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Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
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X.

Das »Nasse Dreieck« hatte seit einigen Tagen einen sensationellen Gesprächsstoff. Man sprach fast von nichts anderem mehr. Ein paar Häuser entfernt war eine neue Kneipe aufgemacht worden. Diese Tatsache an sich wäre kaum des Erwähnens wert gewesen: Auch das für eine Budike im Arbeiterbezirk Wedding wenig passend gewählte Kennwort »Zum Alten Fritz« hätte kaum zu besonderen Kommentaren Anlass geben können. Was die Stammgäste des »Nassen Dreieck« so lebhaft beunruhigte, waren vielmehr gedruckte Handzettel, die ihnen auf der Straße in die Hand gedrückt worden waren und auf denen u. a. zu lesen stand:
»Empfehle den P. P. Gästen besonders mein Ia Logierhaus mit über einhundert Betten. Schon von 40
Pfennige an. Erstklassige Kabinen billigst - von 50 Pfg. an. Jeden Abend musikalische Unterhaltung! Mittwochs und Sonnabends von 5 Uhr ab Pellkartoffeln und Hering. Portion 20 Pfg. «

Ganz offensichtlich handelte es sich hier um ein Konkurrenzunternehmen in Bezug auf Muttchens »Nasses Dreieck«. Je nach Veranlagung und sonstigen Gesichtspunkten stellten sich Muttchens bisherige Gäste ganz verschieden zu dieser für sie alle mehr oder minder wichtigen Angelegenheit. Einige sagten, das Ganze sei glattweg eine Gemeinheit; andere sagten nichts, dachten sich aber ihren Teil und kicherten verstohlen in sich hinein.
Muttchen selbst spielte die Gleichgültige, bei genauerem Hinsehen aber merkte jeder, dass diese Gleichgültigkeit eben nur gespielt war. Um sich über den Stand der Dinge zu orientieren, veranlasste sie ihre »rechte Hand«, den Fackler, mit dem Zahmen Willi einmal nebenan hinzugehen und sich auf ihre Kosten dort als Gäste ein bisschen umzusehen, sozusagen »Betriebsspionage« zu treiben.
Nach etwa einer Stunde kam der Fackler allein zurück und erstattete Bericht. Der Zahme war dort geblieben und soff mit dem Wirt, der in schlauer Berechnung fortgesetzt spendierte.
Kurz vor Ladenschluss kam der Zahme zum »Nassen Dreieck« hereingeschunkelt - sternhagel-voll! Aus seinem verworrenen Lallen und Sabbeln konnte man nur soviel entnehmen, dass der Wirt
»Zum Alten Fritz« nach seiner Meinung »een janz dufter Boss«, ein ganz feiner Schank- und Schlummervater sei.
In den nächsten Tagen gingen die Kunden des »Nassen Dreieck« absichtlich so, dass sie beim »Alten Fritz« vorbei mussten. Zuerst besahen sie sich neugierig die Kneipe von außen. Es dauerte aber nicht lange, da gingen die ersten hinein, um sich die Sache mal von innen zu »beschnarchen«. Als ihnen die ganze Aufmachung gefiel, blieben sie gleich dort. Andere folgten nach und zogen wieder andere nach sich. So kam es, dass nach kurzer Zeit ein beträchtlicher Teil von Muttchens bisheriger Kundschaft beim »Alten Fritz« verkehrte. Nur der alte Stamm war ihr treu geblieben. Das übrige Kroppzeug (unter ihnen natürlich auch der Zahme Willi) hatte sie treulos verlassen. Die Einäugige aber hockte nach wie vor im »Nassen Dreieck« herum.
Zwischen den Gästen der beiden konkurrierenden Saftläden entstand nach und nach eine direkte feindselige Spannung. Diese steigerte sich beträchtlich, als im »Nassen Dreieck« bekannt wurde, dass sich der Wirt vom »Alten Fritz« über Muttchen, ihren Laden und die dort verkehrenden Gäste fortgesetzt abfällig äußerte. Zu einem Penner, den er mit einer Pulle »Brennabor« (Brennspiritus) erwischt hatte, sollte er gesagt haben:
»Mein Lokal is keene wilde Penne - det kannste in't >Nasse Dreieck< machen, in den Miststall fällt det nich weiter uff, vastehste!«
Seit dieser unerhörten Herabwürdigung sagten sich die Gäste beider Schnapsbuden nicht einmal mehr »Guten Tag«! Verachtungsvoll gingen sie aneinander vorbei.
Allmählich sprach sich mancherlei über das Vorleben des Inhabers vom »Alten Fritz« herum. Einige behaupteten, er sei früher »Krimm« (Kriminalbeamter) gewesen, aber »jeschaßt« (fortgejagt) worden. Andre wollten wissen, dass er auf Rummelplätzen als Athlet aufgetreten sei. Sowohl sein ganzes Wesen wie auch seine klotzige Figur sprachen für beide Annahmen.
Thiele hatte sich um den ganzen Tratsch und Knatsch nicht gekümmert. Heute wie fast jeden Abend saß er mit seiner Minna, der Einäugigen und dem Dicken Stern im Hinterzimmer des »Nassen Dreieck«. Muttchen kam und setzte sich für ein paar Minuten zu ihnen an den Tisch. Die Frauen hörten aufmerksam zu, wie der Dicke Stern aus seiner langjährigen Erfahrung als Pfannekuchen-Architekt heraus ein Backrezept und dessen richtige Anwendung explizierte:
»...un der Teech muss so richtich jroße Blase haben, un denn erst de Butter nachjießen - jetzt noch een bißken warten un denn... «
Er brach verdutzt ab. Zur Tür des »Nassen Dreieck« kam der Zahme Willi hereingetorkelt, schräg wie eine blaulackierte Radehacke! Thiele sah, wie die Einäugige erblasste und am ganzen Körper vor Angst bebte. Der Zahme hatte ein über und über mit Blut verschmiertes Gesicht. Sein Anzug war mit einer Dreckkruste überzogen, als ob er sich im Rinnstein herumgesielt hätte. Sich nach allen Seiten umblickend, schwankte er durch das Lokal. Als er die Einäugige erblickte, wankte er auf den Tisch zu. Muttchen stand langsam auf und ging zur Theke. Ohne die am Tische sitzenden alten Bekannten zu grüßen, packte er die Einäugige beim Arm, pfiff kurz durch die Zähne und machte gleichzeitig mit dem Kopf eine auffordernde Bewegung zur Tür. Mit der freien Hand klammerte sich die Einäugige am Tisch fest. Als der Zahme sie loszureißen versuchte, kippte der Tisch um, die Biergläser zerschlugen am Boden und bedeckten die Dielen mit ihrem Inhalt.
Alle Anwesenden schauten gespannt zu, ohne sich einzumischen.
»Raus - sage ick dir!« schrie wütend der Zahme und zog wie verrückt am Arm der verängstigten Käthe, die sich noch immer am Tisch festgeklammert hielt. Jetzt sprang Thiele plötzlich auf, fasste den Zahmen derb an der Schulter. »Lass det Mädel los!!!« sagte er drohend. Der Zahme glotzte ihn wild an und wollte sich gerade zur Wehr setzen, als Muttchens gewichtige »Hausordnung«, der schwere Gummiknüppel, ihm zwischen die Hörner fuhr, dass es man so knallte. Jetzt packten auch einige der übrigen Gäste zu, und mit Schwung flog der Zahme zur Tür hinaus.
Als er sich von der ziemlich unsanften Landung wieder hochgekrabbelt hatte, brüllte er los, dass die Menschen vor dem Lokal zusammenliefen. Immer wieder versuchte er, sich Eingang zu verschaffen, wurde aber stets mit Püffen und Knüffen zurückgedrängt.
Die Einäugige fing fassungslos an zu weinen. Minna tröstete sie:
»Nu weene doch man nich, davon wird et ooch nich besser, - schlafste heit nacht mal bei uns!«
Alles schimpfte und fluchte über den Zahmen. Muttchen war richtig in Fahrt geraten und schrie wütend:
»Ick will in mein Jeschäft nich solchen Knatsch ha'm! Wejen eire deemliche Jeschichten mir noch de Jleeser zatöppern - det bringt det Jeschäft ooch jrade noch inn!«
Für die Nacht hatten Thieles der Einäugigen auf dem Fußboden ihrer Stube ein Lager zurechtgemacht. Am andern Morgen wurde heftig gegen die Tür geklopft. Thiele öffnete. Mit vor Ärger blassem Gesicht stand draußen der Zahme und japste:
»Is die bei eich?«
»Wat willste von se?« fragte Thiele zurück.
»Det is doch schließlich meine Sache, rauskommen soll se!« trumpfte der Zahme auf. Thiele wollte grob werden, da stand die Einäugige neben ihm: »Lass, Willem, ick mache eich doch bloß Unannehmlichkeiten, ick jehe lieba mit!«
Kaum war die Tür zu, da hörte Thiele draußen klatschende Schläge. Die Einäugige schrie. Sofort sprang Wilhelm Thiele hinaus. Auf dem Hof sah er, wie der Zahme die Frau beim Hals gepackt hielt und mit der andern Hand auf sie einschlug. Vor Luftmangel war das Gesicht der Einäugigen schon ganz verzerrt. Jetzt krallte sie sich in ihrer Angst an den beiden Ohren des Zahmen fest und trat ihm wütend mit einem Fuß gegen den Unterleib und gegen die Schienbeine. So unsanft an seine empfindlichsten Stellen getroffen, ließ der Zahme den Hals der Einäugigen los und versuchte jetzt, seine Ohren freizubekommen. Die Gereizte hielt aber fest. Ja, sie riss immer heftiger an den schon blutenden Fleischlappen.
»Laß los! Laß meine Ohren los! Die reißt mia de Ohren ab! Nehmt doch det varickte Weib wech!« so schrie und jammerte der hilflose Zahme. In seiner Stimme saß der blasse Schreck.
Das fast rasend gewordene Weibsbild lockerte ihren Griff nicht. Blut lief warm seinen Hals hinunter. Jetzt gelang es ihm, ihr mit beiden Händen das Gesicht zurückzupressen; die schwarze Augenbinde der Einäugigen verschob sich, rutschte ganz ab und ließ die leere Augenhöhle sehen.
Thiele bemühte sich, die beiden ineinander verkrallten Wüteriche auseinanderzubringen, aber -die Fäuste der Einäugigen hielten sich festgekrallt. Aus allen Fenstern blickten die Hausbewohner heraus und sahen dem blutigen Schauspiel zu.
»Vafluchtet Pennerzeuch, - die wohnen doch janich hier!« rief eine Frau. Andere Frauen lachten. Eine tiefe Männerstimme brüllte anfeuernd:
»Haut ihn, den Lukas!«
Von oben wurde ein Eimer Wasser auf die beiden Kämpfenden herabgegossen. Thiele, der sich verzweifelt abmühte, die Rasenden zu trennen, wurde mit hin- und hergerissen. Seine Minna, die auch herausgekommen war, bekam Angst und wollte ihn zurückhalten:
»Jeh du doch da wech, wat jeht det dia an?«
Vor Schmerz wie betäubt, wehrte sich der Zahme schon gar nicht mehr. Bei jedem neuen Ruck der Einäugigen flog er wie ein Bündel Lumpen hin und her. Endlich gelang es Thiele doch, die Hände der Einäugigen von den Ohren des Zahmen loszumachen. Nur mit Mühe ließ sie sich von neuen Angriffen zurückhalten. Mit einem eigenartig verlegenen Lächeln besah sie sich ihr blutendes Opfer und fragte befriedigt: »Haste nu jenuch, du Schwein???«
Der in dieser drastischen Weise gezähmte Willi stand bewegungslos da. Auf seinem blutbeschmierten Gesicht lag ein blödes Staunen. Mechanisch griff er nach den schmerzenden Ohren, befühlte sie vorsichtig und betrachtete dann verdutzt das an seinen Fingern klebende Blut.
Die aus den Fenstern zuschauenden Frauen riefen ihm höhnische Bemerkungen zu und lachten schadenfroh über ihn. Da drehte er sich plötzlich um und schlich wortlos davon. Wie auf den Fleck genagelt stand die Einäugige da und stierte mit irrem Ausdruck hinter ihm her. Dann nahm sie der Schwarzen Minna die Augenklappe aus der Hand, legte sie mit zitternden Fingern um und ließ sich in Thieles Stube zurückführen. Alle drei vermieden es, weiter über diesen Vorfall zu sprechen.
Kurze Zeit darauf gab's im »Nassen Dreieck« einen großen Klamauk: in Müttchens Privaträume war eingebrochen worden! Am hellichten Tage hatten die Einbrecher eine Füllung aus der Flurtür herausgesäbelt und waren durch die Öffnung eingestiegen. Mit ziemlicher Frechheit waren die Kerle vorgegangen. Den Hund, der sie gekannt haben musste, sperrten sie in der Speisekammer ein. Dann durchwühlten sie in aller Gemütsruhe Schränke und Kästen. Ein paar hundert Mark bares Geld und ein ganzer Haufen Wäschekram fiel ihnen zur Beute.
Als Muttchen abends das Zimmer betrat und die »Bescherung« sah, blieb ihr vor Schreck fast die Luft weg; zuerst verstand sie einfach gar nichts. Sie stand wie erstarrt und starrte auf das wüste Durcheinander der am Boden herumgestreuten Dinge. Dann stürzte sie sich plötzlich auf die Stelle, wo sie ihr Geld versteckt hielt - es war verschwunden! Erst wollte sie laut schreien. Rasch aber besann sie sich und schwieg ganz still. Sie wollte nicht, dass die Sache im Hause bekannt wurde. Das hätte ein schönes Geklatsche gegeben. Sie nahm ein Stück Pappe und stellte es so von innen gegen die Tür, dass das Loch von draußen nicht gleich zu sehen war.
Als Thiele etwas später ahnungslos zum »Nassen Dreieck« hinüberkam, waren gerade zwei Kriminalbeamte vom Polizeirevier da und recherchierten.
Wie üblich, stellten sie alle möglichen Fragen und machten sich Notizen. Auch von Thiele wollten sie wissen, ob er irgendwen aufs Auge habe, der mit der Sache zu tun haben könne. Nun hatte Thiele allerdings sogleich einen ganz dringenden Verdacht auf eine bestimmte Person, aber er hütete sich, diesen Verdacht den Beamten gegenüber zu äußern. Sollten doch selbst rausfinden und zusehen, wie sie fertig wurden, sie waren ja angeblich sonst immer so hellseherisch veranlagt. Schließlich kriegten sie doch für ihre Spürtätigkeit bezahlt. Er selbst hatte mit seinem eigenen Dreck zu tun und fühlte sich nicht im geringsten veranlasst, sich um die Angelegenheiten anderer Menschen zu kümmern.
Während diese Gedanken ihm durch den Kopf gingen, warf er einen Blick auf Muttchen, die dicht neben ihm stand. Er stutzte. Ihm schien es, als ob er so'n bisschen Misstrauen gegen sich in ihren Augen flimmern sah. Die denkt doch nicht etwa, dass ich - ach Quatsch! Blödsinn!!! sagte er zu sich selbst. Er fühlte aber doch, wie etwas Unbestimmtes heiß in ihm hochkroch, wie ein unerklärliches Angstgefühl ihm den Hals zuschnürte. Was war das bloß? Er hatte doch saubere Finger, hatte doch nicht das geringste mit dieser Angelegenheit zu tun! Um seiner Beklemmung Herr zu werden, fing er an zu reden. Lauter dummes, ungereimtes Zeug quatschte er zusammen, so dass die Beamten stutzig wurden, ihn scharf unter die Lupe nahmen und schließlich genau wissen wollten, wo er denn in der Zeit von dann bis dann gewesen war. Nun, Gott sei Dank! Das konnte er ihnen ganz genau verraten. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, als dieses peinliche Verhör beendet war. Fast hätte er sich mit seinen albernen Redereien selbst in die Tinte gesetzt. Ganz blöd trommelte es da oben im Kopf. »Verdammte Schweinerei!« schimpfte er vor sich hin und ging fort.
Als er nach Hause kam und von dem Vorgefallenen erzählte, wurde die Einäugige kreidebleich und saß platt auf ihrem Stuhl. Die Schwarze Minna sah es und fragte sie überrascht:
»Wat is dia? Hast woll Angst, det der Willi...?«
Die Käthe zögerte ein wenig, ehe sie antwortete: »Der kriegt alles fertig, - is manchemal det reene Kind, - un wenn er denn noch in't Tran is, lässt er sich von andre besabbeln und macht allens mit...<<
Sie brach ab; eben hatte es geklopft. Der Dicke Stern erschien. Ohne viel Umstände setzte er sich in eine Ecke, rauchte seine Mutzpfeife an und sprach kein Sterbenswörtchen von dem, was alle gerade im Augenblick so sehr beschäftigte. Nur ganz unauffällig warf er einen forschenden Blick auf die Einäugige, um festzustellen, ob sie bereits den Zusammenhang der Dinge ahne.
Wenige Tage später hatte man die drei Mann, die dabei waren, geschnappt, der Zahme Willi war unter ihnen. Beim »Alten Fritz« waren sie »vaschütt jejangen!« Den Rest des Geldes hatten sie noch bei sich. Durch sinnloses Saufen und Spendieren von immer neuen »Stubenlagen« hatten sie sich verdächtig gemacht. Einer ihrer Saufkumpane ging schließlich zur Polente und verpfiff sie. Sang-und klanglos wurden sie ausgehoben!
Die Einäugige war ganz geknickt. Wenn Thieles zum »Nassen Dreieck« gingen und sie mitnehmen wollten, lehnte sie das ab.
»Man muss sich ja reenewech de Oogen aus'n Kopp scheem, - man kann sich ja jar nich mehr unter de Leite sehn lassen... «
Und doch hing sie jetzt noch an ihrem Willi und verteidigte ihn bei jeder Gelegenheit. Als sie zuerst von der Verhaftung erfuhr, presste sie fest den Mund zu. Minna legte ihr den Arm um die Schulter und versuchte sie zu trösten:
»Mach dir nischt draus - wirst dir wejen den Kerl jreemen!«
Da fing die Einäugige an zu plissen: »Durch dick und dünn bin ick mit ihm jejangen, ick kenn ihn doch bessa als ihr alle, er is doch so gut wie mein Mann ... «
Hilflos stand Thiele dieser von einer rührenden Treue beseelten Frau gegenüber. Gern hätte er ihr irgend etwas Tröstendes gesagt, aber er fühlte, dass alles doch bloß leere Redensarten gewesen wären, und so schwieg er lieber. Ihm fiel auch gerade sein eigenes Erlebnis damals mit der Kalten Hand ein, wie der arme Junge geschrieen hatte, als er an der Starkstromleitung ein so furchtbares Ende fand.
Thiele hockte sich wortlos auf die Bettstelle hin.
»Wenn dieset vafluchte Elend doch bloß een Ende nähme! Wenn man wieder arbeeten, freitags seine Sechsdreier nach Hause bringen könnte un mit den janzen Mist nischt mehr zu dun hätte... «
Die schreckliche Sache mit ihrem »Zahmen« nagte und zehrte an der Einäugigen wie eine schleichende Krankheit. Sie war tatsächlich nur noch Haut und Knochen. Da half alles Zureden und ein gut gemeintes Wort nichts. Keiner konnte ihr helfen.
Endlich war der Tag der Hauptverhandlung herangekommen. Mit Thiele und Stern zusammen saß die Einäugige im Zuschauerraum. Sie warf mitleidige Blicke auf den Zahmen Willi, der geduckt auf der Anklagebank saß und hin und wieder die Gefährtin seines Elends verstohlen von der Seite her betrachtete. In seinen Augen glaubte sie zu lesen: Verzeih, dass ich Esel wieder solche Dummheit begangen habe! Als ob's ihr Junge wäre, der da saß, so kam es ihr vor, als sie ihn jetzt so dasitzen sah und ihm doch nicht helfen konnte. Ihr gesundes Auge wurde nass, unter der schwarzen Klappe aber brannte es wie Feuer!
Die Verhandlung selbst nahm kaum eine halbe Stunde in Anspruch.
Ohne den geringsten Versuch, den tieferen Zusammenhängen nachzuspüren, wurde kalt und nüchtern nach Schema »F« der objektive Tatbestand noch einmal beleuchtet. Mit dem üblichen Schneid und der bornierten Dünkelhaftigkeit eines weltfremden, lebensfernen Moralisten betonte der Vertreter der Anklage die sittliche Verkommenheit und damit die Gemeingefährlichkeit der drei Verbrecher und beantragte für jeden wegen schweren Diebstahls im Rückfalle unter Versagung mildernder Umstände die gesetzliche Mindeststrafe von zwei Jahren Zuchthaus. Nach kurzer Beratung gab das Gericht dem Antrag statt.
»Der nächste, bitte!«
»Zwei Jahre Zuchthaus!!!« Der Verstand blieb der Einäugigen stehen; sie vermochte nicht weiter zu denken.
Als der Zahme Willi von den Justizbeamten abgeführt wurde, drehte er sich schnell noch einmal um und rief durch den Saal:
»Adjös, Käthekin, mach's jut!« Mit hängendem Kopf und erloschenem Blick verschwand er.
Bewegungslos saß Käthe Ulrich noch eine Weile da und schaute starr nach der verhängnisvollen Tür, durch die ihr Willi verschwunden war. Sie stand erst schwerfällig auf, als durch dieselbe Tür die Angeklagten für die nächste Verhandlung hereingeführt wurden. Thiele nahm ihren Arm und sagte düster:
»Na, ick jloobe, wia könn jetz jehn - det Theata is ja nu vorbei.«
Schweigend trottete die nun völlig vereinsamte Frau neben den beiden Männern her. Die unterhielten sich über das eben Erlebte und machten höhnische Bemerkungen über Richter und Staatsanwaltschaft.

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