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Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
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XIII.

Im »Nassen Dreieck« waren in der letzten Zeit viele neue Gesichter aufgetaucht - viele alte aber verschwunden. Die alten Kunden waren auf Walze gegangen und tippelten als getarnte Speckjäger, also als arbeitssuchende Großstädter, auf den Landstraßen von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, überall bei den Bauern und Handwerkern anfragend, ob nicht irgendwelche Arbeit für sie zu haben sei.
Die Einäugige war seit der Verurteilung ihres Zahmen Willi aus dem »Nassen Dreieck« spurlos verschwunden. Auch bei Thieles hatte sie sich seitdem nicht mehr blicken lassen. Kein Mensch wusste, wo sie sich aufhielt oder was aus ihr geworden war.
Durch den Zuwachs vieler neuer Gäste herrschte wieder Hochbetrieb bei Muttchen. Die Feindschaft zwischen den Dreiecklern und den Leuten vom »Alten Fritz« bestand noch immer. Es war selbstverständlich, dass sie sich traditionsgemäß auf jeden Neuen wie eine Infektionskrankheit übertrug. Es war dazu nicht einmal notwendig, dass man die feindliche Kneipe auch nur ein einziges Mal von außen gesehen hatte.
Vor kurzem hatte Muttchen verreisen müssen. Nur einige Eingeweihte von der alten Garde wussten, dass sie auf ärztliche Anweisung in Böhmen Bäder nahm. Mit einem Zapfer, dem alten Hausdiener und einer Reinemachefrau führte der Fackler, Münchens Vertrauter, jetzt das Geschäft weiter. Er fühlte sich gewissermaßen als Herr des Hauses. In einer braunen Drillichjacke und kahlgeschorenem Schädel stolzierte er im »Nassen Dreieck« umher. Der ehedem so spacke Federfuchser hatte unter Muttchens Pflege mächtig ausgelegt und ein recht feistes Genick bekommen. Er fühlte sich! Und alle Gäste respektierten ihn wegen seiner Pfiffigkeit in allen Dingen. Der Fackler hielt Ordnung im »Nassen Dreieck«! Er war aber auch ein ganz gescheiter Kopf. Für die Fechtbrüder war er im Laufe der Zeit eine Art von »Gebets-Schmied« geworden. Er tüftelte für sie rührselige Sprüche aus, die sie beim Kloppen an den Türen herleierten.
Nun hatte sich der Fackler etwas ganz Besonderes, einen neuen Trick ausgeknobelt. Von einem Grossisten bezog er billig einige Tausend bunter Glückwunschkarten. Von diesen steckte er je zwei in einen Briefumschlag und legte einen Zettel mit vervielfältigtem Text bei:

Ich bitte die werten Herrschaften mich in meiner Notlage zu unterstützen und mir 2 Karten abzukaufen. Da ich seit 1930 arbeitslos bin, versuche ich auf diese Weise mein Brot zu verdienen.
Werde mir erlauben im Laufe des Tages bei Ihnen vorzusprechen. Im voraus meinen besten Dank.
- 2 Stück kosten 10 Pf.-.

Diesen kouvertierten »Schmus mit Beilage« verkaufte der Fackler an die Gäste des »Nassen Dreieck« Stück für Stück gegen sechs Pfennige in bar. Er machte ein gutes Geschäft dabei. Aber auch die Wiederverkäufer unter ihnen. Natürlich musste er geschickt dabei zu Werke gehen. Er warf den Leuten unbemerkt einen Umschlag in den Briefkasten oder durch den Türspalt. Ein paar Stunden später sprach er dann vor und erklärte höflich, er käme wegen der in Empfang genommenen Postkarten, um deren Bezahlung er ergebenst bitte. Entweder erhielt er dann seine zehn Pfennige oder aber den Umschlag mit Inhalt zurück.
Das einzige Risiko bei diesem Geschäft war, dass manche Leute gar nicht öffneten oder sogar bestritten, die Karten erhalten zu haben. Hin und wieder kam das vor, konnte aber verschmerzt werden.
Nach einiger Zeit aber hatte sich die Sache allgemein herumgesprochen. Die Leute kamen dahinter, dass es sich um einen aufgezogenen Dreh handelte, auf den sie nun nicht mehr hereinfielen. Der kleine Nepp hatte sich überlebt, war tot.
Frau Kneschke war im Jüdischen Krankenhaus unter qualvollen Schmerzen verschieden. Sie hatte ausgelitten. Als ihr Tod im Hause bekannt wurde, sammelten die Mitbewohner unter sich für den Kranz. Zwei Mark und fünfundachtzig Pfennige kamen zusammen. Zu Lebzeiten ihres Mannes hatte sich Frau Kneschke in der Verbrennung eingekauft, so dass die Wohlfahrt der Sorge um die Beerdigung enthoben war. Im Krematorium in der Gerichtstraße fand die Einäscherung statt. Außer Thieles und Stern nahmen noch sieben Frauen aus dem Hause an der Trauerfeier teil. Nach einem kurzen Orgelspiel leierte ein Vertreter der Bestattungsgesellschaft ein paar nichts sagende Worte herunter und verschwand dann. Oben von der schmalen Galerie ertönten die getragenen Weisen eines Gesangsquartetts: »Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh?« und »Wie sie so sanft ruhn, alle die Seligen... «
In sich zusammengesunken saß die kleine Trauergemeinde da. Ihre echt empfundene Trauerstimmung galt aber mehr ihnen selbst als der Verstorbenen. Fast beneideten sie alle die Kneschken, die den Rummel nun hinter sich hatte, die sich nie mehr um das Morgen ängstigen musste.
Als die Trauernden nachher gemeinsam nach Hause gingen, sprachen sie über die Kneschken und über den Krebs.
»Na - die hat's hinter sich, was wir noch vor uns haben, die ist fein raus.« So endeten alle Gespräche. Ein armseliges Menschenleben hatte seinen kümmerlichen Abschluss gefunden. Die Kette riss nicht ab! Ein neues, wahrscheinlich noch armseligeres Leben bereitete sich schon wieder vor.
Minnas Leib wurde höher und höher, der Tag ihrer Niederkunft rückte unaufhaltsam heran.
Seit jenem missglückten »Kipp«-Versuch in Frau Kneschkes Küche hatten Minna und Thiele das Abtreibungsthema nie mehr berührt. Jeder von beiden quälte sich heimlich mit seinen eigenen Gedanken über die bevorstehende Geburt ab. Thiele überraschte sich manchmal dabei, wie er im geheimsten Winkel seines Herzens auf eine Totgeburt hoffte.
Minna, die das neue Leben unter ihrem Herzen von Tag zu Tag merklicher sich regen fühlte, hatte sich mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Sie empfand weder Sorge noch Angst um das, was da kommen sollte, kommen musste. Fatalistisch ließ sie dem Schicksal seinen Lauf. Sie wusste ja doch weder Mittel noch Wege, es abzulenken oder es aufzuhalten. Wenn ihr Mann völlig verzagt sich gehen ließ und seinem Unmut Ausdruck gab, blickte sie ihn vorwurfsvoll an und sagte enttäuscht: »Willem, ick vasteh dia eenfach nich... « Dann nahm er die Frau bei den Schultern und drückte sie im Übermaß seiner durcheinander wogenden, sich widersprechenden Gefühle so heftig in seine Arme, dass sie laut aufschrie:
»Du-u-u, det Kind! Du zardrickst et ja reenewech!«
Einen Monat vorher ging Minna in eine städtische Entbindungsanstalt. Viele arme Frauen, die das Geld für eine Entbindung nicht aufbringen konnten, machten es so. Die Anstalt lag in der Schulstraße, nicht weit von Thieles Wohnung ab. In dem Institut wurden Hebammen ausgebildet. Als Entgelt für den etwa vierwöchigen Aufenthalt sowie für die Entbindung selbst mussten die Wöchnerinnen Hausarbeit verrichten. Auf diese Weise ersparte die Anstalt festangestellte Arbeitskräfte und hatte zugleich für umsonst immer eine genügende Anzahl von Lernobjekten für die auszubildenden Hebammen. Es war ein im modernsten Sinne rationalisierter Betrieb: Geburtshilfe am laufenden Band! Ja, unsere Kultur! Wie herrlich weit haben wir es doch gebracht! Nicht nur das Geborenwerden, nein, auch das Sterben wird uns Gegenwartsmenschen so furchtbar leicht gemacht, abgesehen natürlich von dem bisschen Elend, das zwischen Geburt und Tod kreist.
Wilhelm Thiele musste in diesem Monat zusehen, wie er sich allein durchschlagen konnte. Mit düsteren Gedanken lief er herum. Von morgens bis abends war er auf den Beinen, um irgendwie und irgendwo ein paar Pfennige einzuheimschen. Wenn Minna nachher wieder da war, und noch dazu mit dem Wurm, dann brauchte man Geld. Das wenige, was ihm ab und zu in die Hände fiel oder vor die Füße geworfen wurde, langte ja für ihn selbst kaum. Ein paar Groschen zurückzulegen, daran war doch gar nicht zu denken. Abend für Abend hockte er drüben im »Nassen Dreieck«. Allein zu Hause hielt er es einfach nicht mehr aus, er musste unter Menschen sein, mit denen er ein Wort sprechen konnte. Wenn diese Menschen auch nicht besser daran waren als er selbst.
Wenn die Frauensleute im »Nassen Dreieck« ihn so niedergeschlagen sitzen und vor sich hinbrüten sahen, kamen sie mitunter teilnahmsvoll zu ihm und erkundigten sich nach der Minna. Auch im Hause selbst wurde er jetzt öfter von den Mitbewohnern angehalten und nach dem Ergehen seiner Frau gefragt. Irgendwie tat ihm diese Anteilnahme wohl. Er fühlte in all diesen Fragen so etwas wie eine Kameradschaft, kam sich in seinem Elend nicht so isoliert vor. Er ahnte die Gemeinschaft seiner Klasse, deren Mitglieder trotz aller eigenen Sorgen und Nöte doch immer noch einen flüchtigen Gedanken, eine kleine Spur von Gefühl übrig hatten für ihre leidenden Klassengenossen.
Er war doch jetzt jemand. Wer hatte denn vorher von ihm etwas wissen wollen? Gewiss war er nichts Besonderes, aber noch immerhin »Etwas«, wenn vorerst auch nur der Mann einer Frau, die ein Kind bekommen sollte. Für ihn reichte die Zukunft gegenwärtig nur bis zu dem Augenblick, da seine Minna entbinden würde. Was dahinter lag, war endlos gähnende Leere, ging ihn jetzt einen Dreck an. Mit der sich schon heute auseinanderzusetzen, lehnte er müde ab. Man würde ja sehen... Warum sich schon heute das Hirn zergrübeln über Dinge, über Verhältnisse, die noch in so weiter Ferne lagen?
Er fiel ein. Seine Augen lagen in dunkelumschatteten, tiefen Höhlen. So schleppte er sich müde von einem Tag in den andern, ohne einen Ausweg zu finden aus dem Labyrinth, in das er kalt und sachlich hineingestoßen worden war und aus dem er nun nicht mehr herausfinden konnte.

Muttchen war von ihrer Bäderkur aus Böhmen zurückgekehrt. Sie sah gut erholt aus. Hinter der Theke aber war sie nur noch selten zu sehen. Den Ausschank und die übrige Geschäftsführung überließ sie ganz dem Fackler und seinen Helfern.
Im »Nassen Dreieck« lief ein eigenartiges Gerücht um. Einmal aufgetaucht, wollte es nicht mehr aus der Unterhaltung der Gäste verschwinden.
Man munkelte heimlich, dass Muttchen sich mit der Absicht trage, ihre »Joldjrube« zu verkaufen. Bestimmtes wusste allerdings keiner. Aus dem Fackler, der doch sicherlich informiert war, konnte man nichts herauskriegen, er hielt dicht. Die meisten Gäste glaubten nicht recht an das, was da geredet wurde. Es wird ja so viel zusammengequatscht, am Ende: lauter blauer Dunst!
Zwar behauptete einer, ein diesbezügliches Telefongespräch Muttchens mit angehört zu haben. Aber der Mann konnte sich täuschen!
Sie alle, die sie seit Jahr und Tag im »Nassen Dreieck« sozusagen zu Hause waren, fühlten sich so mit dieser Klause verwachsen, dass der Gedanke, Muttchen könne sie treulos verlassen, nicht in ihren Kopf hinein wollte. Eine solche Schlechtigkeit trauten sie ihrem Muttchen gar nicht zu. Wie ausgesetzte Waisenkinder wären sie sich ja vorgekommen. Verstohlen blickte der eine oder der andere nach Muttchens »Hausordnung«, dem schweren Gummiknüppel, der in orakelhafter Würde wie das Schicksal selbst ruhig auf seinem Platz hing und jede Auskunft verweigerte.
Dann sprach der Dicke Stern mal unter vier Augen mit der Frau darüber.
Zu Sterns Überraschung sagte Muttchen nicht, dass es eine Lüge sei. Im Gegenteil! Wie etwas Selbstverständliches gab sie offen zu, dass sie die wohlüberlegte Absicht habe, zu verkaufen:
»Ich habe bereits mehrere Interessenten an der Hand. Ich kann 's nicht mehr machen, aus Gesundheitsrücksichten bin ich zu diesem Schritt gezwungen. Von meinen Ersparnissen habe ich mir in Mecklenburg eine Pension gekauft, schön am Wasser, mit Obstgarten und Kleinviehzucht.«
Die Gäste des »Nassen Dreieck« waren, als sie das vom Dicken Stern erfuhren, wie vorn Kopf geschlagen. Bitter enttäuscht, sagten sie:
»Also wirklich - ist es also doch wahr!«
Sie wurden förmlich böse auf Muttchen und ließen es sie deutlich merken. Die trug es mit Würde.
An den Tischen steckten die Kunden ihre Köpfe zusammen und erörterten im Flüsterton die Aussichten, die der neue Wirt ihnen bieten würde!
»Wer kann wissen, wat for een Dollbreejen hier herkommt?« sagte einer.
»Na«, erwiderte ein anderer, »wenn der meent, uns olle jewiechte Raben hochnehmen zu könn, denn sollr sein blauet Wunda aleben!«
Die Ungewissheit des Kommenden hing dick und undurchdringlich in der Atmosphäre des »Nassen Dreieck«. Eine Saustimmung herrschte dort!

Aus dem Wöchnerinnenheim in der Schulstraße hatte Thiele eine Karte bekommen, auf der ihm mitgeteilt wurde, dass die Entbindung seiner Frau heute bevorstand.
Nun saß er mit banger Seele im Wartezimmer und zitterte am ganzen Leibe. Unruhig wanderten seine Blicke über die kaltweißen, schmucklosen Wände des Raumes, sah die Frauen in ihren weißen Leinenkitteln vorbeilaufen. Ein widerlich sich aufdrängender Karbolgeruch schwängerte die Luft und beklemmte ihm den Atem. Alles ringsum erschien ihm so unsagbar seelenlos, so schablonenhaft amtlich, so gar nicht menschlich. Selbst das Geräusch einer schlagenden Tür oder das ferne Klirren von Geschirr hatten einen so fremdartigen, toten Klang.
Mit angespannten Nerven saß Thiele da und wartete. Er lauschte unbewusst auf jeden Laut. Er fühlte eine unwiderstehliche Müdigkeit langsam in sich hochkriechen und gleichzeitig eine unsagbare Leere in seinen Gedanken, in seinem Empfinden. Mit größter Anstrengung nur gelang es ihm, seine bleischweren Augenlider immer wieder hochzureißen, wenn sie in der ihn umgebenden Stille ganz unmerklich abgesackt waren und er einzuschlafen drohte.
Plötzlich vernahm er hastiges Türenöffnen und erregte Frauenstimmen. Er sprang auf. Eine junge Frau kam zu ihm und sagte lächelnd, dass alles glücklich überstanden sei. Jetzt dürfe er zu seiner Frau hinein. Thiele stürzte in den Saal. Da lag die Minna im Bett. Wie sie ihn glückselig anstrahlte!!! Ihre Augen glänzten klar und warm wie die eines ganz jungen Mädels!
Thiele trat heran und strich ihr leise und zärtlich über die blasse Stirn. Ganz scheu und furchtsam nur warf er einen Blick auf das kleine violette Wesen, das da mit unförmigem Schädel neben der Mutter lag. Fragend sah er die Minna an. Die verstand und flüsterte: »Ein Mädel!« Liebevoll lächelte sie ihm dabei zu. Dann schloss sie plötzlich die Augen und schlief ruhig ein. Noch einen beruhigten Blick warf Wilhelm Thiele auf die Schlafende, dann schlich er leise auf den Zehenspitzen hinaus.
Als Minna nach einigen Tagen in ihre Wohnung zurückgekehrt war, kamen die Frauen aus dem »Nassen Dreieck« herüber, um sich Mutter und Kind einmal anzusehen. Später kamen auch noch einige von Muttchens männlichen Gästen. Mit ungewohnter Scheu ihre schmutzigen Hüte oder Mützen in der Hand haltend, gingen sie vorsichtig durch die Stube ans Bett und besahen sich neugierig das strampelnde, schreiende kleine Ding.
Die Minna hatte vor Stolz und Aufregung rote Backen.
Schneller, als alle Gäste erwartet hatten, war der Verkauf des »Nassen Dreieck« vollendete Tatsache geworden.
Schon ab kommendem Ersten sollte der neue Wirt hinter der Theke stehen. Muttchen hatte sich seit Wochen in ihrer Giftbude nicht mehr sehen lassen. Sie weilte meist in Mecklenburg, wo sie sich für die Übernahme des Pensionats vorbereitete. Was hier in Berlin für sie noch zu erledigen war, besorgte der Fackler. Die Möbel aus Muttchens Privaträumen waren vom Bahnspediteur bereits abgeholt worden.
Mit misstrauisch erwartungsvollen Gesichtern saßen die Kunden herum und waren gespannt auf die Dinge, die da kommen sollten. Der erste Tag des neuen Monats stand dicht vor der Tür.
Die Ereignisse warfen ihre Schatten voraus. Heute, gegen Abend, war ein fremder Mann in das »Nasse Dreieck« gekommen, der, ohne etwas zu bestellen, sich mit dem Fackler begrüßte und dann angeregt unterhielt, als ob er hier zu Hause wäre. Die Kunden wussten, ohne dass es ihnen jemand gesagt hatte: Das war er! Sein bartloses knalliges Gesicht strotzte nur so von Gesundheit. Wo bei anderen Menschen das Kopfhaar ist, strahlte es bei ihm in poliertem Hochglanz.
Der Anblick dieser enormen Glatze veranlasste einen der jüngeren Gäste, durch den Raum zu brüllen:
»Da, kiek mal, den sein peröser Keks jlänzt wie so'n polierter Kinderarsch!«
Diese schnoddrige Bemerkung wurde mit freudigem Grinsen quittiert.
Wenig passend zu der massigen Körperfülle des neuen Wirtes erschienen die hervorquellenden wasserblauen Augen. Sie erinnerten in ihrer blöden Sanftmut an ein paar in Magermilch schwimmende aufgeblähte Vergissmeinnicht. Die offenbar sehr kräftigen Hände des Neuen waren ebenfalls von pralliger Fülle. Auf seinen unförmig dicken, dichtbehaarten Fingern protzten mehrere Goldringe mit ihrem Karatgewicht. Überhaupt alles an diesem Fleischklumpen schien zu schreien: Seht mal, wer Wir sind!!!
Mit gemachter Lässigkeit gegen ein Regal gelehnt, stand dieser Knallprotz da, kaute nervös an einer dicken Zigarre und schien im stillen zu berechnen, wie hoch der Tagesumsatz unter seiner Leitung des Betriebs sich wohl stellen würde.
Am Tage vor der Geschäftsübergabe kam Muttchen plötzlich hereingeschneit. Die Gäste gaben sich ziemlich kühl ihr gegenüber und ließen merken, dass sie von diesem letzten Besuch ihrer »Rabenmutter« nicht sonderlich erfreut waren. Dieser Eispanzer der Zurückhaltung schmolz erst, als Muttchen um sieben Uhr abends zu aller Überraschung verkündete:
»Was jetzt noch in der Tonne ist, gehört euch! Jeder kann trinken, soviel er mag, es kostet nichts!«
Das brachte die ganze trübselige Bande auf die Beine. Alles drängte sich um die Theke. Der Fackler und der Hausdiener hatten alle Hände voll zu tun. Durch das schnelle Zapfen bekam jeder
Schnitt einen hohen Stehkragen. Da die Sauferei aber nichts kostete, machte das nichts aus.
Nach und nach kam eine bessere Stimmung auf, und schließlich waren alle geneigt, Muttchen großmütig zu verzeihen. Die Kunden stießen immer wieder mit ihr an und grölten rührselige Abschiedslieder. Erst gegen elf Uhr war die Tonne leer. Es wurde aber auch höchste Zeit; die meisten waren schon ganz nett fett.
Unbemerkt war Muttchen vorher verschwunden. Jetzt drückte auch der Fackler allen Freunden und Bekannten noch einmal herzhaft die Hand und versprach, sich öfters im »Nassen Dreieck« sehen zu lassen. Dann ging er.
»Schade«, sagte bedauernd der Dicke Stern zu Thiele, »is 'n wirklich patenter Kerl jewesen!«
Am andern Morgen kamen die ersten Gäste mit sehr gemischten Gefühlen in den Schnapsladen. Mit bis über die Ellbogen aufgekrempelten Hemdsärmeln stand der »Bulle«, wie der neue Wirt schon allgemein genannt wurde, hinter der Theke und wartete auf den erhofften Hochbetrieb. Den alten Hausdiener hatte man an die Luft gesetzt, dafür einen neuen gleich mitgebracht, der jetzt durch das Lokal flitzte.
An der sonst des Morgens immer vollbesetzten Theke blieb es heute verdächtig leer. Nur der Dicke Stern ließ sich, wie immer, seinen obligaten Korn einschenken. Der Budiker sprach kein Wort, auch die Gäste verhielten sich ungewohnt schweigsam. Mit mürrisch neugierigen Blicken sahen sie nach dem untätig hinter dem Ladentisch stehenden Wirt hinüber.
Thiele kam und holte den Dicken Stern ab. Er sah den neuen Wirt jetzt zum ersten Mal. Einen recht unangenehmen Eindruck machte der auf ihn. Als Stern und Thiele nachher die Straße entlang gingen, meinte der Dicke:
»Du, wenn ick ma nich mehr teische, denn wird der hier nich alt! Die Pinose riecht ma verdammt sauer!!!«
Mit diesem Orakelspruch war die Sache für ihn abgetan.
Gleich am Abend des ersten Tages kam es zu einem Zusammenstoß zwischen Wirt und Gästen. Ein paar junge Kerle hatten sich hinten im Raum mit den Weibern aus Spaß herumgebalgt. Wie ein grimmiger Spieß auf dem Kasernenhof bullerte der hinzugekommene Budiker los:
»Macht mir hier nich sone Afferei'n! Wenn ihr euch nich anständig benehm tut - ab durch die Mitte! Bei mir - Ejypten: Keilschrift! Merkt euch det. So'n Theater duld ick nich.«
»Hoho - immer scheen langsam!« meinten die zurechtgewiesenen Kunden und sahen den Bullen herausfordernd an. Der schaute sich um nach den anderen Gästen, aber auch da sah er nur lauter feindselige Mienen. Mit vor Verlegenheit knallrotem Schädel zog er sich hinter seine Theke zurück und spülte weiter seine Gläser. Das war der Anfang! Nicht sonderlich ermutigend für den Neuen. Kein Tag verging jetzt, ohne dass es im »Nassen Dreieck« nicht irgendwelchen Klamauk zwischen
Wirt und Gästen gegeben hätte. Es war ein regelrechter Kriegszustand, der sich da zwischen den beiden Parteien herausgebildet hatte. Halsstarrig widersetzten sich die Kunden den »neumodischen« Sitten und Gebräuchen, die der Bulle zwangsweise einführen wollte.
Ein paar Mal gab es großes Hallo von seiten einiger Kunden, die beim Begleichen ihrer Zeche feststellten, dass der Wirt ihnen zuviel angeschrieben hatte. Zuerst glaubte man noch gutmütig an einen Irrtum, als aber derartige »Irrtümer« immer wieder vorkamen, merkte man die böse Absicht und setzte sich energisch dagegen zur Wehr. Wenn der Bulle meent, er könnte uns bekleckern, denn solle noch wat aleben! schwuren die erbosten Gäste.
Als weitere Überraschung fanden die Kunden des »Nassen Dreieck« eines Tages, dass der Eingang zum Hinterraum der Kneipe versperrt war. Wie es hieß, sollte der Raum renoviert werden. »Jottvoll!« riefen lachend die Kunden. »Jloobt der denn wirklich, uns mit so'ne Mätzken zu imponieren?«
Während sie sich im vorderen Raum wie Heringe im Fass zusammendrängten, sich über den Bullen belustigten und Vermutungen anstellten, was der sich noch alles für Schikanen austifteln würde, war die nächste schon Tatsache geworden. An der Tür zur Toilette fanden sie ein Schild mit der Aufschrift:
»Nur für Gäste!!! Nicht-Gästen ist die Benutzung strengstens untersagt! - Der Wirt.«
Gleichzeitig wurde im Schankraum ein zweites Plakat angebracht; darauf hieß es:
»Stühle dürfen nur von Gästen benutzt werden, die etwas verzehren! - Der Wirt.«
Der Bulle war hinterher und passte wie ein Schlosshund auf. Die wäßrigen Vergissmeinnicht-Augen spähten nach allen Tischen und beobachteten genau, ob die dort sitzenden Kunden auch tatsächlich etwas verzehrten. Für die alte Stammkundschaft des »Nassen Dreieck« waren derartige Raffke-Methoden völlig neu. Alles in ihnen bäumte sich dagegen auf. Muttchen, die sich doch gewiss aufs Geschäft verstand, hatte darauf nie gesehen, ob ein Kunde bei ihr etwas verzehrte oder nicht. Und dieser Bulle wagte es.
Als der Dicke Stern mit Thiele und dessen Frau mal ahnungslos im »Nassen Dreieck« kaum Platz genommen hatten, kam der Bulle auf sie zu an den Tisch und polterte kurz angebunden grob los: »Wollt ihr wat zu drinken?«
Thiele sah erstaunt auf und wusste im Moment gar nicht, was er sagen sollte. Der Dicke Stern aber war schlagfertig und hatte sofort eine Antwort:
»Wenn't for lau is - na selbstverständlich doch!«
Wütend knurrte die Bulldogge von Wirt den Dicken an:
»Macht mir nich sone faulen Witze - mein Schanklokal is doch keene Wärmehalle un keen Wohltätigkeitsverein! Merkt eich det, damit ihr im Bilde seid!«
Den Bauch voll Zorn, murmelte Stern den Grobian an:
»So een Drecksack, vafluchta!« Einem krankhaften Zuge der Zeit folgend, brütete der bullrige Wirt des kaum wiederzuerkennenden »Nassen Dreieck« fast täglich neue »Notverordnungen« aus. Als der hintere Raum fertig gestrichen war, warnte eine solche neue Verordnung alle Gäste:
»Beschmutzen der Wände hat sofortige Ausweisung aus dem Lokal zur Folge! - Der Wirt.«
Infolge dieser unaufhörlichen Maßregelungen fühlte sich schließlich keiner der Gäste mehr im »Nassen Dreieck« wohl. Sie verwünschten den geldgierigen Machtbold mitsamt seinen »Notverordnungen« in den Abgrund der Hölle. Je schroffer der Bulle vorging, desto widersetzlicher, böswilliger wurden die Kunden. Der Krieg wurde mit immer härteren Waffen geführt.
Noch am Abend des gleichen Tages, an dem im neugestrichenen Hinterraum das Warnungsschild angebracht worden war, hatte irgendein erboster Kunde seine Bierneige gegen die Wand gegossen. Braun stand ein großer Fleck auf der weißen Leimfarbe. Wie ein aufs schwerste gereizter Stier tobte der Wirt herum, als er diese Schandtat entdeckte. Am liebsten hätte er die ganze Schweinebande auf seine (unsichtbaren) Hörner genommen.
Bei diesem Tobsuchtsanfall des Bullen saßen die Kunden da, als ob sie wie unschuldige Englein eben erst vom Himmel gefallen seien und gar nicht ahnten, dass es auf Erden soviel Schlechtigkeit geben könne. Innerlich aber kicherten sie vor Schadenfreude über die hilflose Wut des abgebrühten Halunken von Wirt, der da glaubte, an ihren Bettelpfennigen in kürzerer Zeit ein kleines Vermögen zusammengaunern zu können.
Irgendein neuer Schabernack, eine gegen den verhassten Giftmischer von Wirt gerichtete Bosheit schien jetzt schon zum Tagesprogramm des »Nassen Dreieck« zu gehören. Wie auf den »Clou« des Tages warteten die gelangweilten Kunden darauf, dass etwas geschah, was den leicht erregbaren Panscher wie einen aufgezogenen Brummtriesel im Lokal herumtanzen ließ.
Eben war es wieder soweit: der Bulle schäumte vor Wut! Seine Vergissmeinnicht-Augen waren mit roten Adern durchzogen und standen so prall hervor, dass die Kunden jeden Augenblick befürchteten, sie würden aus den Augenhöhlen herauskullern. Diesmal hatte er aber auch wirklich allen Grund, ein bisschen aus der Haut zu fahren. Die schöne neue gelbe Zuggardine, die er erst vor kurzem vor das Schaufenster des Hinterraumes gespannt hatte, war von ruchloser Bubenhand total zerschnitten und zerfetzt worden! Seine muskelbepackten Arme bis an die Schulter entblößend und blutrünstige Drohungen ausstoßend, raste der so schnöde am Geldbeutel Gekränkte durch die beiden Räume, dass die Gläser auf den Tischen furchtsam erzitterten. Diejenigen, denen dieser Vulkanausbruch von Verwünschungen und Drohungen galt, saßen in absoluter Gelassenheit an ihren Tischen und nahmen nicht die geringste Notiz von dem, was um sie her vorging. Wenn der Bulle bei ihnen vorbeifegte, hoben sie nicht einmal die Köpfe auf.
Diese niederträchtige Passivität der innerlich feixenden Halunken ließ den Tobenden vor ohnmächtiger Wut fast zerplatzen. Dumpf grollend zog er sich hinter die Theke zurück. Er sah ein, dass er eine neue Taktik anwenden musste, um aus diesem ungleichen Kampf als Sieger hervorzugehen. Durch eine neue Notverordnung wollte er in diese Front des passiven Widerstandes einen Keil treiben.
Wenige Stunden später prangte diese schon an der Wand:

Fünf Mark Belohnung zahle ich demjenigen, der mir die Halunken nennt, die in meinem Geschäft die Sachbeschädigungen verursachen.
Der Wirt

Wirkung dieses raffiniert ausgeklügelten Abführmittels war einfach verblüffend: Als der Bulle
nach Geschäftsschluss noch einmal durch alle
Räume ging, fand er den Klosetttrichter bis obenan
mit zerschlagenen Gläsern gefüllt!!!
Nichts ahnend kam am nächsten Morgen der Dicke Stern an, wie üblich auf nüchternen Magen einen großen Korn zu vereinnahmen. Der Bulle sah unausgeschlafen und krankhaft blaß aus. Einen ordentlichen Schreck bekam Stern, als der sonst überaus maulfaule Bulle ihn plötzlich ansprach. Mit halboffenem Munde starrte er den Budiker an, der, die Worte mühsam herausquetschend, zu ihm sagte.
»Sie sind doch hier eener der Ältesten, nich wahr? Können denn die Älteren nich een bißken uffpassen, det die Lauselümmels sich anständig bedragen dun? Jestern ha'm mir die Strolche 'n paar Dutzend Jläser zertöppert, ick werde die Burschen schon erwischen, denn haben die wahrhaftig nischt zu lachen. Ick meene, da müssen doch wenigstens die alten Jäste uffpassen.«
Mit einem undefinierbaren Grinsen blickte Stern auf den so wehleidig klagenden Bullen und wollte gerade etwas erwidern, als er bemerkte, dass Wilhelm Thiele von draußen hereinkam. Er rief ihn sogleich an die Theke.
»Morjen, Willem! Hör mal, dia wird det ja ooch intressieren, der Herr Wirt hat neemlich een Anliegen an uns. Er will, det wia hier sein'n Laden een bißken in Ordnung bringen. Wat meenste dazu? Mensch, kiek ma nich so doof an! Det is voller Ernst! Bist dir woll zu schade, Polizei zu spielen? Na - mia jeht's ja ooch so. Also: nischt for unjut, Herr Wirt! Aber schließlich sind Sie ja der Wirr un wia sind bloß janz jewöhnliche Jäste! Nee, wirklich, et tut mia uffrichtig leid, aber ick kann Sie nich helfen. Adjehs, - nochmals: nischt for unjut!!!«
Als er mit Thiele zur Tür heraus war, lachte er aus vollem Halse los:
»Ha-ha-ha-ha!!! Mensch, Willem! So een Dollpatz! Haste Worte? Ausjrechnet uns als Sittenknechte for nass angaschiern!!!«
Thiele hatte von den Vorgängen im »Nassen Dreieck« fast alles nur durch Stern erfahren. Er selber ging nur noch ganz selten des Abends in die Kneipe hinüber. Abend für Abend saß er in seiner Stube bei Minna und der Kleinen. Er nahm das winzige Mädelchen auf den Arm und tobte scherzend mit ihm in dem engen Raum herum, bis seine Frau Ruhe gebot und ihm die Kleine abnahm, um sie schlafen zu legen. Der sonst von allen Freuden des Lebens ausgeschlossene Mann ergötzte sich jetzt mit offensichtlichem Wohlbehagen an allem, was das kleine Lebewesen durch unartikulierte Laute und tapsige Gebärden zum Ausdruck zu bringen versuchte. Ohne sich darüber klar Rechenschaft zu geben, war er im Grunde genommen froh, dass das Kind da war und er sich desselben erfreuen durfte. Wenn es des Nachts munter wurde und zu schreien anfing, kroch er fix aus seinem Bett und legte das kleine Balg trocken. Wenn nur nicht die unaufhörliche Sorge um die Ernährung des Kindes gewesen wäre. Seine Frau konnte jetzt nur schwer ein paar Groschen mitverdienen. Nur die paar Aufwartestellen für einige Stunden am Tage hatte sie behalten. Sie bekam einige Groschen dafür. Wenn sie diese Arbeit erledigen ging, blieb das Kind bei Frau Kleist in der Küche.
Auf der Hetze nach ein paar Pfennigen Verdienst trabte Thiele von morgens bis abends kreuz und quer durch die Stadt. Es war unsagbar schwer, ja fast so gut wie aussichtslos, ein paar Nickel zu verdienen. Gab's denn überhaupt noch irgendwo Verdienstmöglichkeiten? War nicht schon ganz Berlin arbeitslos? Millionen von Menschen, die von Kind auf nichts als Arbeit und wieder Arbeit
kennen gelernt, deren Lebenszweck und Lebensinhalt nur Schufterei zu sein schien, liefen jetzt untätig herum, klagten und jammerten, stöhnten und fluchten über die verdammten, trostlosen Zeiten. Nur wenige merkten von alledem nichts, redeten aber mit, wenn wo von der schlechten Zeit gesprochen wurde, und erzählten herum, wie sie sich auch einschränken müssten. Sie trugen nach wie vor gute Kleidung und aßen gut zu Mittag. Überhaupt sagten sie nie: die Masse leidet Not! O nein! Dazu fühlten sie sich viel zu sehr mit dem Volk verwachsen. Also hieß es denn auch: Wir leiden Not! Sie sagten das in einem solchen Tonfall und mit einem solchen Ausdruck im Gesicht, dass man fühlte, die taten sich selbst leid, weil die andern hungerten.
Konferenzen zur Behebung der Wirtschaftspleite wurden abgehalten, Programme herausgegeben. Aber die Arbeitslosigkeit wuchs und wuchs weiter an, und mit ihr Not und Elend der Masse. Die geduldige Nachsicht, die unerhörte Leidensfähigkeit der durch eine wahnsinnig verfehlte Wirtschaftsordnung zu erbärmlichstem Siechtum, zu qualvollstem Untergang verurteilten und verfluchten Proleten schien einfach grenzenlos.

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