Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Otto Nagel – Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck (ab 1928)
http://nemesis.marxists.org

XII.

In den nächsten Monaten hatten die beiden Thieles ihre bisher schlimmste Zeit durchgemacht. Weihnachten war vorüber und auch Neujahr überstanden. Jetzt ging es langsam aus dem Winter hinaus.
Mit seinem weißbärtigen Freund Leiche ging Thiele jetzt öfter auf den Vogelfang. Hinter Hermsdorf zogen sie manchmal hinaus, um dort Zeisige, Stieglitze und andere gefiederte Sänger zu fangen. Thiele erstaunte immer wieder, mit welcher Raffinesse sich der Alte auf derartige verbotene Dinge verstand. Die Vögel flogen nach den Stauden des wilden Tabaks, der dort bei Hermsdorf stellenweise meterhoch stand. Diese Stauden wurden von den beiden Vogelfängern teilweise heruntergetreten, um Platz zu schaffen für das Setzen von Leimruten.
Diese Leimruten waren mit Leim bestrichene Birkenspitzen, die nun schräg in die Erde gesetzt wurden. Wenn die ahnungslosen Vögel dann futtersuchend nach dem wilden Tabak flogen, blieben sie an den Leimruten hängen und konnten mit leichter Mühe gefangen werden. In Berlin wurden die Tiere als Ziervögel für die Stube unter der Hand verkauft. Die Inhaber der Vogelhandlungen lehnten den Ankauf in der Regel ab, weil sie befürchteten, auf Grund des Vogelschutzgesetzes sich strafbar zu machen. Zeitweise verdiente Thiele ganz gut bei diesem Geschäft, das ihm selbst eigentlich nie so recht zusagen wollte.
Interessant für Thiele war es, dem alten ausgekochten Weißbart zuzusehen, mit welcher Sachkenntnis und Gründlichkeit er die Vorbereitungen für solche Expeditionen traf. Da war das Kochen von Vogelleim, das meistens am Abend vor einem Fangtag in Thieles Küche stattfand. Eine Flasche Firnis wurde in einen Kochtopf gegossen und aufs Feuer gesetzt. Der kochende Firnis wurde dann angezündet, dass er lichterloh brannte. Durch luftdichten Abschluss mit dem Topfdeckel wurde der Brand dann rasch erstickt. Ein unerträglich widerlicher Gestank erfüllte dabei die ganze Bude und verbreitete sich durch das Haus bis zu den obersten Wohnungen. Jetzt war man fertig. Der auf diese Weise hergestellte Vogelleim klebte wie die Pest!
Wieder gings auf den Frühling zu. Seit der verhängnisvollen Katastrophe beim Kabelstehlen waren schon zwölf Monate vergangen. Mit der Kneschken Stands schlecht. Minna hatte sie mehrmals im Jüdischen Krankenhaus, wo sie Aufnahme gefunden hatte, besucht. Sie wog nur noch achtzig Pfund. Ihr Gesicht war so zusammengeschrumpft, dass es anzusehen war wie das eines verkümmerten fünfjährigen Kindes. Die Kneschken wusste, wie es mit ihr stand, und machte sich keinerlei Hoffnungen mehr auf Wiedergesundwerden.
Als Minna, um etwas zu sagen, in der üblichen Weise von Besserwerden sprach, wehrte die Kranke müde ab:
»Ick weeß, det et mit mia zu Ende jeht - wenn et bloß erst vorbei war!«
Als Ersatz für den verhafteten Paul Schmidt hatten Thieles einen neuen Mieter gefunden, der Frau Kneschkes Küche am Ersten beziehen wollte. Sie mussten sich darum bekümmern, weil ihnen als Untermieter sonst auch ihre Stube gekündigt worden wäre. Dann hätten sie auf der Straße gelegen.
In den Tagen vor Ostern gab's für Thiele wieder ein paar Groschen zu verdienen. Zusammen mit Leiche und Stern zog er in die Waldungen draußen hinter Haakenfelde, um »Oster-Kätzchen« zu holen. Leiche wusste genau, wo Edelweiden standen, die knospenden Zweige der gewöhnlichen Weiden brachten zu wenig und waren schwerer zu
verkaufen.
Wie Sumpfvögel stelzten die drei »Naturforscher« in dem tiefliegenden Gelände umher, balancierten vorsichtig über verdächtig dünne Eisflächen, die das sumpfige Wiesenland teilweise noch bedeckten. Mehrmals brachen sie ein und rutschten bis an die Knie in die kalten Wasserpfützen. Lachend und fluchend turnten sie weiter herum. Sie mussten dabei nach allen Seiten wachsam Umschau halten, denn die Forstbeamten waren scharf hinter den Kätzchensuchern her. Nachdem die drei einen ordentlichen Haufen zusammengebracht hatten, teilten sie diesen in drei Teile und verpackten sie in die mitgebrachten Säcke. Dann ging es auf Schleichwegen zum Bahnhof. Zu Hause mussten die Kätzchen, die noch mit einer feinen braunen Schutzhaut versehen waren, erst einzeln »gepellt« werden. In kleine Sträuße zusammengebunden, wurden diese dann vor den Kirchhöfen in der Seestraße losgeschlagen.
Während Thiele ein paar Mark zu verdienen suchte, stand Minna in den letzten Tagen vor Ostern vor der Markthalle am Weddingplatz und handelte mit Eierfarben: »En Jroschen det Paket!!!«
Am Dutzend verdiente sie sechzig Pfennige. Die Frau, der man es jetzt schon ansah, dass sie schwanger war, rief durch ihren Zustand bei den Arbeiterfrauen Mitleid hervor. Am Tage vor Ostern gelang es ihr, anderthalb Dutzend Pakete zu verkaufen. Sie hatte also neunzig Pfennige verdient.
Von dem gemeinsamen Verdienst der letzten Woche hatten Thieles nur die allernotwendigsten Ausgaben gemacht. Ein paar Emchen, die sie überbehalten hatten, wurden vorsorglich auf die hohe Kante gelegt. Dann konnte man sich sogar erlauben, einen ganzen Tag keinen Finger krumm zu machen.
»Raus mit de Zicke an de Friehlingsluft!« hatte Thiele am zweiten Ostertage zur Minna gesagt und sie unterm Arm genommen, um einen kleinen Spaziergang ins Grüne mit ihr zu machen.
Arm in Arm wanderten sie hinaus. Vorbei an Fabriken, Lagerschuppen, Laubenkolonien und Friedhöfen. Es war das richtige »Kneif«-Wetter! So hatte seine Mutter dieses Wetter immer genannt, wenn das grelle Licht des nur teilweise bewölkten Himmels die Augen blendete, dass man sie zusammenkneifen und dabei ulkige Grimassen schneiden musste.
Wie sich das hier draußen im Laufe der Jahre alles verändert hatte! Nur hin und wieder sah Thiele Gebäude oder Örtlichkeiten, die ihm noch bekannt waren. Erinnerungen wurden in ihm wach. Innerlich ganz warm wurde er. Für Minuten fühlte er sich wieder als der ungestüme Zwölfjährige, der hier mit den andern Jungen herumtobte und so manchen Schabernack, so manchen Lausekrötenstreich verzapft hatte. Alles schien wieder vor ihm lebendig zu werden.
»Sieh mal, Minna, da drieben uff de Promenade ha'ck vor - - - na vor Sticker die finfunzwanzig Jahre - Koks jesucht aus die Aschenhaufen, die de uffjeschitt hatten. Meine Mutta war ja eijentlich dajejen, aber wenn ick unvermutet so'n Schrippenbeitel voll Koks za Hause brachte, hatse sich doch immer mechtig jefreit. Und da hinten, siehste, det rote Haus, det war de Luxuspapierfabrik von Albrecht und Meester, un'n Stick weita, wo de Laubn stehn, det war unser Fußballplatz! Junge, Junge, ick saache dia, da is manchet Tor jeschossen, aba ooch manchet Schienbeen kaputt jetreten worn.
Fast alle, die damals mit dabei warn, sinn nu woll längst dot! Een paar sinn ja schon vorn Kriech gestorbn; de meisten aba in'n Kriech!
Da warn zwee Zwillinge, die kriechten mit eenmal de Jalloppierende; un ihr Bruda, der dritte, versoff in Tejel beit Badn. Die andern Jungs sinn woll so jut wie alle jefalln. Ick hab' fast keen von se wiedajesehn. Da der Bomme Fetzrat - eene janz dolle Marke, saache ick dia! Bei alle Keilereien, die in unsern Kietz vorkam'n, war er der Stoßer - vor keen hat er sich gefircht, imma vorne weg! Eene janz kesse Kreete war det! Uff de Stirn hatte er 'ne dreifingerbreite Narbe; - da hatte een so'n langer Lulatsch ihn mal mit 'ne Wagenspeiche eens vorgewischt! Ja, un als diese Bomme in'n Kriech musste, da hat er jeweent wie'n kleenet Kind! Nich etwa aus Angst! -Det wa woll mehr so die Ahnung, die er jehabt hat.
Na, - ooch er is draußen jeblien------Ja, Minnekin,
wenn ick so an allet denke! Da war een anderer, der konnte stehln wie'n Rabe! Mit'n vanickelten Fennich jing der keß int erste beste Zijarettenjeschäft und koofte forn Sechser drei Stick Bolero Blaukopp, - un wenna rauskam, denn hatte er noch 'n Katong mit hundert Stick unter de Jacke!
Weeste, Minna, so sehr ick diese freche Lausekreeten damals bewundert hab, mitzemachen draute ick ma doch nich! Ick hab immer so'ne ei jenartige Scheu jehabt un bloß imma von weiten zujekiekt, wenn se uff Räubereien ausjingn. Un wat die alle vazappt ha'm! Bei de Obst- und Kolonjalwarnjeschäft durfte nischt vor de Diern stehn, da langten se im Vorbeijehn mit eene fabelhafte Jeschicklichkeet rin! Wo een Schokladenautomat war, der wurde uffjebrochn! Kam een Selterwasserwagen vorbei, schwuppdich! da hatten se schon een paa Flaschen runterstiebitzt, die se dann aussoffen un nachher bei Likör-Meyer im Kella wieda vakooften.«
Eine Weile gingen die beiden in Gedanken versunken weiter. Dann fing Thiele wieder an:
»Kiek mal, hier drieben war det Akazienwäldchen, det war scheen da, Minna! Tiefe Höhlen jab's da - un hier jing 'n Weech runta nach de Seestraße - uff beede Seiten warn Hecken, so hoch wie icke-, un Hummels ha'm wa da jefangn. In unsern Unvastand ha'm wa die een Faden ant Been jebunden un denn mit fliejen lassen. Un wenn die Weißdornhecken jeblieht ha'm, kriechten se sone scheene kleene weiße Blümkens! In eene Ausbuchtung von de Hecken ha'm se eenes Dags eenen Doten jefunden... «
Wie trunken wühlte Thiele in seinen Kindheitserinnerungen; längst vergessen Geglaubtes stand wieder in voller Lebendigkeit vor ihm. Mit ihrem hohen Leib ging seine Frau zufrieden neben ihm her und hörte aufmerksam zu, was er ihr aus seiner Kindheit erzählte. Sie war glücklich, wenigstens für einen Tag einmal nicht an das Morgen denken zu müssen: zu essen hatten sie ja für die nächsten Tage.

Der neue Mieter war inzwischen in Frau Kneschkes Küche eingezogen. Thiele kannte den kleinen Schautermann mit der brennendroten Sturmtolle und der großen schwarzen Brille auf der Himmelfahrtsnase aus dem »Nassen Dreieck«, wo das kleine Monstrum schon seit längerer Zeit verkehrte. Er hieß Kleist, Hermann Kleist, -wurde aber allgemein nur »Jesusgreifer« genannt.
Dieser puppige, struppige Jesusgreifer war höchstens einsvierzig groß oder vielmehr klein: seine Frau aber, unter dem halblangen Rock schauten ein Paar O-Beine hervor, war noch eine Portion kleiner. Um ihrer Körper-Kürze eine Elle hinzuzusetzen, trug sie stets eine auffallend hohe Frisur, deren Gerüst aus einem solchen Haufen Rosshaar bestand, dass man gut und gern eine Kindermatratze damit hätte stopfen können.
Völlig aus der Art geschlagen war die zehnjährige Tochter des Kleistschen Ehepaars: gertenschlank war sie ins Blaue emporgeschossen und war so-o mager, dass sie sich beinahe hinter einem Besenstiel hätte auskleiden können, ohne überhaupt bemerkt zu werden.
Als Wilhelm Thiele am Tage nach dem Einzug der Familie Kleist durch die Küche kam, gewahrte er etwas so Seltsames, wie er es als Berliner Kind in seinem bisherigen Leben noch nie gesehen hatte. Vor dem Küchenfenster war eine leere hohe Kiste aufgestellt, auf der ein Kruzifix thronte. Daneben steckten in primitiven Holzleuchtern ein paar ganz dünne Kerzen. Die schwarzverräucherten Küchenwände waren ringsherum mit Öldrucken beklebt, Darstellungen der Gottesmutter mit dem Jesuskinde und anderer Heiliger... Völlig überrascht und verständnislos starrte Thiele auf all diese Dinge. Scheu von unten herauf, so dass er über den Rand der großen runden Brillengläser hinwegschielte, blickte das kleine rothaarige Unikum Thiele fragend an, als ob es ein Werturteil von ihm erwartete.
Da Thiele den alles andere als christlichen Lebenswandel der verkommenen kleinen Schnapsdrossel des »Nassen Dreieck« zur Genüge kannte, vermochte er nur zu stammeln:
»Na, weeßte - det is ja allerhand!!!« - Dann zog er ganz bedeppert die Tür hinter sich zu.
Nach und nach lernten Thieles die Gepflogenheiten ihrer religiösen Mitbewohner näher kennen. Oft bekamen diese Besuch von angejahrten Damen, deren bis zum Hals geschlossene schwarze oder dunkle Kleider mit über dem Latz baumelndem Kreuz sie auf hundert Schritte als Betschwestern von Beruf erkennen ließen.
Auffallenderweise war der gerissene Rotkopf nach solchen frommen Besuchen immer bei Kasse. Ein untrügliches Kennzeichen dafür, dass er Geld hatte, war sein Besoffensein. War er aber besoffen, gabs in der Küche Geschrei; denn dann verprügelte er seine Frau und auch das Kind nach Strich und Faden. Vorausgesetzt natürlich, dass das Kind gerade zu Hause war, was nicht allzu oft vorkam, weil die Kleine über Tage bei einem Schlächtermeister in der Nähe mit dessen blödem Mädel spielen musste.
Die Ehe der Schlächtersleute war mit einem blöden Kind belastet, das oft epileptische Anfälle bekam und dann wie irre um sich schlug und jeden biss, der in seine Nähe kam. Wenn dieses Geschöpf sich auf der Straße sehen ließ, liefen die andern Kinder angstvoll schreiend davon. Mit einer wahrhaft himmlischen Geduld ließ die kleine Kleist sich von dem blöden Kind die ganze Woche über prügeln, stoßen und beißen. Alles im Hinblick auf das Paket Abfallwurst, das ihr Vater von den Schlächtersleuten des Sonnabends als Lohn erhielt.
Einmal, in einem unbewachten Augenblick, war der Schwachsinnigen eine Schere in die Hände geraten. Mit der lief sie wild fuchtelnd herum. Die kleine Kleist hatte Angst und wusste nicht mehr ein noch aus. Sie jagte in der Stube herum und das Mädel mit der Schere hinter ihr her. Bis es ihr endlich gelang, das Handgelenk der wildschreienden Kranken zu packen und ihr die Schere abzunehmen. Dabei wurde die Kleist aber doch verletzt. Als sie das Blut sah, fing sie an, laut zu weinen. Die Frau Schlächtermeister kam auf das Geheul hin hereingestürzt, und als sie sah, dass nicht ihr Kind, sondern das andere verletzt war, tat sie ganz empört:
»Was heulste denn so wegen dem kleinen Riss wo du doch vorhin den schönen Pudding bekommen hast!«
Der Stolz des Jesusgreifers war sein »Kleener«,
der ihm von der Jugendfürsorge fortgenommen
worden war, weil er ihn gewissermaßen zum gewerbsmäßigen Betteln verpumpt hatte. Wenn der Rothaarige von diesem kleinen Knirps erzählte, war er ganz aufgeregt und wusste nicht genug zu rühmen, was für ein tüchtiger Junge das schon von der Windel an gewesen war.
»Tja - mein Kleener!« sagte er zu Thieles. »Det reene Wunderkind, kann ick Ihn vasichern. Den hättense mal sehn solln! Wenn ick mal 'ne Katze jeschlacht hatte, war er nich wechzukriejen. Vada, But, But, But, hat er immer jerufen un vor lauter Freide mit de Beene jestrampelt. Wose den min wechjeholt ha'm, Mensch, da wa'ck reene aut't Heiske! Ick ha' sonne Wut jehabt, det ick meine Olle hin (er zeigte mit dem Daumen auf seine zwerghaft kleine Frau, die mit über dem Leib gekreuzten Armen und einem feinen Lächeln im Gesicht neben ihm stand) windelweich gehaun habe - - - in't Gerhardt-Stift mussten se de Olle bring'n!«

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur