Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
http://nemesis.marxists.org

XV.

Mit seinen merkwürdigen »Erziehungs«-Maßnahmen gegen die tief eingefleischten Gepflogenheiten der Stammkundschaft des »Nassen Dreieck«
hatte der neue Wirt nach und nach die Gäste hinausgeekelt. In den entvölkerten Räumen lief er herum wie ein richtiggehender Bulle, dem man soeben einen eisernen Ring durch die Nase gezogen hatte.
Die vielen, vielen Kunden, die sich unter Muttchens mildem und trotzdem energischem Regiment vermehrt hatten wie Pilze im Mairegen, sie hatten sich verzogen. Die ehedem immer brechend volle Bude stand jetzt so leer, als sei die Pest dort eingezogen und habe alles Lebende in die Flucht gejagt. Auch hinten in den Logierräumen war's totenstill. Die weitaus meisten Betten standen Nacht für Nacht leer, obgleich der bullrige Schlummerboß die Preise für seine muffigen Flohkisten um 50% gesenkt hatte.
Dieser geschäftstüchtige Raffer schien am Ende seines Lateins. Wie konnte das alles nur so-o-o kommen? Gerade durch den bei Muttchen ständig herrschenden Hochbetrieb hatte er sich verleiten lassen, diese anscheinend unerschöpfliche Goldgrube zu kaufen. Und nun? Eine komplette Fehlspekulation! Woran lag das bloß? Etwa an ihm selbst? Ja, in der Tat. Er war eben zu schade für dieses verkommene Pennerzeug (so sagte er sich). Sein Privat-Schicksal hatte ihn für höhere Kulturaufgaben auserlesen. Das fühlte er ganz deutlich im tiefsten Innern seines Geldbeutels!
Nach mehreren schlaflosen Nächten hatte er ein neues Projekt ausgeschwitzt. Er wusste jetzt, welchen Kurs er zu steuern hatte, um das Ziel seiner Wünsche zu erreichen.
Am nächsten Morgen wurde die Rolljalousie vor der Eingangstür zum »Nassen Dreieck« seit vielen Jahren zum ersten Mal nicht hochgezogen. An den beiden Schaufenstern der Schankräume waren von innen zwei Plakate befestigt, die jedem, den es anging, verkündeten:

»Wegen vollständiger Renovierung vorübergehend geschlossen. Wiedereröffnung demnächst.«

Die Schaufenster wurden innen von unten bis oben mit Schlämmkreide abgeblendet, so dass niemand von draußen sehen konnte, was im Innern vor sich ging. Ein paar Arbeiter kamen, stellten Leitern an und begannen, die beiden großen blauen Firmenschilder mit der schon ziemlich verwitterten Aufschrift »Zum Nassen Dreieck« abzumontieren.
Unter den vielen Kunden, die den Staub des »Nassen Dreieck« von ihren abgelatschten Trittchen geschüttelt hatten und davongezogen waren, befand sich auch der Dicke Stern. Er war plötzlich sang- und klanglos verschwunden. Auch bei Thieles, seinen intimsten Freunden, hatte er sich schon seit Tagen nicht mehr sehen lassen. Thiele empfand das wie einen neuen schweren Verlust. Albert Stern, dieser Altmeister der Schnorrerzunft, dieser phlegmatische, humorbegabte Kerl, fehlte Thiele jetzt wie ein wichtiger Teil von seinem eigenen Ich. War Stern doch der einzige gewesen, mit dem er jederzeit reden konnte, bei dem er immer wieder Verständnis, Belehrung und Ermutigung gefunden hatte.
Gewiss, Wilhelm Thiele hatte seine Frau. Aber zu der stand er doch ganz anders! Was sollte er zu der mit seinen Sorgen und Klagen kommen, wo sie doch nicht weniger zu schleppen hatte als er. Sollte er ihr noch ein Teil seiner Sorgen aufpacken, die er sich doch gerade ihret- und des Kindes wegen machte? Konnte er darüber mit ihr sprechen, mit ihr, die doch selbst schon nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand. Mit ihr, die täglich rat- und hilflos mit ansehen musste, wie ihr Kindchen dahinsiechte, vor Entkräftung verdorrte wie eine Blume in trockner Erde? Nein, seiner Minna durfte er nichts mehr aufbürden von all dem, was ihn selbst fast zu Boden drückte und seine letzten, allerletzten seelischen Kraftreserven zu fressen drohte. Er musste jetzt sehen, wie er allein damit fertig würde.
Und wenn er darüber zugrunde ging, was dann? Würde sein plötzliches Verschwinden die allergeringsten Folgen haben für irgendwen, für irgendwas? Wilhelm Thiele kam sich so überflüssig vor. Er war doch weniger als nichts. Wenn er heute fortging aus diesem Leben, nun ja, dann war er eben fort. Als wenn er gar nicht gewesen wäre!
War dieses langsam zerstörende Bewusstsein seiner Minderwertigkeit etwa nur ein bloßer Wahn? Nicht eine unbestreitbare Tatsache? Wurde ihm der absolute Nullwert seiner Existenz nicht stündlich in die Seele gehämmert von dem Verhältnis, in dem er zu seiner Umwelt, seinen Mitmenschen stand? Was war denn in Wahrheit sein so genanntes »Leben«? Eine rätselhafte, undeutbare Hieroglyphe, von geheimnisvoller Hand mit flüchtigen Kreidestrichen auf eine schwarze, nachtschwarze Tafel gemalt. Ein nasser Schwamm fährt darüber, weg ist sie. Nicht einmal eine blasse Spur erinnert dann daran, dass sie einst gewesen ist.
Wenn dem aber so ist, wozu dann die ganze unaufhörliche Qual des Hinauszögerns, des In-die-Länge-Ziehens? Warum nicht lieber heute als morgen Schluss machen mit dieser Sinnlosigkeit, dieser kompletten Widersinnigkeit, die wir das »Leben« nennen? Was ist es, das uns alle, den einen genau wie den anderen, so zäh, so krampfhaft, so unnachgiebig, so bis zum Äußersten festhalten läßt an den Spinnwebenfäden, durch die wir mit der Welt verbunden sind???
Dieses rein instinktive, fast unbewusste, oft sogar ungewollte Haschen des Ertrinkenden nach dem Strohhalm musste doch einen Grund, einen vernünftigen, erklärbaren Grund haben. Und wenn es tatsächlich, wie ja nicht zu bezweifeln war, einen solchen Grund hatte, dann musste dieser doch einem bestimmten Zweck dienen, und zwar einem höheren, über dem unmittelbaren, dem Augenblickserfolg hinausliegenden Zweck. Unsere stärksten, geheimsten Triebkräfte zwangen uns also zur Erfüllung eines Zweckes, der nur in der Erhaltung des Lebens bestehen konnte. Wenn es so war, dann mussten doch auch die weiteren Mittel, die Nahrung, Kleidung usw. vorgesehen sein, die zur Erhaltung allein schon des rein animalischen Lebens unbedingt erforderlich waren. Wo waren diese Mittel? Wie konnte er selbst zunächst einmal sie erlangen, sie herbeischaffen???
Die Mittel waren da, sogar im Überfluss! Die Ladenbesitzer blieben auf ihren Waren sitzen, weil, wie Thiele, so Millionen kein Geld hatten zum Kaufen. Die Fabriken hielten ihre Tore geschlossen, weil für ihre Produktion keine Nachfrage bestand. Keine Nachfrage? Vor den mit Nahrungsmitteln gefüllten Läden brachen Menschen vor Hunger zusammen! Keine Nachfrage? Auf den Halden lagen die Kohlengebirge, und in Berlin erfroren in den Proletenwohnungen die Säuglinge!
Wie war das möglich? War das nicht eine brutale unmenschliche Unnatürlichkeit? Weshalb ließen sich die Millionen von heißestem Lebensdrang beseelten Menschen diese Unnatürlichkeit gefallen, obwohl sie wussten, dass sie von ihr um das bisschen Leben bestohlen wurden?
Warum schlossen diese Millionen vernunftbegabter Lebewesen sich nicht zusammen, um diese Unnatürlichkeit, die mit kalter Berechnung der Menschheit das Menschsein verwehrte, Trotz zu bieten, sie anzugreifen, niederzuringen und auszutreten?
Mit fiebernden Schläfen, vor Hunger bis zum Umsinken erschöpft, war Wilhelm Thiele den ganzen Tag einsam grübelnd herumgestreift. Wie ein vom Sturme in unbekannte Gewässer verschlagener Schiffer versuchte er, mit dem Senkblei seiner Vernunft die Tiefen seiner Erkenntnis, seiner Erfahrung auszuloten. Um einen Weg zu finden aus diesem Labyrinth von Klippen und Untiefen, die seinen morschen Lebenskahn von allen Seiten mit Vernichtung bedrohten.
Als er des Abends ziemlich spät nach Hause gekommen war und nun mit seiner Frau in der öden kalten Bude unter der schäbigen Bettdecke lag, vermochte er nicht einzuschlafen. In seinem fiebernden Hirn jagten in wildem Durcheinander noch immer die Gedanken herum, mit denen er sich den ganzen Tag abgequält hatte. Er fühlte ein unwiderstehliches Verlangen, mit einem einzigen Menschen wenigstens über das sprechen zu können, was ihn so sehr peinigte und nicht zur Ruhe kommen ließ. Er musste irgendwie damit ins reine kommen.
Zögernd weckte er seine Frau: »Du, Minna?«
Sie fuhr erschreckt hoch. »Wat is denn los? Wat willste denn?« fragte sie überrascht.
»Tja-a-a«, sagte er zögernd, »weeßte, Minna, ick wollte mal mit dia iber wat sprechen, wat mia schon lange jequeelt hat. Den janzen Dach ha'ck drieber nachjedacht. Kuck mal - wa lebn doch, nich wah? Na, det muss doch eene Bestimmung ha'm, det wa lebn. Un wenn det stimmt, denn missten wa doch ooch lebn kenn, ick meene det richje Lebn, also: nich hungern, nich friern un Kleeder ha'm un - un - eene Uffjabe afilln un so, nich wah? Vastehste mia, Minna, wia ick det meene?
Wenn ick iba allet so nachdenke, denn kommt ma da wat nich richtich vor. Kiekma, wenn' Vogel lebt, denn findt der ooch sein Futta, det is von Anfang an so injericht. Det heest natierlich, wenn nich jrade een Naturereichnis dazwischenfunkt oder wenn de Menschen ihn nich in'n Keefich injesperrt ha'm un vahungern lassen. Un so is't doch eijentlich mit allens in de Welt. Vastehste mia, Minna???«
Thiele bekam keine Antwort. Von ihm unbemerkt, war seine Frau wieder eingeschlafen. Da warf er sich mit einem Ruck auf die andere Seite herum und kroch tief mit dem Kopf in die Falten der Schlafdecke hinein.
Als er einige Tage später am »Nassen Dreieck« vorüberkam, sah er, wie ein paar Arbeiter gerade dabei waren, über den beiden Schaufenstern neue Firmenschilder anzubringen. Über der Ladentür prangte schon eins. Auf himmelblauem Grunde leuchtete weiß in verschnörkelten Buchstaben die Schrift:

»Zur Weissen Taube«

Zur Illustration des für manche Menschen vielleicht nicht ganz eindeutigen Textes war mitten darüber ein weißer Vogel gemalt, der allerdings weit mehr Ähnlichkeit mit einem Raben als mit einer Taube hatte.
In tiefes Nachdenken versunken, ging Thiele seines Weges. Das also war das Ende des »Nassen Dreieck«, der Kneipe, die ihm eine Zeitlang Heimat gewesen war, wo er in zwei Jahren mehr von den Schattenseiten des Lebens kennen gelernt hatte als zuvor in Jahrzehnten. Ganz deutlich sah er jetzt vor sich, wie er damals mit dem Zahmen Willi und der Einäugigen zusammen den schmutzigen Schnapsladen zum ersten Male betreten hatte. Er konnte sich noch an alles genau erinnern, als obs erst gestern gewesen wäre. Nun war das »Nasse Dreieck« nicht mehr. Die Einäugige war nicht mehr, war tot. Der Zahme saß irgendwo im Zuchthaus, auch der Dicke Stern war verschwunden! Das Leben aber ging unaufhaltsam weiter und mit ihm im gleichen Tempo sein Elend!!! Thiele hatte bei diesen Gedanken und Erinnerungen das Gefühl, als ob eine riesige eiskalte Faust ihm die Kehle zusammenpresste. Er atmete so schwer, so mühsam wie ein Erstickender.
In großen, duftig-weißen Flocken fiel der erste diesjährige Schnee über Berlin. Kaum, dass er die Straße berührt hatte, verwandelte er sich in graugelben Matsch, dessen eiskalte Nässe höchst unangenehm durch das kaputte Schuhzeug drang. Durch seine erbärmlich abgeschabte Kluft fühlte Thiele die Kälte dringen, seine Hände waren so klamm, dass er die Fingerspitzen kaum noch spürte. Um aus dem Schneegestöber herauszukommen, ging er in die Markthalle am Weddingplatz. Der Anblick der vielen Lebensmittel reizte seinen ausgehungerten Magen fast bis zur Unerträglichkeit. Vor einem der Verkaufsstände blieb er stehen. Mit dem Hute in der Hand wartete er bescheiden, bis der Standinhaber auf ihn aufmerksam wurde und nach seinen Wünschen fragte. Leise und schüchtern brachte Thiele seine Bitte um eine Gabe vor. Er wurde abgewiesen. Die Händler in der Halle wurden von »Stoßern« förmlich überlaufen. Bei seinen weiteren Versuchen, ein paar Brocken zu erbetteln, musste Thiele immer wieder hören:
»Nu macht bloß halbwegs! Sie sind heute schon der Soundsovielte! Wenn man jeden wat jeben wollte, denn könnte man bald selbst fechten jehn!«
Durch den Ausgang nach der Reinickendorferstraße verließ Thiele die Halle. Draußen war man schon dabei, Buden für den bevorstehenden Weihnachtsmarkt aufzubauen. Verdammt noch mal - ja doch! Weihnachten stand ja schon wieder bald vor der Tür, erinnerte sich Thiele. Vielleicht konnte man da ein paar Groschen verdienen. Sollte er nicht mal zu August Leiche rumgehen? Der hatte sich schon so lange nicht mehr sehen lassen. Der wusste doch bestimmt, wie und wo man ein bisschen verdienen konnte, jetzt zu Weihnachten. Daß er nicht schon früher darauf gekommen war! Sicher, August Leiche würde irgend etwas für ihn haben.
Thiele bog in die Liebenwalderstraße ein. Durch den dunklen Hausflur einer klamottigen Mietskaserne ging er über den ersten und dann den zweiten Hof auf das Quergebäude zu. Das waren ehemalige Pferdeställe, die man zu Wohnräumen umgebaut hatte. Über eine schmale Treppe gelangte Thiele zum oberen Stockwerk und befand sich dann auf einem dunklen Flur. Es roch durchdringend nach Katzen und Abort. An einem Halbdutzend Türen versuchte Thiele, im Scheine eines angezündeten Streichholzes die Namen zu entziffern. Endlich fand er ein Schild, auf dem mit Tinte gekritzelt war: »August Leiche - Amphibienhändler«. Die Türklingel war offenbar kaputtgegangen, sie funktionierte nicht. Mehrmals pochte er laut gegen die Tür, - aber hinter ihr regte und rührte sich nichts. Jetzt wurde nebenan eine Tür geöffnet. Eine ältere Frau kam heraus und fragte:
»Sie wollen zu Herrn Leiche? - Ja, der sitzt doch - wegen Wilddieberei!«
Thiele möchte gern mehr wissen. Aber mit der instinktiven Zurückhaltung, die den meisten Menschen in solchen Lebenslagen eigen ist, schaute die Nachbarin Thiele misstrauisch an und sagte:
»Mehr weeß ick ooch nich; ick kümmere mir nich um die Verhältnisse von andre Leite!«
Ganz niedergeschlagen zog Thiele ab. Wieder mal nischt! dachte er. Was er auch anpackte - alles ging schief! Eigentlich komisch, dass er immer wieder enttäuscht war. Er hätte sich doch schon längst daran gewöhnen müssen.
Ohne zu wissen warum, schlenderte er planlos zur Müllerstraße. Da wurde er plötzlich aufmerksam. Es wimmelte dort von armseligen grauen Gestalten. Eine Demonstration von Arbeitslosen! Die Bürgersteige waren gedrängt voll von zerlumpten, unterernährten Menschen, die sich immer dichter zusammenballten und mit heiseren Stimmen herausfordernd nach Arbeit und Brot schrieen. Ohne sich dessen recht bewusst zu sein, war Thiele sogleich mitten hineingeraten. Noch bevor der Zug der Demonstranten sich richtig geordnet hat, um die Straße entlang zu marschieren, kommen Polizeiflitzer herangesaust, die Beamten springen elastisch und schwingen die Gummiknüppel. Wild laufen die Demonstranten durch- und auseinander. Auch Thiele läuft davon, jagt fluchtartig die Straße entlang. Neben und hinter sich hört er das Tapsen von Mitflüchtenden. Sie überholen ihn, rasen vorbei, in Hausfluren verstecken sich einige, andere sausen um die Straßenecke. Thiele kann nicht mehr, verlangsamt seinen Lauf. Da hört er hinter sich das Klappern der schweren Polizeistiefel, ganz dicht hinter sich. Er bekommt einen schweren Schlag über die Schulter, taumelt nach vorn, beinahe stürzt er zu Boden. Leichenblass ist er vor Schreck und vor ohnmächtiger Wut! Er will sich umdrehen, da packen ihn ein paar Arbeiter rechts und links an den Armen und reißen ihn ungestüm mit sich. Bis er vor Atemnot nicht mehr weiter kann.
An einer entfernten Straßenecke hat sich ein Teil der auseinander gesprengten grauen Gestalten wieder gesammelt. Und wieder fangen sie an, nach Brot, nach Arbeit zu brüllen. Dumpf und schwer wälzt sich der Ruf durch die Straßen, von Gruppe zu Gruppe weitergetragen und immer von neuen Stimmen mit erhöhter Kraft aufgenommen. Die erneut heranrückenden Polizisten werden jetzt mit Pfeifen und Johlen empfangen. Als sie zum Angriff überzugehen drohen, spritzen die Arbeitslosen wieder nach allen Seiten auseinander, angstvoll schreiend suchen einige Frauen in den nächsten Häusern Schutz.
Ganz fanatisch geworden, ist Thiele überall dabei. Er denkt nicht daran, nach Hause zu gehen. Von dem brutalen Schlag mit dem Gummiknüppel schmerzt ihm die Schulter, dass er kaum den Arm zu bewegen wagt. Ein verhaltener Hass gegen die Blauen glimmt und schwelt in ihm. Um sich Luft zu machen, brüllt er sich seine Wut aus dem Leibe heraus, bis ihm der Schädel zu platzen droht. Wieder müssen sie sich die Straße entlang hetzen lassen.
Minna wartet zu Hause auf ihren Mann. Durch sein ungewohnt langes Ausbleiben beunruhigt, war sie schon ein paar Mal vor die Haustür gegangen, um sich nach ihm umzusehen. So lange war er doch noch nie ausgeblieben. Sollte ihm etwas zugestoßen sein?
Bleich und unterernährt lag das Kind im Waschkorb und schlief. Beim Atmen röchelte es wie ein Schwerkranker. Greisenhaft verschrumpft war das Gesicht des armen kleinen Wurms anzusehen.
Minna Thieles Gedanken waren nachtschwarz. Im Geiste sah sie sich am Ufer des Nordhafens gehen, ihr Kind auf dem Arm. Mit Schaudern fühlte sie, wie sie im eiskalten Wasser versank, tiefer und immer tiefer versank, bis in die Unendlichkeit. Plötzlich schreckte sie aus ihrem verzweifelten Gedankenspiel mit dem Tode auf. Hatte sie nicht eben Schritte gehört? Sicher doch! Das war ihr Mann! Sie erkannte ihn genau am Gang.
Als er langsam in die Stube trat, schaute sie ihn bestürzt an. Er sah so elend aus! Aus dem zu weit gewordenen Hemdkragen ragte dünn und krankhaft gelb der magere Hals hervor. Tiefe Schattenringe lagen um seine flackernden Augen, führten unter den hervorstehenden Backenknochen bis zu den Ohren hin. Sein ganzer zusammengeklappter Körper schien wie von einem bösartigen Fieber geschüttelt zu werden. Minna war ernstlich besorgt. »Wie siehste bloß aus, Willem? Du jefällst mir janich! Wat haste denn?«
»Ach, nischt, Minna! Nischt, - et wird schon wieder jut werdn, - ick fiehle mia bloß so hundsmiserabel. Laß man... «, so wehrte Thiele die besorgten Fragen der Frau ab.
Er ging zum Fenster, wo der Tisch stand, und setzte sich schwer auf den Stuhl. Plötzlich ließ er seinen Kopf nach vorn auf die Tischplatte fallen, zog beide Arme wie schützend vor sein Gesicht. Wilhelm Thiele schluchzte!
Sein Rücken ging auf und nieder, der ganze Körner zuckte wie in Krämpfen. Minna stand wie erstarrt mitten im Raume und blickte völlig rat- und hilflos auf ihren Mann. Noch nie hatte sie ihn weinen gesehen.
Das im Wäschekorb schlummernde Kind bewegte sich unruhig, öffnete die Augen, blickte suchend umher, verzog weinerlich das kleine Gesicht und fing dann plötzlich an, laut zu schreien. Minna ging zu ihrem Mann, legte ihm die Hand auf die Schulter. Sagte tröstend:
»Weene dir man ruhig aus, det tut jut, nachher Hehlt man sich denn een bißken leichter.« Nach einer Pause fügte sie leise hinzu: »Wir haben nu
eenmal keen Jlick, Willem-------« Sie hatte Mühe,
nicht selbst loszuheulen.
Thiele hob sein tränennasses Gesicht auf und schaute die Frau an. Er riss sich zusammen, um das Weinen zu unterdrücken. Wie zur Entschuldigung erklärte er ihr dann:
»Du verstehst mir doch, Minna? Sieh mal, det hält uff die Dauer keen Pferd aus, det Leben! Da muss man doch schließlich mal zusammenklappen un schlappmachen.«
»Ick vasteh det allens jut, Willem! Ick hab doch ooch een Herz im Leibe un weeß, wie dia zumute sein muss. Nee, Willem, du kannst doch nischt dafor!«
Mit dankbar zärtlichen Blicken sah Thiele auf sein verständiges Weib.
»Minnakin, du bist wirklich jut zu mir, - wenn ick's dia bloß mal wiederverjelten könnte - - -«, presste er gequält durch seine ihm erbärmlich scheinende Hilflosigkeit hervor.
»Det wird allens schon mal werdn«, beruhigte sie ihn. Bei diesen Worten holte sie ein paar Stullen herbei, die sie ihm zuschob. Ermunternd forderte Minna ihn auf:
»Da, nu eß mal erst een bißken wat!«
Verwundert blickte Thiele auf die Brotschnitten und dann auf seine Frau. Er wusste genau, dass sie heute morgen nicht einen roten Pfennig besessen hatte. Ihre Aufwartestelle hatte sie ja doch seit Wochen auch nicht mehr. Die Hausfrauen sparten die paar Groschen und klaubten ihren Dreck alleine.
»Nanu, woher haste denn det?«
Forschend blickte er die Minna an. Sie wandte
sich schnell ab, um ihr Gesicht zu verbergen, und sagte so obenhin:
»Ick erzähl et dia nachher, - nu eß man, damit du wat in'n Magen kriegst, - denn wird dia ooch wieda bessa wern... «
Als sie zu Bett gegangen waren und still nebeneinander lagen, erzählte sie ihm, dass sie heute das Kind auf den Arm genommen hatte und - betteln gegangen war. Wie um Entschuldigung bittend und um ihr Verhalten verständlich zu machen, fügte sie hinzu:
»Bloß in een paar Häuser, - weeßte, Willem, 'ner Mutta mit'n Kind uffn Arm jeben de Leite noch eher wat wie 'nem Mann.«
Mit stockendem Atem hörte Thiele ihre »Beichte« an. Er erwiderte kein Wort. Unsäglich erbärmlich und dreckig kam er sich vor. Soweit war es also schon gekommen!
Von nun an ging Minna Thiele jeden Tag auf Bettelfahrt. Nicht den ganzen Tag war sie unterwegs. Sie lief so lange die Häuser ab, bis sie einige Paar Stullen und ein paar Pfennige zusammen hatte. Dann eilte sie wieder nach Hause. Wenn Thiele des Abends ausgehungert und durchfroren in die Stube kam, fand er immer etwas zu essen vor. Aber diese Bissen wollten nicht rutschen, trotz seines riesigen Hungers. Er würgte förmlich daran, um sie herunterzubringen.
Ja, herrlich weit hatte er es gebracht: Wilhelm Thiele, Ehemann und Familienvater! Noch weniger als der armseligste Penner war er jetzt. Von den Fechtbrocken seiner eigenen Frau musste er sich nähren, um nicht vollends zu verhungern. Er hätte sich vor Verzweiflung selbst ins Gesicht spucken mögen, so jammervoll, so gotterbärmlich, so abgebrüht kam er sich vor. Weshalb griff er nicht endlich zum Strick oder sprang er nicht aus dem Bodenfenster auf den Hof hinab, um Schluss zu machen mit diesen Erniedrigungen ohne Ende, mit diesem ganzen tausendmal verfluchten Mist? Dann hatte er all diesen Dreck doch hinter sich. Was hatte er denn überhaupt noch zu verlieren? Rein gar nichts. Denn was noch vor ihm lag, war doch nur die Aussicht, immer tiefer in Mist und Jauche hineinzugeraten.

Aber Wilhelm Thiele dachte nur so. Er machte nicht Schluss mit dem Elend, das ihn längst in seinen brutalen Fängen hielt, mit Haut und Haar fraß; das ihn so festhielt, dass er sich zu keinem ernsthaften Entschluss mehr aufraffen konnte. Taumelnd ließ er sich vom Strom der Ereignisse weiterschieben. Unverdrossen latschte er durch den Schneematsch auf den Straßen, selten aber bemühte er sich noch, die Treppen in den Häusern emporzusteigen, um als Fechtbruder an die Türen zu klopfen. Gerieten ihm durch irgendeinen Glücksfall wirklich mal ein paar Pfennige in die Hand, dann trug er sie nicht etwa nach Hause, sondern in die erstbeste Destille, die ihm in die Quere kam. Der Suff schien jetzt die einzige Erlösung von seinem Elend zu sein. Im Dusel vergaß er alles, was ihn sonst bis zum Irrsinn peinigte. Und er war meist schon von ein paar Gläsern Fusel total fertig. Der
ausgehungerte Magen trug dazu bei, dass Thiele schon nach dem ersten Schnaps ins Schwanken geriet. Mit verschwommenem Blick, der die Dinge außen und innen weniger krass, weniger brutal erscheinen ließ, taumelte er die Straße entlang. Thiele kümmerte sich den Teufel darum, was die Vorübergehenden von ihm dachten. Mochte die ganze Welt ihm den Buckel runterrutschen! Was fragte er jetzt noch nach der Meinung der Menschen?
Diese Menschen aber dachten anders darüber. Empört sahen sie ihm nach, wenn er vorbeigeschaukelt war, und sagten dann zu sich oder zu den andern:
»Da sieht man's ja wieder, dieses Lumpenpack! Gibt man gutherzig so einem Kerl einen Groschen, dann geht er hin und versäuft ihn. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein, am besten tät man, überhaupt nichts mehr zu geben.«

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur