es Beulen gab.
Ein paar Mal, als er unerwartet nach Hause kam, traf er Frau Kneschke in seiner Stube an, wo sie sich mit der Schwarzen Minna unterhielt. Sobald sie ihn sah, wollte sie scheu verschwinden. Er empfand tiefes Mitleid mit dieser vergrämten Frau.
Obgleich sie erst Anfang Vierzig war, schien sie körperlich und seelisch ein vollkommenes Wrack zu sein. Ihr Gesicht war ohne jede Farbe. Tiefe Furchen durchzogen es und zeugten von Gram und Entbehrungen.
Vorübergehend hatte man sie in einer Irrenanstalt untergebracht. Nach ihrer eigenen Erzählung sollte der Arzt nach beendeter Untersuchung und Beobachtung gefragt haben: »Was soll ich mit der Frau?«
In dem Krankenbericht der Pflegerin hieß es:
»Sie ist sonst ganz vernünftig, nur des Nachts schreit sie unablässig nach ihren Kindern.«
Wo waren ihre Kinder? Man hatte sie ihr weggenommen, als sie damals, nach dem plötzlichen Tode ihres Mannes, vor dem Verhungern stand und aus Verzweiflung den Gashahn geöffnet hatte. Die Mitbewohner des Hauses waren durch den Gasgeruch aufmerksam geworden und hatten die Wohnung gewaltsam aufgebrochen. Das jüngste Kind war bereits tot. Die übrigen drei und die Mutter selbst konnten gerettet werden.
Dieser Verzweiflungstat wegen erklärte man sie für verrückt. Ein normaler Mensch tut so etwas doch nicht!
Nach ihrer Entlassung aus der Heilanstalt versuchte sie ein ganzes Jahr lang, den Aufenthalt ihrer Kinder ausfindig zu machen. Die zuständigen Behörden verweigerten ihr jede Auskunft.
Als sie die Kinder endlich fand, waren es nur noch zwei. Bei einer so genannten Ziehmutter machten diese beiden das Dutzend der zu Erziehenden voll. Das dritte Kind war inzwischen an Tuberkulose »eingegangen«.
Dieser von einem wahnsinnigen Leben zermürbten und zerschlagenen Frau war das Leben zu einer unerträglichen Last geworden. Immer wieder versuchte sie, es abzuwerfen, sich davon zu befreien. In einem Jahr dreimal hintereinander. Aber sie hatte auch darin Pech, jedes Mal wurde sie »gerettet«.
Wenn sie mit der Schwarzen Minna über diese schrecklichen Erlebnisse sprach, quollen ihr förmlich die Augen aus den Höhlen heraus, ihr Blick wurde starr und leer.
Für Thiele und Minna machte sich die allgemeine Not jetzt immer härter fühlbar. So manchen Tag hatten sie nicht einen einzigen Bissen im Magen. Viele von den Menschen, die früher was übrig hatten, waren froh, wenn sie jetzt die Stullen und sonstige Überbleibsel selbst essen konnten. Beim Fechten war also fast gar nichts mehr zu holen. Andere Verdienstmöglichkeiten mussten ausfindig gemacht werden.
Mit dem Zahmen Willi zusammen hatte Thiele neuerdings einige Male des Nachts von auswärts Blumen geholt, - natürlich »weggefunden«! Die Sache war nicht immer ganz ungefährlich. Da galt es manchmal, hohe eiserne Staketzäune zu übersteigen, ohne sich die letzten paar Lumpen, die sie am Leibe trugen, noch vollends zu zerreißen. Dann wieder hieß es alle Findigkeiten aufbieten, um nicht auf Selbstschüsse oder in Fußangeln zu treten, mit denen die Grundstücksbesitzer in dieser unruhigen Zeit ihre Gärten zu sichern suchten. Früher hatte der Bluff der bloßen Warnungstafeln genügt, heute aber zog der nicht mehr.
Hatten die beiden nun unter gefährlichen Umständen einen Korb voll Blumen zusammenstiebitzt, so machten sie kleine Sträuße daraus. Die versuchten sie am anderen Vormittag vor dem Wochenmarkt zu verkaufen. Ging das Geschäft gut, verdienten sie bestenfalls ein paar Mark dabei. Nur wenige Marktbesucher konnten es sich in dieser Notzeit noch leisten, für solche nicht durchaus notwendigen Dinge einen Groschen oder zwei auszugeben.
Heute hatte Thiele schon ziemlich frühzeitig ausverkauft. Eine ganze Mark und siebzig Pfennige klimperten in seiner Tasche. Verhältnismäßig froh gestimmt, wie er war, wollte er seiner Minna eine kleine Freude machen. Bei einem Straßenhändler kaufte er ein Pfund Pflaumen und lief damit schnell los, er wollte nach Hause.
Unterwegs bemerkte er vor sich auf dem Bürgersteig einen Mann, der wie ein Betrunkener hin und her torkelte. Plötzlich blieb der Mensch auf dem Fleck stehen, warf die Arme hoch in die Luft und brach dann lautlos in sich zusammen. Sofort sprangen einige Passanten hilfsbereit hinzu, andere aber warfen kaum einen Blick zur Seite, trotteten unbekümmert weiter.
»Ist ja doch bloß'n Besoffener!«, so dachten sie wohl bei sich.
Regungslos wie ein Toter lag der Mensch auf der Straße. Man hatte ihn rasch auf den Rücken gelegt. Jemand hielt ihm den Kopf etwas hoch. Jetzt sah man, dass es ein ganz junger Mensch war, kaum zwanzig. Grünblass schimmerte sein eingefallenes Gesicht. Aus dem halbgeöffneten Mund quoll weißer Schaum.
Ein Junge rannte zur nächsten Kneipe, um telefonisch einen Arzt herbeizurufen. Der Schupo auf der anderen Seite war aufmerksam geworden und kam mit ruhigen Schritten über den Fahrdamm. Als er die Gruppe der herumstehenden Menschen erreicht hatte, warf er einen Blick auf den am Boden Liegenden und forderte die Leute auf, weiterzugehen.
In der Nähe blieben die Menschen aber wieder stehen und bildeten kleine Gruppen. Thiele hörte, wie ein elend aussehender Mann sagte:
»Das kenne ich - ganz genau sogar-, das ist Hunger! Da wird einem so plötzlich dunkel vor den Augen, und plumps liegt man auf der Nase! Mir ist das schon öfter so ergangen!«
Der inzwischen eingetroffene Arzt beugte sich über den noch immer bewegungslos Daliegenden. Trotz des Schupos kamen die Umstehenden wieder näher heran. Der Arzt hatte seine Untersuchung beendet und richtete sich auf. Hilflos schüttelte er den Kopf. Dann rüttelte er den Kranken an der Schulter und rief ihn an:
»Hallo, Sie, junger Mann! Wie lange haben Sie nichts gegessen?«
Der Kranke musste verstanden haben. Ohne die Augen zu öffnen, lallte er etwas. Es war nur ein Wort gewesen, das der Arzt jetzt wiederholte: »Hunger!«
Den Frauen schoss das Wasser in die Augen, die Männer aber bissen fest die Zähne zusammen und drehten ihre Gesichter ab.
Hunger! Das Wort wirkte wie ein Peitschenhieb, von einem Unsichtbaren mit brutaler Gewalt ausgeteilt: Hunger!!!
Eine Frau nahm rasch ihrem Jungen die Mütze vom Kopf und lief von einem der Umstehenden zum anderen, um etwas zu sammeln. Kleine Münzen warfen die Leute hinein. Auch Wilhelm Thiele, der es in sich kochen fühlte, legte einen droschen dazu. Ein altes verhutzeltes Mütterchen hatte eine Tasse warme Milch gebracht, die man dem armen Kerl vorsichtig einflößte. Sein Magen aber vermochte nichts mehr anzunehmen, er gab jeden Schluck sofort wieder von sich.
Der Schupo hielt eine Autotaxe an, in die man den bewegungslosen Körper hineinlegte. Der Polizist nahm neben dem Kranken Platz und rief dem Fahrer zu: »Zum Virchow-Krankenhaus!«
Die Menschen sahen dem Auto nach, bis sie es aus den Augen verloren hatten, dann zerstreuten sie sich nach allen Seiten.
Thiele ging neben zwei Arbeiterfrauen einher und hörte, was sie miteinander sprachen:
»Es war doch ein ganz junger Mensch - und so sauber angezogen, er muss in einem Alter mit meinem jungen sein... «
Ganz mutlos niedergeschlagen setzte Thiele seinen Weg nach Hause fort. Der Schwarzen Minna erzählte er von dem Erlebnis nichts.
