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Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
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I.

Bevor Muttchen Inhaberin des »Nassen Dreieck« wurde, hatte dieser schmutzige Saftladen einem Wirt gehört - einem rabiaten Kerl, der einen geladenen Revolver ständig unter dem Ladentisch liegen hatte. Bei einem Streit mit einem betrunkenen Bettler hatte der Wirt nach dieser Waffe gegriffen und den wehrlosen Mann brutal niedergeschossen. Daraufhin musste der Wüterich schleunigst das Geschäft verkaufen und aus der Gegend verduften. Einen besoffenen »Kunden« einfach über den Haufen zu knallen - das ging denn doch sogar den Stammgästen des »Nassen Dreieck« über die Hutschnur!
Anfangs, als Muttchen das »Nasse Dreieck« kaum übernommen hatte, fand sich unter den Stammgästen ein ebenso kräftiger wie grober Kerl, der sich aus eigener Machtvollkommenheit als »Rausschmeißer« etabliert hatte. Bei der geringsten Unruhe der Gäste schlug er dazwischen, nahm sie beim Kragen und warf sie aufs Straßenpflaster. Muttchen, die damals noch unerfahren war, ließ ihn ruhig gewähren, weil sie glaubte, das müsste nun mal so sein. Die Gäste hassten den brutalen Mann, ließen sich jedoch alles gefallen, weil sie sich vor ihm fürchteten.
Eines Tages tauchten im »Nassen Dreieck« ein paar pampige Burschen auf. Es mag dahingestellt bleiben, ob man sie hinbestellt hatte oder sie so zufällig in diese Kneipe hineingeraten waren. Jeden-
falls waren sie da - und ihre selbstbewusste Anwesenheit verschaffte den Gästen des »Nassen Dreieck« an diesem Abend noch ein besonderes Vergnügen. Als es zum gewohnten Streit und Krach kam, der Rausschmeißer als Schlichter dazwischenfahren wollte, packten die beiden »Schwerathleten« zu und warfen ihn zur Tür hinaus. Auf der Straße schlugen sie auf ihn ein, dass die Knochen knackten. Dann schleppten sie ihn auf die andere Straßenseite, wo die Panke fließt, und warfen den »Rausschmeißer« über das Geländer ins Wasser hinab.
Als dieser so betrüblich angelaufene »Rausschmeißer« drei Monate später das Krankenhaus verlassen konnte, ließ er sich nur noch selten im »Nassen Dreieck« sehen und benahm sich dann wie ein gewöhnlicher Gast. Seine frühere Funktion als »Rausschmeißer« versah jetzt Muttchen selbst. Von außen sah das »Nasse Dreieck« nicht anders aus als irgendeine der vielen Kneipen, die in dieser proletarischen Gegend in fast jeder Mietskaserne zu finden waren. Geriet zufällig mal ein fremder Mensch hinein, so bekam er einen tiefen Schreck und machte so schnell wie möglich, dass er wieder herauskam.
Die umwohnenden Proleten nannten das »Nasse Dreieck« kurzweg nur »Pennerkneipe«. Arbeiter gingen da nicht hinein, sondern tranken ihre »Molle« woanders. Die Bewohner des Eckhauses, in dem sich das »Nasse Dreieck« befand, verloren in der Nachbarschaft merklich an Ansehen, weil sie (wie man sich ausdrückte) mit Pennern unter
ein und demselben Dach wohnten. Die Vorderhausbewohner schickten eine gemeinsame Protesterklärung an den Hauswirt. Dieser reagierte darauf überhaupt nicht; war er doch froh, einen so gut und pünktlich zahlenden Mieter, wie Muttchen es war, zu haben.
Muttchen hatte nämlich außer ihrer Schnapsbude noch sämtliche Parterre-Räume der toten Frontseite des Eckhauses gegenüber der Panke gemietet, die bisher dauernd leer gestanden hatten, ihr aber als Logierräume für ihre Gäste durchaus passend erschienen.
Budikerfrauen sind gewöhnlich sehr wohlgenährt, oft sogar fast kugelrund. Muttchen wich von diesem Typus ab. Sie glich mehr der Frau eines kleinen Beamten, der man es ansah, dass sie nicht immer satt zu essen hatte. Etwa vierzig Jahre alt, war ihre Gestalt knochig und hager, im übrigen aber noch ganz ansehnlich. Ihre Gesichtszüge ließen auf eine Mischung von Härte und Freundlichkeit schließen. Wenn man den Gästen glauben durfte, - musste sie einen Haufen Geld ihr eigen nennen. Man erzählte sich sogar, dass sie in Tegel ein großes Gartenlokal besäße. Wirklich Genaues darüber wusste allerdings niemand.
Sicher ist, dass das »Nasse Dreieck« einen schönen Batzen Geld abwarf. Es war immer Hochbetrieb in ihrem Lokal, und die Pfennige und Groschen, die tagsüber von einigen hundert Bettlern in Berlin zusammengefochten wurden, wanderten fast restlos in Muttchens Kasse. Was nicht vorn an der Theke hängen blieb, nahm hinten das Logier-
haus ein. Dieses bestand aus zwei Ladenräumen, zwei Stuben und den dazu gehörigen Küchen. In jedem Ladenraum standen zehn, in jeder Stube acht und in den beiden Küchen je zwei Betten. Die Gäste zahlten monatlich zwanzig Mark für ihr Bett. Bei täglicher Bezahlung kostete das Nachtquartier etwas mehr, nämlich durchweg siebzig Pfennige. Anspruchslos wie die »Kunden« nun einmal sind, nahmen sie mit dem Gebotenen vorlieb und meinten sogar: »Man schläft hier wie im feinsten Hotel.« Die 40 Betten waren fast immer voll belegt.
»Streng« hielt Muttchen auf Sauberkeit und Ordnung. Jeden Monat gab's frische Bettwäsche! In der Zeit zwischen 9 Uhr vormittags und 9 Uhr abends durften die Schlafräume nicht betreten werden. Die Logiergäste konnten sich dann in den Schankräumen aufhalten. Muttchen war gar nicht »so«.
Sie sah nie darauf, ob ein Gast etwas verzehrte oder nicht. Ihretwegen konnte so ein armer Teufel einen Monat lang jeden Tag kommen, ohne einen Sechser bei ihr auszugeben.
Ihre paar Habseligkeiten (wenn sie überhaupt welche besaßen) schnürten die Penner zu Paketen zusammen und gaben sie bei Muttchen zum Aufbewahren ab. Laut angeschlagenem Plakat kostete die Aufbewahrung pro Tag 5 Pfennige. Den Kunden blieb nichts anderes übrig, als diese 5 Pfennige zu opfern. Wer den Sechser sparen wollte, war gezwungen, seine »Klamotten« mit sich herumzuschleppen.

Das eigentliche »Nasse Dreieck« bestand aus der Schankstube und einem großen Hinterzimmer. Der Ladentisch war (wahrscheinlich aus Zweckmäßigkeitsgründen, d. h., um Schmutzspuren nicht sichtbar werden zu lassen) pechschwarz gestrichen. Hinter einem Eisengitter lagen Fressalien aufgestapelt: Schweine-Kopffleisch, Bouletten, Heringe.
Die Wände des Vorderraums prunkten in primitiver vorstädtischer Dekorationsmaler-Schönheit. Auf grellem Orangegrund tanzten schwarze Rokoko-Weibchen zwischen Perlenstäbchen einen Reigen. Dazwischen machte ein Plakat Reklame für Muttchens Logierhaus.
Im hinteren Raume waren die Wände mit einst vielleicht weißer, jetzt jedenfalls schmutziggrau gewordener Leimfarbe gestrichen. Die Hinterwand bestand aus schlecht behobelten Brettern, deren Fugen breit auseinanderklafften. Eiserne Gartenstühle und -tische standen auf dem ungestrichenen schmutzigen Fußboden. Oben an der Wand klebte ein schwarzweißes Plakat mit der Aufschrift: »Jedem sein Auto!« Daneben ein anderes (handgeschrieben): »Jeder Gast darf nur einen Stuhl benutzen. Getränke dürfen von draußen nicht mitgebracht werden! Die Wirtin.«
Des Nachmittags war im »Nassen Dreieck« meistens nicht viel los. Die Mehrzahl der »Kunden« war noch unterwegs.
Die jetzt in der Kneipe herumsaßen, waren entweder ganz arme Teufel, die auf Klopper warteten, von denen sie etwas zu erben gedachten, oder aber
Ladenstoßer und Stucker, die erst gegen Abend auf Fahrt gingen.
Diese »Brüder« saßen stumm und stumpf an ihren Tischen, nur von Zeit zu Zeit sich ein Wort oder eine Bemerkung zurufend. Ein Alter war eingenickt und lag vornübergebeugt mit der Nase auf dem Tisch. Wenn irgendein lautes Wort gesprochen wurde, schrak er auf, schaute misstrauisch umher, um gleich wieder einzunicken und mit der Nase auf der bierklebrigen Tischplatte herumzurutschen. Ein ekler Geruch von regennassen Kleidern und anderen Ausdünstungen schwängerte den Raum. Im Nebenzimmer ließ sich einer für'n Sechser rasieren. Nahebei saßen vier Frauengestalten an einem Tisch und schauten in Ermangelung von anderer Unterhaltung zu, wie das Messer des Verschönerungsrates hörbar über die Haut des »Kunden« schabte. Eine Einäugige wünschte sich aus Langeweile, dass das Messer die Haut ritzen möge.
Eben kamen die ersten Klopper von der »Fahrt« zurück; sie gingen ins Hinterzimmer, setzten sich an einen Tisch und holten aus allen möglichen Taschen Stullen hervor, die sie nach der Art des Belages gewissenhaft sortierten. Die Frauen standen auf und gingen zu den Speckjägern hinüber. Zu dem Pfennigfranz setzte sich die Einäugige an den Tisch. Faul schaute sie zu, wie er seine unergründlichen Taschen auskramte. Jedes Paar Stullen klappte er auseinander, roch daran und legte es dann beiseite. Unbelegte von belegten, belegte von gutbelegten genau getrennt. Dann kramte er aus
einer Tasche einen kleinen Haufen Geld hervor: Pfennige, Sechser und auch ein paar Groschen. Während er zählte, verschwand die Einäugige unauffällig. Als Pfennigfranz mit seiner Bestandsaufnahme fertig war, wollte er alles wieder zusammenpacken. Da stellte er fest, dass ein Paar Butterbrote fehlte. Er sah nochmals alles durch, schaute unter den Tisch, aber die Stullen waren verschwunden. Nun fing er an zu schimpfen: »Sie hat mir die Stullen geklaut, so ein Aas... «
Der Zahme Willi (der von der Theke aus den Vorgang beobachtet hatte) mischte sich jetzt ein und brüllte den Alten an: »Du bist wohl meschugge geworden, oller Dusselkopp, - wie kannste so wat behaupten?« - »Na kiek doch, se kaut ja«, erwiderte Pfennigfranz mit einem Blick auf die Einäugige, die ihn frech angrinste. Der Zahme Willi lächelte überlegen und sagte: »Die Stulle, die det Mädel essen tut, is von mir, vastehste!« Jetzt wurde Pfennigfranz wütend und schrie:
»Du bist een elender verlogener Lausepenner, det biste!«
Der Zahme Willi ging, die Hände in den Hosentaschen, langsam auf ihn zu:
»Wat erlaubste dir zu sagen?... He? Du alter Kacker?... He?... «
Schon hatte er dem Pfennigfranz in seinen grauen Vollbart gespuckt. Vor allen Gästen in den Bart gespuckt! Die Weiber quietschten, die Männer brüllten vor Vergnügen, das ganze »Nasse Dreieck« war voller Lustigkeit.
»Hat man schon so wat jesehn?«
»Er hat ihm seinen scheenen Vollbart ramponiert, - einfach rinjespuckt, - so'ne Blamage!!!... «
Pfennigfranz war aufgestanden, sprachlos starrte er den Zahmen Willi an, um den Mund, wo der Bart grünlich schimmerte, zitterte es, die abstehenden Ohren erglühten knallrot. Er griff nach dem nächsten Bierglas, goss dessen Inhalt dem vorsichtig lächelnden Zahmen Willi ins Gesicht. Die klebrige Bierneige verschmierte (dem) die Augen, hängte sich als goldiger Troppen an die Spitze seiner Nase und lief in kleinen Bächen den Hals hinunter.
Eine angstvoll abwartende Stille lag jetzt über dem Raum, die Gäste saßen mit vorgestreckten Hälsen da.
»Kinder, det is een Spaß!«
Irgendwer schob den trennenden Tisch beiseite, damit sie schneller zusammenkommen könnten. Wortlos packten die beiden einander und versuchten, sich gegenseitig umzuwerfen. Zwei müde, ausgemergelte Gestalten schwankten hin und her, hielten sich aneinander fest, um nicht umzufallen. Die Zusehenden wollten den Kampf lebhafter haben und machten anfeuernde Bemerkungen.
»Kinder, ihr küsst euch ja!« -
»Reiß ihm doch den Bart aus!«
»Beiß ihm doch de Neese ab!«
Da! Ganz plötzlich war Muttchen da, sauste ihr Gummiknüppel dazwischen. Jeden Schlag begleitete sie mit einem Ausruf: »Wollt ihr auseinander, ihr Sautölen, ihr Schweinehunde, da haste...«
Ganz still wurde es jetzt im »Nassen Dreieck«. Die beiden geprügelten Kämpfer ließen einander los, setzten sich hin und schauten scheu auf Muttchen, die, mit dem Gummiknüppel schlenkernd, im Raum stand und ihren Blick vorwurfsvoll umherschweifen ließ. Der Zahme Willi stand auf und setzte sich an einen anderen Tisch, mit dem Rücken zum Pfennigfranz gewendet.
Muttchen begab sich hinter den Ladentisch zurück, hängte den Gummiknüppel wieder an seinen Platz unter das Plakat mit der Aufschrift: »Ordnung muss sein!«
Vor Muttchen hatte man »lausigen« Respekt im »Nassen Dreieck«. Der stärkste Mann ließ sich von ihr widerspruchslos verprügeln. Die »Kunden« waren ja im allgemeinen friedlich, selten mal gab es großen Krach. Wenn es aber geschah, fuhr die Frau dazwischen. Vielleicht waren die Gäste des »Nassen Dreieck« gerade wegen des Gummiknüppels so stolz auf ihr Muttchen. Wer gewagt hätte, sich ihr gegenüber zu wehren, würde sicherlich von allen zusammen eine Tracht Prügel bezogen haben.
In den Abendstunden hatte sich das »Nasse Dreieck« mehr und mehr gefüllt. Wohl an die hundert Menschen saßen, standen oder liefen herum. Einige »verkündigten« (verkauften) ein Paar »Trittchen« (alte Schuhe) oder eine »Staude« (Hand) oder ein Paar »Bolzen« (Butterbrote) zum Tarifpreis. Für gutbelegte gab's fünfzehn, für belegte zehn und für »kahle Geigen« (unbelegte) fünf Pfennige. In diesem Quartier des nackten Elends gab es Menschen, die noch ärmer waren als ein Bettler, die von dem ihr Leben fristeten, was der »powerste Klinkenputzer« übrig hatte.
Die Einäugige saß jetzt mit dem Zahmen Willi im Hinterzimmer an einem Tisch. Der Zahme war in Wirklichkeit gar nicht so alt, wie es den Anschein hatte. Zuchthaus, Vagabondage, Hunger hatten früh einen alten Mann aus ihm gemacht. Seine Kleidung war zwar abgerissen, aber im Vergleich zu den Lumpen der anderen doch noch recht gut. Tiefe Falten liefen über seine bläulichrote Stirn. Von der Nase abwärts zum Mundwinkel zog sich eine wulstige Falte, die dem hageren Gesicht ein aufgeschwemmtes Aussehen verlieh. Rötliches Haar bedeckte spärlich seinen Kopf. Die Handgelenke waren fleischlos und schwach, - unentwickelt wie bei einem Kinde. Im ganzen war er ein gutmütiger Kerl, d. h., wenn er gerade nicht besoffen war. Im Suff hatte er seiner Käthe das eine Auge ausgeschlagen. Man hatte ihr damals geraten:
»Zeige den brutalen Hund doch bei der Polizei an; dann kriegt er wat uffgebrummt, det Schwein... « - Verwundert hatte sie erwidert: »Ick soll den Willi denunzieren? Ick liebe ihn doch!«
Vor Monaten hatten die beiden in der Wiesenstraße einen guten, warmen Treppenboden ausfindig gemacht, wo sie seitdem wie in Muttchens Logierhaus, aber unentgeltlich »koksen« (schlafen) konnten. Die Proleten vom vierten Stock, die Verständnis für menschliche Not, für jegliche Art von Elend zeigten, hatten sogar eine alte Matratze für die beiden auf dem Boden zurechtgelegt und ihnen gesagt:
»Solange ihr euch anständig bedragen dut, hat keen Mensch wat dajejen, det ihr hier pennt.«
Dergleichen Mitgefühl und Duldsamkeit fand man selten. Meistens wurden sie von den Vorderhausbewohnern, wenn man sie auf dem Boden entdeckte, wie räudige Hunde hinuntergejagt. Manchmal wartete ein heimtückischer Portier, hinter der Bodentür versteckt, mit einem Ochsenziemer auf sie. Aber das alles ist nicht so schlimm, wenn man sich erst daran gewöhnt hat. Schlimmer ist das Darangewöhnen selbst.
Den ganzen Abend saßen die beiden am Tisch, ohne sich gegenseitig irgendwie zu unterhalten. Höchstens mal ein Wort wurde gewechselt: »Zigarette?«... Oder: »Haste Durscht?«...
Eine Mundharmonika machte Radau; die Menschen in der Kneipe aber gaben sich Mühe, noch lauter zu sein. Sie sprangen und drehten sich herum, wobei sie wie tolpatschige Tanzbären stampften und brüllten.
Punkt ein Uhr machte Muttchen den Laden dicht. Die Einäugige verschwand mit dem Zahmen Willi um die nächste Straßenecke.

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