DIE TOTEN VON PABJANICE
In den letzten Tagen des großen polnischen Textilarbeiterstreiks im Herbst 1932, in dem weit über hundertachtzigtausend Textilarbeiter um die Erhaltung ihrer kümmerlichen Tarife kämpften, wurde in Pabjanice aus nichtigen Gründen auf die streikenden Arbeiter und Arbeiterinnen geschossen. Achtunddreißig wurden von den Kugeln der Polizei getroffen. Zwei Frauen und fünf Männer waren tot. Diese Schüsse und die sieben Toten entzündeten den aufgespeicherten Explosivstoff, und die Arbeiterschaft von Pabjanice begann sofort mit Gegenaktionen.
Zuerst, indem sie die Zurückhaltung gegen die Unternehmer und die vielen Streikbrecher aufgab und noch in der Nacht, die dem Tag folgte, an dem die sieben erschossen worden waren, auf alle Betriebe Überfälle unternahmen, dergestalt, dass die Arbeiter von der Straße aus die Eingänge der Betriebe bedrohten, zu gleicher Zeit aber kleine Gruppen über die Umzäunungen schickten, die in die Betriebe einbrachen, die Streikbrecher verprügelten und ziemliche Verwirrung stifteten: Straßenlaternen zerschlugen, verschiedene Läden plünderten, in den abgeschiedenen Vierteln Blitzdemonstrationen machten. Einigen gelang es sogar, das große Lichtkabel, das Pabjanice mit der Nachbarschaft verband, zu zerschneiden, so dass Pabjanice eine ganze Nacht ohne Licht war.
Diese lichtlose Zeit benutzten die Arbeiter zu einigen Angriffen auf die Polizei selber. Sie bewarfen die Streifen mit Dachziegeln, mit Steinen, mit Holz. Sie gingen auch gegen die Wachstuben vor, warfen die Fenster ein, drangen ein, entwaffneten einige Beamten, stießen sie zu Boden, verprügelten und bespien sie.
Der Polizei gelang es zwar, am nächsten Morgen die Ordnung wieder einigermaßen herzustellen, die Betriebe von den eingedrungenen Arbeitern zu säubern, und auch das Lichtkabel konnte wieder geflickt werden. Aber sonst blieb die Lage gespannt, und es war nur eine Frage der Zeit, wann die beiden Fronten zum zweiten Male zusammenstoßen und ihre Kräfte aufs Neue messen würden.
Auch am dritten Tag konnte die Polizei, besonders durch Heranziehung von Kavallerie und vier Raupentanks, die wie vorsintflutliche Saurier durch die Straßen polterten, die kleinen Aktionen der Arbeiterschaft niederhalten. Sie hoffte, mit Hilfe dieser Kräfte auch weiter für Ruhe sorgen zu können. Aber die Streikleitung stellt durch einen Aufruf an alle Streikenden und die übrigen Bürger von Pabjanice die mühsam aufgerichtete Ordnung wieder in Frage.
Die Streikleitung teilte mit, dass sie für den nächsten Tag, an dem die sieben Erschossenen begraben werden sollten, das Demonstrationsverbot, das am ersten Streiktag von der Regierung für das Streikgebiet verhängt worden war, nicht anerkenne und als aufgehoben betrachte. "An diesem Tage werden wir demonstrieren, denn es hat sich noch keine Arbeiterschaft der Welt - auch in der schlimmsten Periode des Terrors nicht - nehmen lassen, ihre Opfer im Klassenkampf zu Grabe zu tragen!"
Die Polizei, die nun mit Recht diese Demonstration mehr fürchtete, als den ganzen Streik, denn sie kannte die Arbeiter von Pabjanice, holte sofort zu einigen Gegenschlägen aus. Der erste war, dass sie die ganze Demonstration und das darauf folgende Begräbnis durch einen Raub der Toten unterbinden wollte. Man schickte zu diesem Zweck eine Kompanie Soldaten, unterstützt durch Kriminalbeamte und örtliche Polizei, auf den Friedhof, um die Leichen zu beschlagnahmen und sie schnell selber zu verscharren. Aber die Kriminalpolizei kam zu spät, die Arbeiter hatten sich ein paar Stunden vorher ihre Toten schon geholt. Auch Razzien in den Wohnungen der Angehörigen nützten nichts, die Arbeiter hatten die Leichen anderswo versteckt. Der erste Gegenschlag der Polizei war also ein Schlag ins Wasser.
Der zweite richtete sich gegen die Streikleitung. Die Polizei machte einen überraschenden Vorstoß gegen die Streiklokale, um die Streikleitung wegen ihres Aufruhrs zu verhaften. Aber der Vorstoß glückte nicht. Die Streikleitung hatte auch damit gerechnet und sich bereits in Sicherheit gebracht.
Nun konnte die Polizei nichts weiter machen, als alle Erlasse der Streikleitung durch Polizei- und Militärpatrouillen abreißen und vernichten zu lassen. Oder sie ließ sie mit einer eigenen Erklärung überkleben. In dieser Erklärung hieß es, dass die Regierung im Gegensatz zur örtlichen Streikleitung das Demonstrationsverbot in keiner Weise als aufgehoben betrachte. Im Gegenteil, sie verschärfe es noch. "Morgen sind nicht nur alle Demonstrationen verboten. Wir geben hiermit bekannt, dass es darüberhinaus allen Bewohnern von Pabjanice, ob sie nun Arbeiter, Handwerker oder Bauern sind, ob sie am Streik beteiligt sind oder nicht, für den ganzen Tag verboten ist, ihre Wohnungen, beziehungsweise ihre Häuser zu verlassen. Es ist sogar verboten, vor den Türen zu stehen oder sich an den Fenstern sehen zu lassen. Auf jeden, der es dennoch tut, wird ohne vorherige Warnung geschossen!"
Das war die sonderbarste Bekanntmachung der Polizei, die jemals bei einem Streik in Polen erlassen wurde. Die Polizei war aber im Irrtum, wenn sie glaubte, dass sie die Arbeiter von Pabjanice durch diese Bekanntmachung schrecken konnte. Im Gegenteil, die Streikenden waren nicht einmal ärgerlich darüber, denn durch dieses Dekret erfuhren tatsächlich alle Bewohner der Stadt, und natürlich auf besserem Papier und auf drastischere Art als durch die Flugblätter, dass der nächste Tag ein besonderer zu werden versprach, und dass alle, ob Streikende oder NichtStreikende auf dem Posten sein mussten.
Am nächsten Morgen, als die ersten Polizei- und Militärpatrouillen in das Innere der Stadt vorstießen, um etwaige Wagemutige von den Straßen zu vertreiben, konnten sie sich davon überzeugen, dass die Massen tatsächlich auf dem Posten waren. Die Arbeiterschaft hatte die Straßen der Stadt bereits besetzt.
Die Besetzung war so tausendfältig, dass die Patrouillen nichts mehr gegen sie unternehmen konnten. Die Arbeiter von Pabjanice waren nämlich nichteinzeln oder in Gruppen auf die Straße marschiert, sondern sie waren allesamt auf der Straße. Männer, Frauen, Kinder, Mütter, Großmütter. Sie waren zum größten Teil sogar mit ihrem
Hausrat, mit ihren Haustieren, mit ihren Küchenherden und mit ihren Betten auf die Straßen gezogen. Die ganze innere Stadt sah wie ein Heerlager aus, wie das Lager einer Volksmasse, die mit allem, was sie hat, aufgebrochen ist, um neue Lagerstätte oder eine neue Heimat zu suchen, und die nun gerade Rast gemacht hat.
Eine alte Frau lag mitten auf der Straße in ihrem Bett. Ein paar Kinder saßen auf ihren Töpfen. Mitten auf der Straße wurde gekocht, eine Ziege wurde gemolken, Hühner liefen auf dem Pflaster. Eine Mutter löffelte ihren Kindern, die alle, es waren ihrer vier, um einen wackligen Tisch saßen, die Morgensuppe ein. Ein paar Weber hatten ihre Weberbäume mitten auf dem Straßenpflaster aufgebaut. Ein Tischler stand mit seiner ganzen Werkstatt auf der Straße. So war es überall, in allen Gassen, auf allen Plätzen, in jeder Toreinfahrt, und ein Vorgehen der Polizei und des Militärs hätte diesen Tumult, dieses Durcheinander nur vermehrt.
Die Polizei tat deswegen auch das einzige, was sie tun konnte, sie zog sich zurück. Sie wollte, wenn die Arbeiterschaft doch demonstrieren wollte, wenigstens mit einer gewissen Geschlossenheit dieser Demonstration entgegentreten. Die Arbeiterschaft hatte auch keinen Augenblick daran gedacht, ihre Demonstration aufzugeben, und die Polizei hatte sich kaum zurückgezogen, als sich die lagernden Massen plötzlich erhoben, den Haus rat in der Obhut der Alten lassend, und sich mit Frauen und Kindern in Bewegung setzten. Der Zug schwemmte wie ein Strom in die Hauptstraßen und ergoss sich dann gegen den Markt. Auf einmal waren auch die sieben Toten wieder da. Sie lagen in offenen schwarzen Holzkisten, waren von einer Woge von roten Tüchern und Fahnen umsäumt und wurden von ihren Kameraden dem Zug vorangetragen.
Auf dem Markt stieß der Zug mit der Polizei zusammen. Zuerst nur mit ein paar Aufklärern, die sich zum Gros zurückzogen. Aber dieses Gros war ziemlich stark, ungefähr hundertzwanzig schwerbewaffnete Ortspolizisten, Gendarmen und Kriminalbeamte, dahinter zwei Schwadronen Berittene und hinter den Berittenen Tanks.
Die Polizisten und Gendarmen gingen zuerst gegen die Demonstranten vor. Aber nicht, wie sie es sonst machten, mit gefälltem Bajonett und Schreckschüssen. Sie wussten schon, dass die Streiker von Pabjanice die ja mit oder ohne Arbeit nichts weiter zu verlieren hatten, als ihr armseliges Leben, für dies sie auch sonst keinen Heller mehr gaben, weder mit dem einen noch dem anderen zu schrecken waren. Die Polizisten und Gendarmen gingen mit Hilfe von sechs Straßenbahnwagen gegen die Streiker vor.
Was sie sich von dieser Art Angriff versprachen, wird wohl nie recht aufzuklären s ein, jedenfalls hatten sie ihn sorgfältig vorbereitet, denn die Wagen standen - die Straßenbahn wurde kurz vor der Einbiegung vor dem Markt doppelgleisig - immer drei Wagen hintereinander, mitten unter ihnen. Die Polizisten und Gendarmen sprangen hinauf, dann wurden die Straßenbahner, so behaupteten sie wenigstens später, gezwungen, die Kurbeln herumzuwerfen, und die Wagen jagten auf die Streikenden zu.
Es musste der Polizei wirklich vorher nicht klar gewesen sein, was sie mit diesem Angriff wollte. Sollten die Wagen nun einfach in die Massein hineinfahren? Sollte vorher gebremst werden und wollten die Polizisten dann herunterspringen, herunterschießen und die Demonstranten auf diese Art auseinanderschlagen? Oder wollte die Polizei schon von vornherein schießen und die Wagen einfach als kugelspeiende Feuerwagen anrücken lassen? Nun, was sich die Polizeigewaltigen auch vorgenommen hatten, es kam weder zu dem einen noch zu dem anderen.
Das scharfe Anrücken der Wagen machte keinerlei Eindruck auf die Massen. Es waren schon beinahe 20.000, die sich mit ihren Fahnen, Transparenten und roten Schleifen wie ein Keil in die Straße hineingepresst hatten. Was hätten sie übrigens gegen die anfahrenden Wagen machen sollen? Im besten Falle schreien. Zurück konnten sie ja doch nicht. Vorerst geschah jedoch etwas anderes. Als die Wagen schon bedrohlich nahe waren, sprang eine gewisse Maria, Schwester
einer der erschossenen Textilarbeiterinnen, aus der fünften oder sechsten Reihe der Demonstranten und schrie: "Sofja, Rosa, Alexandra, heraus! Wir haben doch das wenigste zu verlieren!" Und sie hatte das kaum gesagt, als sich hinter ihr ein halbes Hundert Mädchen aus den Reihen drängte und sich gegen die Wagen warf.
Waren es nun die Schaffner, die sich auf einmal auf ihre Klassensolidarität besannen oder waren es ein paar von den Polizeibeamten, jedenfalls bremsten die Wagen kurz vor den Mädchen, von denen sich zwei sogar auf die Schienen geworfen hatten. Die Schaffner rissen die Kurbeln aus den Schalttafeln, sprangen von den Wagen herunter und stürzten auf die Streiker zu. Die schweren Wagen, die eben noch wie große gelbe Katzen vorwärts geschnellt waren, rollten jetzt unter dem Gebrüll der Streikenden und unter den ängstlichen Schreien der noch auf den Wagen hockenden Beamten langsam auf den Kordon der Polizei zurück.
Die Streikenden, die, als sie die Polizeimassen gesehen hatten, stehengeblieben waren, spornte das alles so an, dass sie, die Särge noch immer auf den Schultern, wieder einige Schritte weitergingen. Aber nicht lange, denn kaum waren die Wagen hinter die Mauer der Polizisten und der Kürassiere verschwunden, da rückten die Kürassiere gegen die Demonstranten vor, und die Massen duckten sich zum zweiten Male zusammen.
Dieser Ansturm war gefährlicher. Die Kürassiere waren zum größten Teil Bauernsöhne aus der Provinz Posen, also ehemalige Deutsche, die die polnische Regierung, die sonst diese Bauern nicht gerade freundlich behandelte, in solchen Fällen wie diesem gern gegen die eigenen Landsleute ausrückenließ. Vor allen Dingen, weil diese kräftigen, grobschlächtigen Kerle keinerlei Skrupel kannten und, während sie auf die polnischen Arbeiter einschlugen und einritten, das Gefühl hatten, sie gäben wenigstens einen Teil der Schläge, die sie selber von der polnischen Regierung bekamen, auf Umwegen zurück. Ja, es war wirklich gefährlicher, und der alte Pawlyk, ein
Arbeiter, der mit ein paar anderen Genossen von der Streikleitung an der Spitze des Zuges marschierte, kratzte sich verzweifelt den Kopf, als sich die Reiter in Bewegung setzten.
Diesmal waren es er, der alte Stapanjuk und seine Frau, die einen Ausweg vorschlugen. Die Streiker von Pabjanice waren, bis auf die starken jüdischen Kontingente, fast alle katholisch. Auch die beiden Mädchen, die die Streiker zu Grabe trugen. Die Anverwandten hatten es sich deswegen nicht nehmen lassen, die Mädchen katholisch zu begraben, und wenn sich auf der dicke Colian, ihr alter Pfarrer geweigert hatte, mit der Demonstration durch die Stadt zu ziehen, so hatte er doch erlaubt, dass die kleinen Mädchen, die zu Ehren der Toten ganz in Weiß gekleidet waren, mit den Streikenden durch die Stadt zogen. Sie standen auch jetzt zwar eingekeilt in die ersten Reihen, aber unmittelbar neben den Särgen. "Ach", sagte der alte Stepanjuk, der neben der kleinen Rosa, seiner Enkelin ging, "Wenn man die Kerle und ihre Pferde mit nichts aufhalten kann, vielleicht halten die Kinder sie auf. "Ja", sagte die alte Stepanjuk, die hinter ihrem Mann stand: "Kinder haben schon manchmal Wunder getan." Und sie hob die kleine Rosa in die Höhe.
Auch die anderen griffen nach den weißen Mädchen und stemmten sie in die Höhe. Die alte Hanna sagte: "Ob ihnen der Bauch von den Pferdehufen zertrampelt wird oder vor Hunger zerplatzt, ist ja gleich Sie fasste nach der kleinen Bilewka und gab sie an den alten Pawlyk weiter. Alle Kinder wanderten auf diese Weise an die Spitze des Zuges, und als sich die Schwadronen, in vier Reihen hintereinander, aufgestellt hatten, und der dicke Rittmeister gerade den Säbel hob, waren es schon hundert Kinder, denn man hatte jetzt auch die anderen, nicht nur die weißen Mädchen, nach vorn geschoben. Nun standen sie wie eine Sperrkette vor der Mauer der Streiker.
Die Pferde preschten heran, es klang sonderbar, wie ihre Hufe auf dem Pflaster knallten, wie sie sich vorwärts schoben, die weißen, schwarzen und braunen Pferdeköpfe und dahinter die überbuschten Gesichter der deutschen Bauernsöhne. Die Kinder sahen ihnen zuerst einen Augenblick neugierig entgegen. Als aber die Kürassiere immer näher kamen und die Köpfe der Pferde größer und größer wurden duckten sie sich. Ihre Augen wurden rund wie Fischaugen, und da hoben auch schon die ersten ihre Hände und schrien. Vielleicht war es dieses Schreien, vielleicht war es überhaupt diese krüpplige Mauer, denn es waren ja keine Polizeipferde, die auf solche Mauern dressiert sind, jedenfalls kam auch dieser Angriff kurz vor den Streikenden zum Stehen.
Das Pferd des Rittmeisters bäumte sich zuerst auf, drehte sich im Aufbäumen und stand dann quer vor den Streikenden. Aber im gleichen Augenblick bäumten sich auch die anderen Pferde, zum Teil auch herum gerissen von den jungen Reitern. Die waren ja zum größten Teil auch Katholiken, und sie sahen erst jetzt, angesichts der verstörten Gesichter unter den weißen Schleiern das Schändliche dieser Attacke. Und ehe eine Minute vergangen war, war die vierfache Kette der Reiter auseinandergerissen oder besser geborsten, und die einen ritten im Schritt, die anderen im Galopp zurück.
Die Attacke war übrigens doch nicht so ohne Verlust abgegangen. Die kleine Rosa und zwei andere Kinder waren von den Pferden niedergetreten worden. Die kleine Rosa war tot. Ihr weißer Schleier lag wie ein eingeschrumpfter Kinderballon auf dem Pflaster. Aber sonst stand die Mauer noch, Ja. sie setzte sich, die roten Fahnen über den Reihen, zum dritten Mal in Bewegung.
Die Polizei und die Militärkräfte gaben die Schlacht noch nicht verloren. Ein Durchbrechen der Kette und ein Sieg der Streiker wäre für sie außerdem eine große Niederlage gewesen, und diese hätte sich bestimmt auch auf die anderen Orte, in denen gestreikt wurden, katastrophal ausgewirkt. Was sollten sie aber diesmal den Anmarschierenden entgegenwerfen, nachdem zuerst die Polizeikräfte und nun die beiden Schwadronen versagt hatten? Da kamen sie auf die Tanks, Die Tanks waren ja noch da.
Es dauerte allerdings eine Weile, bis sich die vier großen raupenförmigen Ungeheuer in Bewegung setzten. Sie stellten sich zunächst
alle vier in eine Reihe, zwei in die Mitte, die beiden anderen schräg zwischen Gehsteig und Fahrbahn. Die vier Motoren schnurrten wie große Dynamos an, und dann kamen sie auf die Massen zu. Ja, sie kamen näher und näher. Es sah unheimlich aus, wie sie, große Raupen oder Kröten, heran krochen. Die beinahe in gleichem Takt laufenden Motoren knurrten und fauchten.
Die Massen waren wieder stehengeblieben. Aber diesmal nicht um zu überlegen oder um Möglichkeiten eines Gegenangriffs zu erwägen. Sie waren zuerst nur erschüttert, dass man nach allem, was man gegen sie bereits mobilisiert hatte, nun auch die Tanks gegen sie aufbot. Sie glaubten vielleicht auch einen Augenblick, dass diese Raupen sie nur schrecken sollten und dann wieder umkehren würden, aber als die Tanks immer näher rückten, wurden ihre Gesichter weiß und durchsichtig wie Fensterscheiben. Es war nicht Angst, wie es zuerst aussah, was über die Menschenmauer kam, es war grausiger, und langsam wurde es zu einem Gefühl von etwas unabänderlichem. Ja, sie standen da, als wären sie dazu verdammt, dass diese Raupen auf sie zu krochen, als müssten sie darauf warten, dass die Dinger näher rückten und sie zermalmten, zerquetschten und zerrissen. Es sagte auch zuerst keiner etwas. Die Massen starrten nur mit großen Augen auf die Tanks, auf die grauen Stahlblöcke, die immer näher kamen, Meter um Meter, Schritt um Schritt.
Sie spürten das kalte Eisen schon leibhaftig an sich, über sich, in sich. Es riss an ihnen, es schnitt in ihre Därme. Da schrien auch schon die ersten auf. Es waren ein paar Frauen. Aber sie drängten nicht zurück. Nein, sie standen noch genauso da, wie sie vorher gestanden hatten. Sie schrien eigentlich auch nicht. Sie jagten sonderbare keuchende Töne aus ihren Kehlen. Einen nach dem anderen, und die meisten schlugen dabei die Hände vors Gesicht.
Aber was sollten die Massen sonst machen? Selbst wenn sie den Tanks auswichen, zurückrasten, fliehen wollten, sie konnten es ja nicht. Die Mauer, die die Demonstranten in die Straße geschoben hatten, war ja viele hundert Meter dick. Sie konnte nicht einmal zurückgedrängt werden. Nein, sie mussten aushalten. Man konnte nur still zusehen, was weiter geschah, wenn diese grauen Blöcke zuerst zertraten, zuerst in das holprige Pflaster quetschten. Man konnte nichts weiter tun, als das, was die Frauen taten, auch schreien, irgendwie ganz innen, irgendwie dort, wo dieser grausige, unabänderliche, wo dieser stechende Schmerz saß.
Auch ein paar von den Kindern schrien wieder, und da waren die Tanks auch schon heran. Ganz bedrohlich standen sie plötzlich vor den Massen. Die vorgeschobene Spitze war ein riesiger Eisenschnabel. Die kantigen, knatternden Raupenräder waren große Bandsägen - die ersten spürten sie bereits in ihren Leibern - der kleine Turm mit dem schwarzen Geschützloch, das sich leicht nach allen Seiten drehte, ein grinsender, übermütiger Teufel. Die Mauer bog sich doch etwas zurück. Nicht viel, vielleicht ein paar Meter. Immer mehr schrien, auch die Männer. Der junge Galinski hielt es nicht mehr aus. Er sprang aus der Reihe heraus und warf sich den Kästen entgegen. Eines der Bänder erfasste ihn. Die Beine schlugen zappelnd noch einmal in die Höhe. Die alte Galinski wollte sich auch vor den Kasten werfen, aber ihr Mann und der alte Pawlyk hielten sie fest.
Furchtbar heulten da wieder ein paar auf. "Diese Bestien!" schrien sie. "Diese Bestien!' "Sie wollten uns wirklich bei lebendigem Leibe zerquetschen!" Auch der alte Bilewka schrie. Einer sprang vor und hieb mit seiner Fahnenstange auf das Eisen. Er wurde auch von einem Raupenband erfasst und niedergeworfen. Da sagte plötzlich die alte Hanna: "Wenn sie uns durchaus ins Pflaster walzen wollen, dann sollen sie wenigstens zuerst die Toten ins Pflaster walzen!" "Ja, die Toten!" schrie der alte Strupp, Pawlyk und andere: "Gebt sie nach vorn!" Man gab sie nach vorn. Die dünnen schwarzen Särge schwankten von Kopf zu Kopf. Erst die Särge der Mädchen, dann die Särge der drei Alten, dann der Sarg mit Szija und der Sarg des anderen Jungarbeiters.
"SO!" schrie die alte Hanna und baute mit ihrem Sohn den ersten Sarg groß vor sich auf, so dass der junge Szija in halber Höhe stand
und die Leute im Tank den Toten sehen konnten. "SO!" schrie die Alte nochmals, "erst den, bevor ihr uns hinüber besorgt!" Und Pawlyk stellte den zweiten Toten auf. Die alte Verona und zwei andere Frauen und Mädchen. Und da standen groß und wächsern vor den Lebendigen plötzlich alle sieben Toten von Pabjanice in einer Reihe, und ein paar Meter vor ihnen standen die Tanks.
Sie kamen noch immer näher. Sie rückten noch immer vorwärts. Aber bereits langsamer, beinahe schrittweise. Schon blieb der rechte Tank zurück. Die alte Hanna hob den toten Szija höher: "Ja, seht ihn euch nur an, ihr Saukerle!" schrie sie. "Sieht er nicht schön aus!" Und das gelbe, wie mit einem groben Messer zerhackte Gesicht -Szija war in den Kugelregen des Maschinengewehrs gekommen - wäre beinahe aus dem Sarg heraus auf den Tank gefallen. Auch Pawlyk hob seinen Toten höher, und tatsächlich, auch der zweite Tank hemmte seinen Lauf. "Zeigt ihnen auch die Mädchen!" schrie die alte Verona. "Ja, zeigt sie ihnen!" sagte die Frau von Biwalka, und sie stemmten die Särge der Mädchen noch höher.
"He!" schrie plötzlich die alte Hanna, die den schmalen Spalt sah, der zwischen dem ersten und zweiten Tank entstanden war, "der Teufelsjunge hat ihn tatsächlich aufgehalten!" Sie ließ den Sarg mit Szija wieder nach unten rutschen und drängte sich mit ihrem Jungen durch die Lücke durch. Die anderen drängten nach. Auch zwischen dem zweiten und dritten Tank drangen die Massen durch, und auf einmal brachen sie überall durch die eiserne Reihe, quollen an allen Stellen durch die Lücken. Sie übersprangen die Tanks jetzt schon, sie überdeckten und überschütteten sie mit ihren Fahnen und Transparenten, und ein paar Minuten später, immer noch die Toten wie eine Mauer oder ein Schild vor sich, hatten sie bereits hinter den Tanks ihre Reihen wieder geschlossen und drängten aufs neue gegen den Markt.
Was also den Lebenden nicht gelungen war, den Toten war es gelungen. Sie hatten die Tanks aufgehalten. Sie hatten die Eisenkästen zum Stehen gebracht. Sie hatten außerdem über die Tanks triumphiert, sie im Sturm genommen, und nun konnten die Lebenden weitermarschieren. Auch die dünne Polizeikette, die ihnen noch einmal entgegengeworfen wurde, zerplatzte vor ihnen. Ja, wie Spreu stoben die Polizisten auseinander, und der Weg zum Friedhof war frei. Sie mussten nur noch den Markt überqueren, mussten rechts die breite Allee zu den Kasernen hinauf, und sie waren da.
Sie wurden dort nicht mehr gestört. Die Toten, die eigentlich zweimal für sie gestorben waren, konnten nun ruhig begraben werden. Der alte Pawlyk und die alte Hanna konnten sogar an ihren Gräbern sprechen. Sie konnten ihre Fahnen über die Gräber neigen, konnten ihre Blumen in die Gräber werfen, konnten über den Gräbern singen und den Toten versprechen: "Wir werden euch nicht vergessen! Wir werden weiterkämpfen, gerade jetzt, und auch für euch weiterkämpfen, kämpfen bis zum siegreichen Ende des Streiks."
Die Arbeiter von Pabjanice kämpften auch weiter. Sie hielten aus bis zuletzt. Ja, sie standen immer mit an der Spitze der großen Streikwelle, bis die Textilunternehmer zusammen mit den Gewerkschaftsführern und der Regierung vor der Geschlossenheit und Tapferkeit der Streiker kapitulierten. Sie mussten die Forderung der Streikleitung, die - ohnehin geringen - Tariflöhne auf weitere drei Jahre zu garantieren, bewilligen. Wenn man aber heute in Lodz von diesem gewaltigen und wohl größten Streik im Lodzer Textilgebiet spricht, wenn man von den einzelnen Taten der Streiker erzählt und von dem Heroismus der Frauen und Jungarbeiter, dann spricht man zwar leiser, aber mit noch größerer Hochachtung auch von den Toten von Pabjanice. Von den sieben, die noch im Sarg in der Streikfront marschiert sind, den Streikern im Kampf geholfen und wohl Hunderte, wenn nicht noch mehr, vor den Tanks der Pabjanicer Polizei- und Militärgewaltigen gerettet haben. |
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