Da Thiele jetzt polizeilich gemeldet war, wurde ihm eines Tages ein Brief zugestellt, der schon längere Zeit auf der Post gelegen hatte. Daraus erfuhr er, dass er von seiner Frau geschieden worden war. Der Minna sagte er zunächst kein Wort davon. Erst abends, als es schon dunkelte und das Talglicht angezündet wurde, schob er ihr den Brief zu: »Na, Minna, was sagst du dazu?« Sie las neugierig das Schreiben durch. »Dann bist also janich mehr verheiratet?« fragte sie leise.
Ihre Stimme zitterte leicht. Thiele schaute sie liebevoll an und war froh, dass er ihr wenigstens auf eine Art zeigen konnte, wie er zu ihr stand.
»Sage mal, Minnekin, wie wär's, nu ja, ich weiß ja janich, wie du überhaupt darüber denkst, - ick meinte man bloß, - wenn wir beide zusammen aufs Standesamt jingen und uns heiraten würden.«
Es fiel ihm sichtlich schwer, das so einfach zu sagen. Minna saß ganz still da; ihr Gesicht hatte plötzlich alle Farbe verloren. Thiele zog sie zu sich empor, nahm sie unter den Arm und wanderte scherzhaft mit ihr durch den engen Raum.
»Weeeste, Willem, ick kann janich richtig darieber nachdenken, dann würde ick ja doch Minna Thiele heißen, nich wahr? Ick weiß jarnich, wat ick dir daruff sagen soll... «
Die Tränen liefen ihr nur so über die mageren Wangen. Auch Thiele wurde ganz gerührt und hätte beinahe selbst angefangen zu heulen. Liebevoll wischte er ihr die Tränen ab und sagte:
»Aber Minnekin, det is ja doch nich de Rede wert! Ick wollte, ick könnte dir mehr jeben als bloß so'n lumpigen Namen!«
Albert Stern und die Einäugige gingen als Trauzeugen mit aufs Standesamt. Nicht wieder zu erkennen war die Schwarze Minna in dem einfachen dunklen Kleid, das Muttchen ihr für einen Tag geliehen hatte. Wie durch ein Wunder war heute die Angst aus ihren freudig glänzenden Augen verschwunden.
Es war ein schöner Septembertag, der Himmel stand in einem reinen harten Blau, aus dem das duftige Weiß der eilig dahinziehenden Wolken leuchtete. Vereinzelte Blätter der Stadtbäume glühten schon in einem purpurnen Gold. Die beiden Frauen liefen einige Schritte voraus; Thiele und der Dicke Stern folgten ihnen, in ernste Betrachtungen versunken.
Als die Schwarze Minna auf dem Standesamt das Protokoll mit ihrem neuen Namen »Minna Thiele« unterzeichnen musste, zitterte ihr vor innerer Erregung die Hand. Sie sah so bleich aus, dass der Standesbeamte ihr besorgt ein Glas Wasser reichte.
Nachdem alles erledigt war, gingen die beiden Männer zum »Nassen Dreieck«, um den ersten Ehestandsschoppen zu trinken. Minna hatte die Einäugige mit nach Hause genommen, wo heute viel zu tun war. Muttchen gratulierte Thiele herzlich, und auch die anwesenden Stammgäste drückten ihm fest die Hand. Ein Paket, das Muttchen als ihren Beitrag zur Hochzeitsfeier der Schwarzen Minna schon vorher bereitgelegt hatte, musste Thiele mit nach Hause nehmen.
Frau Kneschke gab ihre große Lampe für heute abend her. Stühle, Tische sowie Geschirr lieh Muttchen.
Zu Hause angekommen, legte Thiele das mitgebrachte Paket auf den Tisch und öffnete es bedächtig. Minna und die Einäugige sahen ihm gespannt zu.
Als erstes kam ein großer Napfkuchen zum Vorschein. Die beiden Frauen konnten sich vor freudiger Überraschung gar nicht halten.
»Donnerwetter!« sagte Thiele gerührt, »da hat sich die Olle aber mächtig anjestrengt!«
Es war eine regelrechte »Freßkommode«, die Muttchen da zurechtgemacht hatte: Wurst, Brot und noch sonst allerlei appetitliche Kleinigkeiten. Die drei waren vor Freude und Bewunderung rein aus dem Häuschen. Gegen Abend schickte Muttchen noch einen ganzen Kasten mit Flaschenbier hinüber.
Vor der Wohnungstür ertönten plötzlich die schrillen Klänge von Blechinstrumenten. Drei Bettelmusikanten spielten, so gut oder vielmehr so schlecht, wie sie es eben vermochten, Webers »Schönen grünen Jungfernkranz«. Aus den Türen und Fenstern steckten die Hausbewohner überrascht und neugierig die Köpfe hinaus.
»Bei wem is denn det?« fragten sie sich gegenseitig.
»Da unten bei die Kneschke - ihre Aftermieter, wo hinten in de Stube wohnen«, antwortete jemand.
Verlegen öffnete Thiele die Tür. »Kinder, ich
bin-------abjebrannt!« sagte er bedauernd zu den
Musikanten. Er holte ein paar Pullen Bier, die er mit ihnen gemeinsam austrank. Verständnisvoll nahmen die Leute dann ihre Instrumente unter den Arm und zogen zur nächsten Hochzeit.
Als erste Gäste erschienen schon nachmittags der Dicke Stern, der Fackler und Äpfelchen. Letztere brachte als Geschenk der Frauen aus dem »Nassen Dreieck« einen Blumentopf, den sie hübsch mit hellblauem Seidenpapier dekoriert hatten- Mitten auf den Tisch wurde der Topf gestellt, Frau Kneschke brühte in der Küche eine große Familienkanne mit strammem Malzkaffee auf. Muttchens Napfkuchen wurde geschnitten; der Kaffee serviert.
Im Zimmer war es kälter als draußen. In den engen Lichtschacht von Hof kam die Sonne ja nie hinein. Da tat der heiße Kaffee allen so richtig wohl. Sie aßen mit hervorragendem Appetit den Kuchen und schlürften mit andächtigem Genuss den wärmenden Kaffee!
Die ungezwungene Unterhaltung aller Beteiligten war im schönsten Gange. Äpfelchen wurde sentimental, seufzend sagte sie, bei einer Hochzeit müsse sie immer an das Grabmal mit der Frauenfigur auf dem Kirchhof denken, das sie mal gesehen hatte und wo so ein schöner Spruch darauf eingemeißelt war. Sie hatte ihn auswendig gelernt, weil er ihr so ans Herz ging.
»Wie war das doch noch?« fragte sie sinnend. »Ach ja, so!«
Dabei blickte sie fortgesetzt starr in eine Ecke der Zimmerdecke, als ob der Spruch dort geschrieben stände und sie ihn nur ablesen brauchte:

»O könntest du mich hier
an deinem Grab und auf
dem Denkstein stehn sehn,
mit Tränen im Blick
und seelischem Schmerz!
Wie konnte nur nach 6 Tagen
unser Eheglück verwehn???«

Die Schwarze Minna war gerührt: »Ach nee - det tut mir aber leid, die Arme!« sagte sie. Die Einäugige fand das Gedicht so »schön« traurig. Frau Kneschke warf ein: »Ja, man kann manchmal die dollsten Sachen erleben!«
Ohne sich um die Unterhaltung weiter zu kümmern, aß der Dicke Stern seelenruhig ein Stückchen Kuchen nach dem andern. Zur Hebung der ein wenig melancholisch gewordenen Stimmung wusste der Fackler auch etwas zu erzählen. Vor ein paar Tagen hatte er es in der Zeitung gelesen. Ein junges Ehepaar hatte in der Hochzeitsnacht vergessen, den Gashahn abzusperren. Am andern Morgen wurden sie beide tot aufgefunden. Die junge Frau sollte noch ihr Brauthemd angehabt haben.
»Schrecklich, nee so een Unjlick! Sicher war die Braut sehr schön?« seufzte Äpfelchen.
In dieser erhebenden Weise floss das Gespräch dahin. Man kam aus dem Hundertsten ins Tausendste. Dabei wurde unverdrossen gegessen. Von dem großen Kuchen waren nur noch ein paar Krümelchen übrig geblieben. Die Frauen räumten das Kaffeegeschirr ab. Der Fackler ging mal rasch zum »Nassen Dreieck« hinüber.
Jetzt trudelte der Zahme Willi ein, mit einem großen Blumenstrauß beladen, den er mit zurückgestrecktem Hinterteil und vorgebeugtem Oberkörper, gemacht geckenhaft, der Schwarzen Minna überreichte.
»Der schönen Braut ein herzlich Angebinde!« deklamierte er dabei.
»Danke dir auch recht schön, Willi«, erwiderte die Schwarze Minna. »Gebt mir doch mal 'n Topf für die Blumen, - die sind wirklich sehr schön, un wie fein die riechen tun, - ick freue mir wirklich,
Willi...«
Alle Frauen rochen nacheinander an den Blumen. »Wirklich wunderscheener Jeruch«, sagte Äpfelchen. »Sicher aus deine eijene Plantage, Willi?«
Alle lachten vergnügt. Die Einäugige war froh, als sie bemerkte, dass der Zahme noch nüchtern
war.
Etwas später am Abend kam Muttchen herüber; wie sie sagte: »Nur auf`n Augenblick!«
Mit ihr war der Fackler zurückgekommen. Alle setzten sich um den Tisch herum, auf dem der übrige Inhalt von Muttchens Paket jetzt ausgebreitet lag. Mit überaus gesundem Appetit wurde nun zu Abend gegessen. Die Bierflaschen knallten und leerten sich rasch. Der Zahme war durch hastiges Trinken schnell ein wenig benebelt und wollte das Lied vom Jungfernkranz anstimmen, aber die andern meinten, dazu wäre es noch viel zu früh. Statt dessen sangen sie mit viel Gefühl und wenig Stimme das Lied von der Festung Köln am Rhein und darauf von Mariechen, die weinend im Garten saß. Nachdem die trocknen Kehlen wieder gebührend angefeuchtet worden waren, kam der »Treue Husar« und die »Grüne Heide« an die Reihe. Danach erhob sich der Dicke Stern, klopfte mit dem Messerrücken gegen sein Glas und räusperte sich mehrmals. Die Gäste klatschten schon im voraus Beifall. Der Redner nahm noch einen kräftigen Schluck Bier und begann dann:
»Liebe Festjemeinde! Unser lieba Willem und sein vielliebet Minnekin - der olle schwarze Deibel! - habn heit den Stand ihrer Ehe beschritten un wolln von jetzt ab zusammen durch den dicksten Dreck klettern. Ick jloobe woll, wir alle frein uns, dass die beeden jungen Menschen zusammenjekommen sind und dass wir hier so jemütlich beisammensitzen und die Hochzeit feiern duhn. Aber liebe Jemeinde, ein >Danke schön!< ooch unser jutet Muttchen, die die Spendierhosen anjezogen hat. Übrigens, mit die Hosen, da muss ick den Willem nachher noch 'n Hut jeben. Iberhaupt muss ick dem Brautpaar noch vaschiedene Ratschläge jeben. Nich etwa ieber det etwa, wat die beede nachher zu duhn ha'm, wenn wia wech sinn, ick jloobe, da könn wia bei die noch wat lern. Willem, als oller Ehemann, der jenen Bescheed weeß... « Die Gäste machten: »Hu - hu!!!«
»Jawoll, nur keen Held nich, - wir wissen Bescheid! (Äpfelchen, wenn du Luder so deemlich jrinst, jeh ick mit dir nachher mal in de Ecke, vastehste!) Also: muss ick, wie jesaacht, dem verehrlichen Brautpaar einige Ratschläge erteilen.
Wilhelmken, jeliebter Busenfreund, merk dir det eene: immer de Hosen anbehalten! Außert Bett natierlich! Und du jeliebte schwarze Jungfraue: nie den Ollen 'n Sechser in die Tasche lassen -, die Männer vanaschen det Jeld sonst doch bloß mit de kleenen Meechens... «
Die Frauen juchzten laut auf. Stern beendete seine Rede mit einem Hoch auf das Brautpaar. Alle Taste stimmten begeistert ein: »Hoch solln se lebn! Hoch solln se... «
Unter heiterem Gelächter stieß man mit den Gläsern an und begoss dabei Muttchens weiße Tischdecke mit Bier.
Muttchen konnte nicht länger bleiben und verabschiedete sich. Als sie auf die Straße trat, hörte sie noch immer die grölenden Stimmen der fidelen Hochzeitsgesellschaft: »... und weil sie der Herzliebste nahm, hat die den Kranz gewonnen.«

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur