XI.
Tag für Tag und Nacht für Nacht grübelte Wilhelm Thiele über sein trost- und hoffnungsloses Schicksal. Am Anfang und am Ende seiner zermürbenden Grübeleien stand immer wieder nur ein Gedanke: Arbeit!! Eine hundertmeterdicke, unübersteigbar hohe Mauer schien sich zwischen ihm und der Arbeit aufgetürmt zu haben. Mit seinen Gedanken versuchte er diese Mauer zu durchbohren, immer wieder, unermüdlich. Aber nicht einen Millimeter kam er in die harte Masse hinein. Manchmal senkte er den Kopf wie eint gereizter Stier und
rannte blindlings gegen diese Felsenwand. Bums! Sie rührte sich nicht. Sein mürber Schädel aber trug Wunden und Beulen davon!
Links und rechts, an allen Seiten Millionen von Thieles, die sich wie er abmühten, Breschen in die Mauer zu legen, aber gleich ihm auch nur ihr Blut daran verspritzten, sich den Schädel daran einrannten und hilflos vor ihr verreckten.
Einige Überkluge versuchten es auf andere Weise. Sie schlossen sich zu einem Kreis zusammen und bliesen riesige Seifenblasen. An die suchten sie sich zu klammern, um sich so über die Mauer hinübertragen zu lassen. Wenn sie mit derbem Griff zupackten, zerplatzten die schillernden Blasen und ein Tropfen Seifenwasser fiel zur Erde.
Gab es denn gar keine Möglichkeit, das Hindernis zu beseitigen? Die Millionen Köpfe und Hände könnten zupacken und, hastenichgesehen, zum einheitlichen Angriff gegen das Ungetüm vorgehen. Dann musste es ihnen gelingen, einen gangbaren Weg durch die hundertmeterdicke Mauer zu reißen, einen Weg aus der Hölle der Arbeitslosigkeit in eine bessere Wirtschaftsordnung zu bahnen. Prost Mahlzeit! Leute vom Schlage Thieles (und sie zählen nach Millionen) machen da nicht mit. Sie begnügen sich mit dem Blasen der Seifenblasen oder rasen sinnlos mit dem Schädel gegen die steinernen Schranken, bis ihnen das bisschen Hirn vollends verspritzt. Als Gehirnkrüppel vegetieren sie dahin, bis sie eines schönen Tages verenden, wenn sie sich nicht schon vorher selbst auf den Leichenberg oben drauf legen.
In furchtlosem Grübeln hungerte Thiele mit seiner Frau weiter. Ihre Kleidung war schließlich vollkommen abgerissen. Minna hatte neulich von einer Frau, bei der sie hin und wieder die Wohnung saubermachen durfte, ein Paar Schuhe mit festen Sohlen geschenkt bekommen. So war sie fein heraus! Sie hatte bei allem sonstigen Elend wenigstens trockene Füße in diesen regnerischen Herbsttagen. Thieles Schuhe dagegen waren völlig durchgelaufen. Er fühlte schmerzhaft jedes Steinchen, auf das er trat, und wenn es regnete, waren seine durchlöcherten Strümpfe pitschnass, wie ein vollgezogener Schwamm. Bei jedem Tritt spritzte das Wasser nur so aus den Stiefeln heraus!
Bei der endlosen Jagd nach irgendwelchen Verdienstmöglichkeiten war Thiele auf einen alten Dreh gekommen. Er ging täglich hinaus nach den westlichen Stadtteilen. In den Neubauhäusern klopfte er an die Türen, fragte, ob er irgendeine Handreichung tun, Mülleimer heruntertragen, Teppiche klopfen oder andere Hausarbeiten verrichten dürfe. Meistens wurde ihm die Türe vor der Nase zugeknallt wie dem schäbigsten Bettler. Manchmal hatte Thiele Glück, verdiente auf diese Weise ein paar Pfennige. Eines Tages aber gewann er das »große Los«! Er durfte beim Abladen einer ganzen Fuhre Briketts helfen. Mit Feuereifer ging er an die Arbeit. Sein ausgemergelter Körper brach unter der Last der zentnerschweren Kästen, die auf seinen Buckel drückten, fast zusammen. Fest biss er die Zähne zusammen, als er fühlte, dass die
Schulterpartien wundgescheuert waren. Die Traggurte der Kästen schnürten ihm die Luft ab, das Blut zersprengte fast die Halsschlagadern, und die Augen quollen ihm vor Anstrengung weit heraus. Er hielt aber aus. Mit aller Energie riss er sich zusammen, bis der Wagen leer war. Wie im Fieber malte er sich die Freude seiner Frau aus, wenn er ihr heute abend ein paar Mark auf den Tisch legen konnte. Von der U-Bahnstation rannte er im Trab nach Hause. Das Geld hielt er fest in der Hand! Er fürchtete, etwas davon zu verlieren. Ein kleines Vermögen schien es ihm, was er heute verdient hatte. Sonst waren es immer nur ein paar Pfennige, meist aber überhaupt nichts, das er der Minna geben konnte.
Nach solchen, sehr seltenen, Glückstagen machte sich das Elend nur noch härter fühlbar. In der letzten Zeit war er oft nahe dran, sich widerstandslos gehenzulassen. In einem solchen Augenblick sagte er mal zu seiner Frau:
»Weeste, wenn man sich det allens so überlegt -zu wat quält man sich eijentlich noch weiter hin? Et lohnt sich wirklich nich mehr! Det Beste wär, man machte Schluss mit de janze Elend. Wozu den Blödsinn in de Länge ziehn? Nischt in'n Leib und nischt uffn Leib rennt man Dag für Dag rum un müht sich, aus dem Dreck rauszukomm - rutscht aber bloß immer tiefer rin... «
»Ick weeß ja nich, wat du da reden dust, Willem, ick bin so wat von dia ja nicht jewöhnt. Wat soll ick denn erst sagen, wenn du als Mann schon schlapp machen willst? Kiek mal, - eenes Dages wird et doch besser werdn, - et kann doch nich ewig so
bleiben!!!«
Leider sollte es bald noch schlimmer für sie werden. Minna fühlte eines Tages, dass in ihr etwas nicht stimmte. Sie besprach sich mit der Kneschken darüber. Diese ging mit ihr nach der Charite zur Untersuchung. Der diensthabende Arzt war ein Menschenfreund, dem es nicht leicht wurde, der elend aussehenden Minna, die in entsetzlicher Hilflosigkeit vor ihm stand, die Wahrheit zu sagen. Nur zögernd brachte er es über die Lippen: »Tja, Sie sind----schwanger!«
Schwer wie Blei fielen diese Worte der Schwarzen in die Seele. Schwanger? Wo sie selbst nicht einmal das Unentbehrlichste zum nackten Leben hatten, jetzt noch ein Kind! Himmel! Wie sollte das enden? War es nicht doch besser, das zu tun, was der Willem da neulich mal angedeutet hatte: einfach Kurzschluss zu machen mit allem Jammer und Elend? Aber schließlich: man lebt nur einmal, und besser werden musste es doch über kurz oder
lang.
Zwischen Verzweiflung und Hoffnung hin und her gerissen, tastete sie behutsam nach ihrem Schoß, in dem sie jetzt das werdende Leben wusste. Was würde bloß ihr Mann zu dem neuen Pech sagen: Wie sollte sie es ihm nur beibringen? Sagen musste sie es ihm ja auf jeden Fall. Also: »Ick muss et ihm heite noch beibring'n«, beschloss sie. Als Thiele es erfuhr, wurde er bleich wie der Tod. Zunächst wehrte er sich mit aller Macht dagegen, es zu glauben.
»Wat saachste da, Minna? Is et denn ooch wirklich wahr? Ick kann det jar nich jlooben! Du lieba Jott, nee-------det fehlte uns ooch jrade noch - -
- selbst ha'm wa nischt zu futtern - un jetzt noch wat Kleenet! Nee, nee - immer eene Backpfeife nach de andre krischt man von't Schicksal!!!«
Wie schuldbewusst hatte Minna den Kopf sinken lassen und stand nun in schmerzhafter Scham vor ihm. Dicke Tränen tropften aus ihren Augen.
»Nu weene man nich, Minnekin! Ick weeß ja, du kannst nischt dafor. Aber - wat solln ma jetz bloß machen? Wenn man Jeld hätte, denn wäre det 'ne Kleenigkeit - denn könntest du eenfach >kippen<
- vastehst doch, nich wah? Ach, ick Idiot! Wenn wa Jeld hätten, wer det ja jar nich nötig, - denn könnst't ausdragen un groß füttern, un wa hätten unsere Freide dran - - - aber so-o-o! Ick weeß schon nich mehr, wo mia der Kopp steht...«
»Haste Kinder jern, Willem?« fragte zärtlich die Frau, indem sie die Hände gefaltet über den Leib schloss.
»Doch, Minna, sehr jern sojar! Et wa immer mein Traum, een juter Vader zu werd'n, - aber: wenn ick schon een Kind haben soll, denn will ick et doch ooch wat se fressen jeben könn un nich mit ansehen müssen, wie et for Hunger krepiert!«
Verzweifelt riss er seine schäbige Mütze vom Nagel und ging hinüber zum »Nassen Dreieck«. Von Muttchen ließ er sich einen großen Kümmel einschenken. Er goß ihn in einem Zug hinab, um den gallenbitteren Nachgeschmack des eben Vernommenen hinabzuspülen. Der kratzige Fusel war ihm gar nicht scharf genug, wie Wasser kam er ihm
vor.
Dem Dicken Stern klagte er sein Leid. Bedächtig
wackelte der mit dem Kopf, verzog mies das Gesicht und sagte: »Tja, mein Junge, da bist ja wirklich in de... wollte sagen: in wat rinjetretenü«
Minna war inzwischen zu Frau Kneschke in die Küche gegangen. Die hatte doch sicherlich Erfahrung in solchen Dingen und würde ihr zu raten oder vielleicht gar zu helfen wissen.
Die Kneschken aber wich furchtsam aus: »Det so'ne Sache! Jewiß, wie man det macht, det weeß ick schon, - mit 'n Stricknadel un Schmierseefe un so... Aber jefährlich is et uff jeden Fall!«
Der Minna lief es kalt über den Rücken. Ob es sehr weh tue, wollte sie wissen.
Als Thiele zurückkam, lag seine Frau schon im Bett. Kalt und ungemütlich war's in der Bude. Ohne Licht zu machen, setzte er sich zu ihr auf den Bettrand. Sie roch den eklen Schnapsdunst, der seinem Munde entströmte.
»Is doch reenewech zum Kotzen, Minna!« flüsterte er. »Wat machen wa jetz bloß weiter?«
Sie nahm seine Hand, die eiskalt war, und rückte sie liebkosend gegen ihre warme Wange. Dabei erzählte sie stockend, was die Kneschken zu ihr gesagt hatte.
»Wat meenste dazu, Willem, wenn de willst, denn werd ick's machen.«
Thiele fühlte entsetzt, wie feige Angst ihn umkrallte. Die Verantwortung stand riesengroß vor ihm. Er wollte die Entscheidung hinausschieben.
»Na, Minnekin, morgen is ja ooch noch 'n Dag -wolln mal die Sache beschlafen un bei Licht darüber reden... «
Der Schlaf wollte nicht kommen. Noch lange lagen sie beide wach und sprachen miteinander. Minna schüttete ihm ihr Herz aus:
»Weeßte, ick habe doch immer kleene Kinder so jern jehabt un wollte immer jerne eens haben, det zu mia Mutter saachte, un denn ooch, det man uff de ollen Dage nich so alleene is... Willste mal fiehlen, Willem, - 'n bißken ist et schon dick, ob et schon Oogen hat?«
Thiele bemühte sich, ihre Worte zu überhören, er wollte einfach nicht verstehen. Er duldete doch, wie sie sachte seine Hand ergriff und sie vorsichtig an ihren jetzt so geheimnisvoll erscheinenden Schoß führte.
Die Minna ließ der Kneschken keine Ruhe. Immer wieder drang sie auf die Frau ein, sie solle ihr die Sache doch machen. Sie bettelte und flehte in einem fort:
»Dun Sie et doch! Se kenn ma doch helfen!!!«
Lange ließ die Kneschken sich bitten - sie wollte nicht, das Risiko war zu groß! Als sie aber immer wieder Minnas zerquältes Gesicht vor sich sah, da konnte sie nicht länger »nein« sagen.
»Wat hat det Balch denn von't Leben, wennt de Oogen uffmachen dut? Lieba et dotmachen - als et später sterben sehn... «, so beruhigte sie ihr Gewissen, während sie ging, die für die Prozedur erforderliche Schmierseife zu besorgen.
In der Küche musste die Minna auf den Fußboden sich hinlegen. Dann nahm die Kneschke eine alte Stricknadel, wischte die »desinfizierend« an ihrer schmutzigen Küchenschürze vorsorglich ab und fing dann an, in Minnas Unterleib damit herumzupolken, bis das Blut herauslief. Die gequälte Frau konnte es vor Angst und Schmerzen nicht länger aushalten.
»Nee, nee, det jeht doch nich - ick kann't einfach nich mehr aushalten!«, so schrie sie in die vor dem Mund zusammengepressten Hände.
Mühsam stand sie auf und schleppte sich nach ihrer Stube. Vor Schmerzen im Unterleib konnte sie sich kaum noch geradehalten. Die Kneschken bekam es jetzt mit der Angst zu tun und drängte, dass Minna rasch ins Bett ginge. Die stöhnte und krümmte sich - ihr ganzer Körper war in Schweiß gebadet. Von der Nachbarin unterstützt, kroch Minna ins Bett und zog die Decke bis unters Kinn fest an. Matt drehte sie den Kopf nach dem Fenster zu.
Dort sah sie, wie durch einen Nebel, die ersten Schneeflocken in wirrem Durcheinander langsam zu Boden sinken. Sie dachte an Weihnachten, sah Weihnachtsbäume mit Watteschnee übertupft und davor einen uralten, eisgrauen Weihnachtsmann mit langem weißem Bart und blauroter Nase... Langsam schien ihr das Bewusstsein zu entschwinden. Ganz kalt wurde ihr, im Schüttelfrost klapperten die Zähne laut gegeneinander. Die Kneschken
jammerte:
»Ick war ja doch gleich dajejen - nee, det ick mia off dadruff inlassen musste, man wird un wird nich kluch, - det hat man nu davon!!!«
Heulend latschte sie in die Küche, um rasch eine Tasse voll Pfefferminztee aufzubrühen, den sie der Minna dann brachte. Erleichtert atmete sie auf, als endlich Thiele nach Hause kam. Als er seine Frau krank im Bett fand, bekam er einen Schreck. Sofort ahnte er den Zusammenhang. Als Minna seine Vermutung bestätigte und er erfuhr, was die Frauen angestellt hatten, fing er auch an zu jammern: »Nee so wat! Wenn det bloß jut abjeht!« Angstvoll fragte er: »Wie fiehlste dia denn jetzt, Minnekin?«
Mit einer so liebevollen Hingebung, wie sie bei ihrem bisherigen Zusammenleben noch nie in Erscheinung getreten war, sorgte er sich um die fiebernde Minna. Er machte ihr fortgesetzt neue Umschläge, rückte ihr das Kopfkissen bequemer und tat überhaupt alles, was ihre traurige Lage nur irgendwie zu erleichtern vermochte. Die ganze Nacht tat Wilhelm Thiele kein Auge zu. Still saß er neben ihrem Bette und hielt ihre Hand in der seinen.
Diese Frau war ihm alles. Nie zuvor hatte er dies so tief empfunden wie in diesen Stunden.
Ihr Zustand hatte sich gegen Morgen etwas gebessert. Das Fieber hatte nachgelassen. Sie wollte aufstehen, heute hatte sie doch ihre Aufwartestelle - da gab's wieder eine Mark! Und wie überaus nötig konnten sie die gebrauchen.
Thiele musste erst ordentlich böse werden, um sie von ihrem Entschluss abzuhalten:
»Wülste dia mit Jewalt kaputtmachen in diesem Zustand??? Still liejen bleibste ma, vastehste?!«
Die Kneschken erbot sich als Stellvertreterin für Minna, die Aufwartung für heute zu übernehmen. Damit die Stelle ihnen nicht ganz verloren ging.
Thiele selbst lief zum »Nassen Dreieck« hinüber und bat Äpfelchen, nach seiner Frau zu sehen. Er machte sich auf die Strümpfe nach irgendeinem Verdienst. Er musste doch ranschaffen, wenn sie nicht glatt verhungern wollten.
Mehrere Tage lang lag die Minna vollkommen fest. Als sie endlich wieder ohne Gefahr aufstehen konnte, fühlte sie sich schwach und hinfällig wie nie zuvor. Sehr vorsichtig musste sie sein. Wenn sie sich unbedacht einmal bückte, fühlte sie sofort heftiges Stechen im Unterleib: Die Verletzungen mit der Stricknadel waren noch nicht verheilt!
Was hätte Thiele in seiner gegenwärtigen Lage nicht alles getan, um irgendwie Geld in die Finger zu bekommen! Vor dem Gewagtesten wäre er nicht zurückgeschreckt! Wenn jetzt der alte Schaler-Hermann wieder aufgetaucht wäre! Ohne zu überlegen, würde Thiele auf Hochspannungsmasten gestiegen sein - noch und noch!
Berlin ist doch so riesengroß: Gab's denn gar keine Möglichkeit mehr für ihn, auf saubere oder unsaubere Art ein paar Kröten zu verdienen?!!!
Ganze Nächte hindurch wälzte er sich schlaflos herum, sann und grübelte und machte immer neue Pläne. Bei Lichte besehen aber blieb nichts Ausführbares an ihnen übrig: wie Nebel in der Morgensonne lösten sie sich auf.
Unermüdlich lief er Tag für Tag durch die Stadt, raste durch Dutzende von Häusern, die Treppen rauf, die Treppen runter! Überall forschend, überall spähend, ob nicht irgendwer eine kleine Gelegenheitsarbeit für ihn habe. Zwischendurch zog er mal einen Tag lang mit einem Brennholzhändler, dessen sonstiger Begleiter gerade erkrankt war, durch die Stadt. Keine Gelegenheit, einige Sechser zu verdienen, ließ Wilhelm Thiele aus.
Minna wurde jetzt um den Leib herum schon sichtlich voller. Das neue Leben fing bereits an, sich in ihr zu regen. Beide dachten fortwährend an das, was in wenigen Monaten soweit sein würde und unaufhaltsam näher kam: die Geburt des Kindes!
In banger Sorge legte Thiele mitunter sein Ohr an Minnas Schoß, um zu lauschen, ob er von den geheimnisvollen Vorgängen dadrinnen vielleicht etwas hören könne. Zärtlich fuhr sie ihm dann durch die Haare und streichelte seinen Kopf. Diese liebevolle Besorgnis um das Kommende verband sie innerlich von Tag zu Tag immer enger, immer inniger. Schmerzlich empfand er sein Unvermögen, dieser Frau etwas zu bieten, für die werdende Mutter zu sorgen, sie pflegen und hegen zu können ...
Viele, viele Tage des Elends und der Entbehrung hatten diese beiden Menschen schon zusammen durchlebt, noch schlimmere aber standen ihnen bevor. Nichts im Magen und dazu noch die kalte Bude.
Durch den Dicken Stern hatte Thiele im »Nassen Dreieck« eine neue Bekanntschaft gemacht. Es war ein weißbärtiger Alter, August Leiche mit Namen. Im Gegensatz zu seinem seltsamen Namen war das alte Kerlchen aber noch quicklebendig. Klein und rundlich von Statur, schien sein mit zwei überaus lebhaften Augen verziertes Gesicht sonst nur noch aus Bart zu bestehen. Aus einem Bart, der in schneeweißen Zotteln von der Stirn bis zum Kinn jeden Flecken Haut überwucherte. Thiele hatte diesen merkwürdigen »Patriarchen« schon mehrmals im »Nassen Dreieck« gesehen, jedoch ohne ihn weiter zu beobachten. Heute hatte er seine nähere Bekanntschaft gemacht. Der Alte war sehr gesprächig und wusste allerlei Dinge zu erzählen, die seine beiden Zuhörer, Thiele und Stern, sehr interessierten. Ehe er ging, lud er sie beide noch ein, morgen früh mit ihm hinauszugehen auf den Kaninchenfang. Gern nahmen sie die Einladung an.
Als der Alte fort war, erzählte Albert Stern seinem Freund Thiele Näheres über den neuen Bekannten.
»Der vadient manchmal schweret Moos - der olle Strauchdieb! Der is so wat wie een Amphibienfänger, musste wissen. Wat da schwimmt, fleucht und kreucht - det es seine Beute! Nischt entjeht ihm. Wenn de beispielsweise zu den saachst: Hör mal, Leiche, ick brauche morjen frieh zweedausend Frösche, - denn kannste sicher sein, der bringt se dia! Eenmal - det war aber schon for Jahren - hatten se ihn wejen Mordvadacht vahaftet. Det kam so. Er wollte mit een andern Ameiseneier holn. Der andre war schon een paar Stunden vor ihm rausjefahrn, und - wie mein Aujust Leiche in den Wald an die vaabredte Stelle kommt, da findt er seinen Freund als Leiche in eenen Ameisenhaufen liegen - mausedod! Die lebendige Leiche - der Aujust, meene ick, jeht zu de Polente un meldet den Fall. Da ha'm se ihn jleich dabehalten! Et stellte sich dann aber doch rasch raus, det er tatsächlich unschuldig war. Den Doten, det heest, als der noch lebte, war nämlich vor Kohlndampf schlecht jewordn, un war direktemang koppüber in den Ameisenhaufen jefalln. Da sinn de Biester woll ieber ihn herjefallen, ha'm ihn uffn janzen Leib jepiesackt, un durch de scharfe Ameisenseire is er denn woll kaputtjejangen.«
Früh am andern Morgen zogen die drei Männer los. Es ging nach Wittenau hinaus, hinter die Kirchhöfe. Auf den Feldern lag hoher Schnee. Thiele bekam in seinen durchlöcherten Schuhen schnell naßkalte Füße. Das machte ihm aber nichts aus. Es war recht kalt. Wenn sie sprachen, stand der Hauch wie eine Wolke vor ihnen in der eisigen Luft. Fröstelnd schienen sogar die Bäume ihre schwarzkahlen Äste in den weiten Raum zu strecken.
Die drei Männer waren schon eine Weile durch den ziemlich hochliegenden Schnee gewatet. Da wies der weißbärtige Alte plötzlich auf vereinzelte Spuren, die, wie er erfahrungsgemäß genau wusste, von Kaninchen hinterlassen waren.
»Seht mal«, machte er seine Begleiter aufmerksam, »da sind wa ihnen schon uff de Sprünge!«
Je weiter sie kamen, desto mehr Spuren zeigten sich und liefen schließlich zu einem schmalen Pfad zusammen, der am Zaun des Friedhofes endigte. Bei näherer Untersuchung stellten sie fest, dass der Zaun an mehreren Stellen unterwühlt war. Die Kaninchen, die sich hier draußen in großer Anzahl herumtrieben, hatten die Löcher gegraben.
»Die Biester findn jetz woanders nischt zu fressen, un da jehn se nach'n Kirchhof, da is immer wat Jrünet for se«, erklärte August Leiche mit verschmitztem Blick. »Na, een paar von ihnen wolln wa schnell ha'm!« versicherte er siegesgewiss.
Im Fallenstellen und Schlingenlegen war er ein Meister, dem so leicht keiner was vormachen konnte. Bedächtig holte er einen kleinen Hammer, mehrere Nägel und eine Rolle Draht aus der Tasche. Überall, wo sich unter dem Zaun ein Schlupfloch befand, schlug er unmittelbar darüber einen Nagel ein und befestigte daran eine kunstgerecht gelegte Schlinge derart, dass sie ein paar Zentimeter vom Boden entfernt frei vor dem Loch schwebte. Nachdem sie in dieser Weise etwa zwei Dutzend Schlingen ausgelegt hatten, entfernten sie sich; dann gingen die drei in eine in der Nähe gelegene Kneipe und wärmten sich ein bisschen auf. Als sie nach ein paar Stunden wieder zum Kirchhof zurückkehrten, gewahrten sie schon aus einiger Entfernung, dass in einigen Schlingen etwas zappelte. Thiele war einfach platt. Drei feiste Burschen saßen in den Schlingen.
»Jenau berechnet«, sagte lachend der alte Rattenfänger, »for jeden von uns een Braten!«
Die ausgehungerte Minna war aufs freudigste überrascht, als ihr Mann den fetten Bengel auf den Tisch legte.
»Menschenskind, Willem, Kanickelbraten!! De kenn wa aber mal Fettlebe machen! Mir lofft schon det Wasser in'n Mund zusamm!«
Die Kneschken wurde gebeten, den Braten zurechtzumachen und dann mitzuspachteln. Mehr als gern war die dazu bereit.
Während dieser überaus seltenen Schlemmermahlzeit erzählte Frau Kneschke ihren beiden Mietern, dass sie schon seit Jahren da drinnen im Leib so ein komisches schmerzhaftes Pieken hätte. Sie habe noch nie den Mut gefunden, deswegen zu einem Arzt zu gehen. Eine ganz eigenartige Scheu hielt diese Frau, die doch von der Gemeinheit des Lebens durchtränkt war, davon ab, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen.
»Vor so'n wildfremden Kerl soll ick mia da ausziehn un mia unten bekieken lassen, nee, um allet in de Welt nich, det kriege ick nich fertig!«
Auf unablässiges Zureden der Minna entschloss sie sich aber endlich doch am nächsten Tage, nach der Poliklinik in der Luisenstraße zu gehen.
Dort wurde sie sorgfältig untersucht. Daß sie an Unterleibs-Krebs in vorgeschrittenem Stadium litt, verschwiegen ihr die Ärzte, rieten ihr aber, sofort ein Krankenhaus zur Beobachtung und Behandlung aufzusuchen.
Schweren Herzens entschloss sich die Kneschke, ins Krankenhaus zu gehen. In ihrer armseligen Küche brachte sie erst noch alles in Ordnung und vermietete den Raum dann für acht Mark im Monat an einen jungen Mann.
Der neue Mieter war ein junger Arbeitsloser, der bisher bei seiner Mutter gewohnt hatte, dort aber nun fortgezogen war, weil er mit einer Mark Wohlfahrtsunterstützung pro Woche nicht auskommen konnte. Mehr wollte die Fürsorgebehörde unter keinen Umständen herausrücken, da seine Schwester, die auch bei der Mutter wohnte und in Stellung war, ein Monatsgehalt von 90 Mark bezog. Die war angeblich bestimmungsgemäß verpflichtet, ihn mit zu ernähren. Da zog er es vor, sich einen »eigenen« Haushalt zu schaffen, um auf diese Weise unterstützungsberechtigt zu werden.
Er hieß Paul Schmidt und war ein frischer junger Bursche. Oft kam er zu Thieles in die Stube und unterhielt sich mit ihnen. Die hatten ihn bald recht gern, weil er ein so einnehmend offenes und aufgewecktes Wesen hatte. Die beiden Männer sprachen häufig über ernste Tages- und Lebensfragen. Thiele war zuweilen erstaunt über die gereiften Ansichten des jungen Menschen. Vieles, was der in kluger, bedächtiger Rede vorbrachte, erschien so einleuchtend, so unwiderleglich. Vieles, was ihm bis dahin gänzlich unklar war, begann er wie durch eine saubergeputzte Glasscheibe zu erkennen.
Eines Abends war Paul Schmidt nicht zum Schlafen nach Hause gekommen. Auch am andern Tage ließ er sich nicht sehen. Thieles verwunderten sich darüber. Es verging eine ganze Woche, ohne dass sie das geringste von ihm gehört oder gesehen hätten. Schließlich kam die Mutter von Paul zu ihnen und klärte sie über das Verschwinden ihres Sohnes auf. Beim heimlichen Verbreiten von Zellenzeitungen war er erwischt und verhaftet worden.
Bedauernd, ein wenig aber auch verurteilend, sagte Thiele zu der proletarischen Frau:
»Ja, ja - det is die Jugend von heite! Schade um den Jungen, det er sich uff so wat innjelassen hat!«
Die Arbeiterfrau sah Thiele groß an. In ihrem verhärmten Gesicht mit den tiefen Furchen war ein großes Staunen. Aus ihren Augen aber glänzte ungebrochener Lebenswille und tatkräftige Entschlossenheit, als sie mit ruhiger Stimme erwiderte:
»Schade um den Jungen??? Im Jejenteil - ick freie mia, det mein Paule so is. Wenn der anders dächte un handelte, würde et jar nich mein Junge sinn! De janze Welt würde anders aussehen, wenn bloß alle Arbeiter, alle Proleten so kampfmutig un opferfreidig wem wie der!«
Ein Gefühl der Scham stieg in Thiele auf. Er hatte einen roten Kopf, als er wie entschuldigend zu ihr sagte:
»Na - ick meente ja man so-, unsereener kann det allens ja nich so richtig bejreifen. Die Jugend von heitzutage is in solche Sachen viel uffjeklärter wie manch oller Kerl. Bei die Jungs kann man noch wat lern!« |
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |