DIE ERSTEN FLUGBLATTER
Wir waren sieben: Willi, Peter, Michel, Alfred, Fritz, Hans und ich. Wir waren alle in der gleichen großen Fabrik in der Lehre und alle in der Arbeiterjugend. Es war eine schöne Zeit. Die Lehre war nicht schlimm. Wir arbeiteten genau acht Stunden. Danach warteten wir vor dem großen Fabriktor aufeinander, und dann stiegen wir auf die Berge, warfen mit Steinen, blagten uns oder tobten über die Hänge.
Bis der Juli 1914 kam. Wir hatten von der Erschießung des österreichischen Thronfolgerpaares in Sarajewo gehört. Wir waren uns auch über die Folgen klar, denn wir hatten einen guten Lehrer in Imperialismus, einen kleinen Rohrschlosser, den alten Bacher. Er war ein Kampfgenosse des alten Liebknecht, und wir kannten Liebknechts Worte: "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!" besser als die zehn Gebote, die uns der Rektor Bärmann acht Jahre lang eingebläut hatte.
Es waren harte und stürmische Tage. Wir hockten zusammen wie ein Spatzenschwarm. Wir verschlangen unsre Zeitungen. Wir lasen, was die Genossen in Paris sagten und die Genossen in Wien. Wir hörten auch auf das, was im Parteihaus gesprochen wurde, was unsre Bonzen in den Versammlungen sagten. "Nieder mit dem Krieg!" sagten sie. "Wir wollen uns nicht mit Frankreich schlagen!" schrie der alte Bacher. Wir, die Jugend, machten selber eine Versammlung gegen den Krieg, und zwei Tage später war eine Demonstration. Es war die erste, die wir mitmachten, und sie war auch gegen den Krieg.
Willi und Peter marschierten mit den Fahnen an der Spitze. Dann kamen wir anderen. Breite Reihen, überall unsere hellroten Wimpel, überall unsere Losungen. Willi sang: "Wacht auf, Verdammte dieser Erde!" Wir sangen mit. Der ganze Zug sang. Es war ein großer Tag. Wir wuchsen aus unsrer Kleinheit und wurden Riesen. Wir schlugen alles in Scherben, die Häuser, die Straßen, die Stadt, jeden, der uns entgegenkam. Wir zertraten, was an Krieg in der Luft war. Wir zerstampften es. Wir zerrissen es zu Spreu, streuten es in die Luft und
freuten uns, wie es der Wind erfasste und gegen die Berge warf.
Umso tiefer sollten wir drei Tage später fallen. Ich arbeitete mit Willi in der gleichen Abteilung. Wir hatten die Hobelbänke eingeschaltet und hobelten große Platten. "Ruck-schnurps!" machte die Hobelmaschine. "Ruck-schnurps!" und jedesmal schälte sie einen großen Span von der Platte und warf ihn, heiß und glühend wie er war, mitten in den Saal.
"Die Glocken läuten!" sagte Richard, unser Botenjunge, und schoss damit von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz.
"Die Glocken?" sagte Willi und riss das Fenster auf.
Wirklich, sie dröhnten wie Gongschläge in die surrenden Töne der Transmissionen und das harte Stoßen der Maschinen. Die Maschinen wollten das Gebrumme nicht hereinlassen. Aber es blieb. Es hielt sich. Es wurde zwar leiser, aber es war da, ein dicker, brummiger Ton, der langsam in uns hineinkroch und uns ganz schwer machte.
"Was ist los?" fragte Willi.
Keiner wusste es, bis es die kleine Lohmeyer, die beim Meister saß und unsre Lohnkarten führte, erfuhr. "Mobilmachung!" schrie sie. "Deutschland hat Frankreich den Krieg erklärt! Auch Russland!" Sie schrie es so laut, als hätte sie schon seit Tagen auf diese Nachricht gewartet. "Es geht los", sagte sie noch. "Es geht los!"
Willi lachte. "Denkst du", sagte er und schielte das Mädchen an. Ich lachte auch. "Nichts geht los, wenn der Arbeiter nicht will, und der Arbeiter will nicht!"
Aber es ging los. Fürchterlich ging es los. Zwei Stunden später trampelte und schrie die halbe Stadt durch die Straßen. Studenten, Schüler, kleine Beamten. Alle, die wir vor ein paar Tagen zerstampft und zerfetzt hatten. Standarten an der Spitze, Helme auf den Köpfen, geschulterte Regenschirme, Trommeln, Kapellen. Ein Karneval von Menschen und Gesichtern.
Willi beugte sich weit aus dem Fenster und sah hinab. Er lachte noch immer. Aber er lachte nicht mehr lange. War das nicht der dicke Hebrecker da vorn, und direkt neben ihm Preller? Preller war
Kriminalbeamter in unserem Nest. Diesem Nest, das plötzlich für uns so furchtbar und erbärmlich wurde. Sicher, es war Hebrecker, unser Verbandssekretär, und hinter ihm war Ehrler, und hinter Ehrler war Beilicke. Und Ehrler war Redakteur an unserer Zeitung, und Beilicke kassierte die Beiträge. Jede Woche kassierte er sie. Er war Parteikassierer, und jedes Kind kannte ihn.
"Hunde", sagte Willi. "Hunde", sagte Hans. "Schweinebande!" sagte Alfred. Ich sagte auch etwas von "Hunden und Dreckkerlen", aber die Kerle waren damit nicht wegzuwischen, sie blieben da. Ja, sie kamen näher. Hebrecker neben Preller. Ehrler Arm in Arm mit einem kleinen Studenten. Uns wurde ganz sonderbar unter der Herzgrube.
"Na", sagte Willi dann, "es sind ja nur die Bonzen!" Aber es waren nicht nur die Bonzen. Da waren ein paar Schlosser aus der Werkzeugmacherei. Da war der Portier von Portal 2, der immer schmunzelte, wenn wir vorbeigingen. "Unsre Jugend", sagte er. "Unsre Jugend!" Da war Karl, der in unsern Turnstunden den Vorturner machte, und da war sogar Eilert. Der lange Eilert, der schöne Eilert. Er war es wirklich, unser Jugendsekretär.
"Pfui!" sagte Willi. "Pfui!" Aber ich glaube, er wusste gar nicht, warum er das sagte. Er wollte einfach vor so viel Gemeinheit einmal ausspucken. Hans sagte: "Wir gehen nicht mit, und wenn uns der lange Eilert auch dazu prügeln würde!" Und als gleich danach der alte Fritz, unser Meister, kam und sagte, wir sollten uns auf die Straße scheren, machten wir einen Bogen um den Zug und gingen auf die Berge.
Wir wollten uns erst einmal aussprechen. Wir wussten ja noch gar nicht, was eigentlich gespielt wurde. Wir wussten nur: wir waren Sozialisten und wir waren gegen den Krieg. Vor drei Tagen hatten wir sogar noch gegen den Krieg demonstriert, die ganze Partei, und heute... Heute demonstrierten Hebrecker und Ehrler und alle anderen dafür. Mit Fahnen und Musik, mit Liedern und mit Hurra, mit Polizisten und Studenten.
Willi sagte noch einmal: "Pfui!" und spuckte aus. Hans heulte beinahe. Fritz zertrampelte den Rasen. Ich war etwas ruhiger geworden. Ich sagte: "Warten wir ab. Man muss ja erst sehen, was überhaupt daraus wird."
Am nächsten Tag wussten wir, was daraus wurde. Der Kaiser hatte gesagt: "Man will nicht dulden, dass wir in entschlossener Treue zu unserem Bundesgenossen Österreich stehen!" Und dann: "In aufgedrungener Notwehr ergreifen wir das Schwert!" Und dann: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!" Auch unsre Reichstagsabgeordneten hatten gesagt: "Wir kennen keine Parteien mehr!" und dann stimmten sie mit den anderen Parteien für die Kriegskredite: Scheidemann und Ebert, Haase und Dittmann und Ledebour - alle.
Da standen wir nun. Gestern hatten sie uns gelehrt: "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!" und heute bewilligten sie diesem System Milliarden. Gestern mussten wir "Nieder mit dem Krieg!" rufen, und drei Tage später schrieb Ehrler in der Arbeiterzeitung: "Der alte Bebel hat einmal gesagt, wenn es gegen Russland ginge, nähme er auch die Flinte auf den Buckel!" Ja, da standen wir, klein, ganz klein, sieben winzige Kerle, und da war Hebrecker und Eilert, da war die große Partei, ein Riese, und da war unsre Jugendorganisation, und alle sagten dasselbe und alle marschierten plötzlich für den Krieg. Man konnte es nicht zu Ende denken.
Wir ließen die Hobelbänke sausen und sahen uns an. Wir machten fast nur Bruch, und Tränen saßen in unsern Augen. Ja, ihr könnt es glauben, Willi heulte sogar. "Heute dafür und morgen dagegen, und das sind wir. Das sind die Kämpfer für den Sozialismus, für die Menschheit! Das ist die junge Garde! Scheiße ist das alles. Gottverdammte Scheiße!" Da brach das Hobeleisen ab, und der alte Fritz kam, und der alte Fritz pfiff uns einen, und dann ging es wieder für eine Weile.
Michel sagte: "Gehen wir doch einmal zum alten Bacher." Aber wir hatten auch da Pech. Der alte Bacher hatte schon seinen roten Zettel bekommen und war nach Eisenach in die Kaserne gefahren. Seine Frau saß in der Küche. Sie hatte große verquollene Augen und konnte uns kaum ansehen. Sie heulte.
Wir wollten wissen, ob Bacher gern nach Eisenach und zu seiner Kompanie gegangen sei. "Nein", sagte die Frau, "er hat geschimpft, furchtbar hat er geschimpft, und er hat auch von euch gesprochen. Ihr seid jetzt seine Hoffnung und ihr sollt ihm so schnell wie möglich schreiben!"
Natürlich wollten wir ihm schreiben. Morgen schon. Aber das war im Augenblick kein Trost, und wir gingen zum kleinen Henner. Der kleine Henner war unser Bester, und er war erst vor zwei Jahren von der Jugend in die Partei gekommen.
Wir klopften bei ihm an. "Was soll ich euch sagen", knurrte er, nachdem wir alles, was an Zweifeln in uns saß, vor ihm ausgeschüttet hatten. "Da ist kaum etwas zu machen. Die Bonzen sind alle dafür, und wir kleinen Tiere zählen ja nicht. Ich war gestern bei Hebrecker. Er hat mich hinausgeschmissen. Natürlich machen wir mit, hat er gesagt. Wir müssen doch den feinen Pinkels einmal zeigen, dass wir genau so gute Deutsche sind wie sie, wenn das Vaterland in Gefahr ist. Sogar noch bessere als sie. Sie werden' s schon erleben!"
"Und du?" fragten wir.
"Ich? Da ist mein Wisch. Morgen muss ich mich melden." "Du gehst!" Wir sahen ihn an, aber er merkte es nicht, dass wir ihn ansahen.
"Ich gehe", sagte er nur. "Was kann ich allein machen."
Wir zogen weiter. Aber keiner gab uns einen besseren Rat. Jeder hatte außerdem mit sich zu tun, hatte den roten Zettel schon bekommen, oder der rote Zettel konnte im nächsten Augenblick hereingereicht werden. Wir sparten keine Worte. Wir sagten dem einen, was der andere gesagt hatte. Messer, ein alter Schreiner, sagte: "Wenn
man alle schnell noch einmal zusammenbekäme, wäre vielleicht etwas zu machen. Aber bekommt sie zusammen! Es ist ja, als hätte der Teufel alle und alles auseinandergeschissen!"
Das war ein sonderbares Wort. Der alte Messer lachte auch, als es ihm aus den Zähnen rutschte. Aber es half uns auch nicht weiter, und zuletzt gingen wir zu Eilert.
Willi wollte nicht mit. Aber schließlich war Eilert unser Jugendsekretär. Wir schoben in seine Kammer. Er saß am Tisch und hatte eine große Karte ausgebreitet. Er sah rund und rosig aus. Er rauchte, und wir wussten gleich: Willi hatte recht, hier hatten wir mit unsern Zweifeln nichts zu suchen. Wir waren an der falschen Adresse.
Wir sagten ihm trotzdem, was wir auf dem Herzen hatten. Aber Eilert lachte nur. Lachte uns groß und fröhlich aus. "Was seid ihr für dumme Kerle!" sagte er. "Habt ihr nicht gelesen, was die Reichstagsfraktion gesagt hat: wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich! Dass außerdem...", und wir hörten, was wir alle schon wussten und was uns das Leben ja so schwer machte. Eilert sagte zu dem allen nur sein großes und breites Ja. Er fand es herrlich: "Jetzt beginnt auch für uns Jungsozialisten eine große Zeit!"
Wir wurden durch jedes seiner Worte kleiner. Dann krochen wir aus seinem Zimmer wie Mäuse, die man ins Wasser geworfen hat. Nur nicht so ängstlich waren wir. Willi sagte wieder: "Pfui Teufel!" Michel: "Dieser Saukerl!" und ich, ach, ich weiß es nicht mehr.
Dann nahm uns langsam das Leben und die Arbeit wieder gefangen. Wir hobelten und ließen unsre Maschinen laufen. Wir feilten und drehten. Wir lernten, wie man ein Zahnrad einpasst und wie man eine Nute fräst. Wir waren ja nebenbei junge Kerle, die etwas zu lernen hatten. Lehrlinge im vierten Jahr, und im nächsten Jahr wurden wir, wenn wir nicht vorher den roten Zettel bekamen oder freiwillig totgeschossen wurden, Gesellen.
Dazwischen hörten wir von großen Schlachten und Siegen. Richard ging und der kleine Meyer. Unsre Schar wurde immer kleiner, und wir wussten noch immer nicht, was wir dagegen machen sollten. Am
Abend saß Eilert hinter dem Pult und las uns das Bekenntnis von Bröger vor. Er stieß es mit abgehackten Sätzen aus seinem runden Gesicht, dass Deutschlands ärmster Sohn auch sein getreuster sei, ließ Speichel dabei, und der Schweiß rann über seine Stirn. Die Mädchen machten runde Augen, bis auf Bertha, die es mit uns hielt, und die jüngeren lernten den Quark auswendig. Dann sangen sie vaterländische Lieder. Wir verzogen das Maul und spuckten wieder aus, aber das war alles, was wir gegen diesen Rummel taten.
Zuletzt gingen wir einfach nicht mehr hin, blieben oben auf den Berghängen, lagen im Gras und dachten nach. Michel sagte: "Maubeuge ist gefallen." Hans sprach von Tannenberg. Manchmal wurden wir schon ein wenig stolz, dass wir auch zu diesen Siegern gehörten. Einmal sagte Hans sogar: "Dieses Russenpack, sich so einfach ersäufen zu lassen!" Aber danach war es ganz still, und Willi sah ihn von unten an, Hans schämte sich. Wir schämten uns alle, und dann sagten wir nichts mehr.
Und plötzlich wurden wir wieder nüchterner. Da kam, zwei Tage nach dem großen Sieg an der Marne, die Mitteilung, dass unser alter Bacher tot sei, und mitten in die Nachricht von seinem Tod kam die Antwort auf den Brief, den wir ihm geschrieben hatten. Wir lagen gerade unten an der Saale, wo wir immer mit ihm gesessen hatten, wenn er vom alten Liebknecht und vom alten Bebel erzählte. Bertha brachte uns den Brief. Es waren drei winzige Zettel. Sie hatte sie von Bachers Frau erhalten.
Bacher schrieb uns: "Ihr fragt, was ihr tun sollt. Was habe ich euch immer gesagt? Was haben wir alle Tage besprochen? Was haben wir uns Stunde für Stunde eingehämmert? Wir wollen keinen Krieg! Nieder mit dem Krieg! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!" Dann schrieb er uns noch, dass er auch an der Front alles tue, um gegen den Krieg zu kämpfen. "Es ist noch ein kleiner Lehrer auch Sachsen da, auch ein Kumpel aus Essen. Prächtige Kerle. Wir sind zwar nur eine winzige Zelle in dem großen Regimentsbauch, aber ihr erinnert euch sicher noch, wie wir einmal im botanischen
Museum unter dem großen Mikroskop das Wachsen von Zellen beobachtet haben. Sie wachsen zusehends, teilen sich, vergrößern sich, aus einer werden zehn, aus zehn hundert." Weiter hatte er nichts geschrieben.
Wir saßen lange über dem Brief, dem Brief eines Toten, und jedes seiner Worte wurde lebendiger, wie wenn er es gesprochen hätte, kroch in uns hinein, in den Kopf, in den Leib, fasste uns an und wirbelte uns hoch.
Aber es wirbelte uns nicht so hoch, dass etwas geschehen wäre. Nein, ich muss es heute gestehen, wir waren schon recht angefressen. Von dem, was Hebrecker alle Tage predigte, von dem, was Eilert jetzt von Lersch deklamierte: "Deutschland muss siegen, und wenn wir sterben müssen!" Die vielen Siege. Das ganze Leben. Wir waren erst siebzehn und durften plötzlich bei der Arbeit rauchen. Der alte Fritz sagte "Sie" zu uns. Wir lernten auch nicht mehr. Wir kamen an große Revolverbänke und drehten kleine Hülsen, bis zu 60 Stück in der Minute. Wir waren beinahe Gesellen. Wir hatten Akkord, bekamen dicke Lohntüten und bildeten uns auf das alles etwas ein. Es mussten schon gröbere Stöße kommen. Sicher nicht bei allen. Bei Willi sogar bestimmt nicht. Aber bei Hans, bei mir, bei Michel und bei Fritz.
Der zweite Stoß kam drei Wochen später. Durch Pullmann. Gott, Pullmann war eigentlich weiter niemand. Ein kleiner Genosse unter vielen. Aber er hatte auch einmal zu unserm engsten Kreis gehört, war schon am zweiten Mobilmachungstag eingezogen worden, und nun hatte er uns einen Brief geschrieben.
"Liebe Genossen!" schrieb er. "Wir hatten gestern einen furchtbaren Bajonettkampf mit Belgiern, und ich habe einem von ihnen mein Bajonett durch den Leib gestochen. Es war furchtbar. Man kann das gar nicht beschreiben. Ich habe es gespürt, wie wenn das Bajonett durch meinen eigenen Leib ginge. Dann habe ich mir den Mann angesehen. Es war ein blasser, bärtiger Mann. Er sah genau so aus wie einer von unsern Glasbläsern, hager, ausgebrannt. Dann habe ich seine Tasche aufgemacht, und er war tatsächlich einer. Aus Gent. Ein Kollege von mir. Er hatte sogar die Karte semer Gewerkschaft in der Tasche. 11 Jahre organisiert, und ich habe ihn erstochen. Der Glasbläser Pullmann den Glasbläser Limon. Ja, so hieß er. Und warum?"
Das war es. Über das Warum war er sich nicht klar. Aber jedenfalls saß es so in ihm, dass er nicht mehr schießen und nicht mehr stechen wollte, "und morgen werde ich es meinem Leutnant sagen!" Er hat es ihm auch wohl gesagt, denn wir hörten eine Woche später, dass Pullmann wegen Feigheit vor dem Feind vor ein Kriegsgericht gekommen sei.
Das hat uns alle sonderbar berührt, und ausgerechnet mit dem kleinen Pullmann musste das passieren. Er ging sonst jeder Mücke aus dem Wege, und jetzt stand er vor dem Kriegsgericht. Wir sahen ihn stehen, klein, mager, ängstlich. Vor ihm drei Offiziere, rechts und links von ihm Unteroffiziere mit aufgepflanztem Seitengewehr. Willi lachte laut: "Feigheit vor dem Feind, weil der Glasbläser Pullmann den Glasbläser Limon nicht mehr durch den Leib stechen will." Ja, es packte uns, irgendwie innen, und wir waren zum ersten mal seit jenem Demonstrationszug wieder stolz. Wir trugen die Köpfe höher. So ein Kerl gehörte zu uns. Wir hatten einmal neben ihm gesessen. Wir hatten ihm die Hände gedrückt.
Den letzten Stoß bekamen wir, als wir einmal mittags durch die Straßen strichen. Es war Pause, und wir bummelten an den Redaktionen vorbei, hinauf zum Bahnhof, um etwas Neues zu erfahren. Auf dem Bahnhof wurden Verwundete ausgeladen. Das erste mal Verwundete. Es waren Deutsche, Belgier und Franzosen. Sie sahen schlimm aus. Manchmal sah man vor lauter Mull nur die Augen oder die Nase. Sie stöhnten und jammerten. Aber das war es nicht.
Auf den Bürgersteigen stauten sich die Menschen. Bürger, Arbeiter, viele Frauen. Gegenüber von uns standen ein paar "Gestöckelte". So nannten wir damals die vornehmen Leute in unsrer Stadt. Da war eine dicke, rundliche Frau mit einem großen Busen. Um sie drei andere. Sie sahen genau so auf die Verwundeten wie wir. Aber immer wenn ein Deutscher vorbeigetragen wurde, hoben sie ihre Taschentücher an die Augen, stellten sich auf die Zehen und winkten, und immer wenn ein Franzose oder ein Belgier vorbeigetragen wurde, verzogen sie ihre Gesichter. Die Dicke spuckte sogar manchmal aus und sah auf die Seite.
Neben den vieren stand eine Arbeiterfrau. Wir kannten sie. Sie sah auf die Verwundeten. Aber sie sah mit ganz dem gleichen Gesicht auf die Deutschen und die Franzosen, und wenn einer lächelte, lächelte sie auch, und wenn ein Verwundeter stöhnte oder verzweifelt mit seinen Händen in die Luft griff, kamen ihr Tränen in die Augen und sie wandte sich ab.
Wir sahen eine ganze Stunde wie gebannt auf die verschiedenen Gesichter. Dann mussten wir wieder in die Fabrik. Aber am Abend gingen wir nicht zu Eilert, wie es besprochen war, wir gingen auf unsre Berge, und dort lagen wir bis Mitternacht. Wir lagen ganz still. Wir sahen in die Luft oder hinunter in die Stadt. Willi zog Gräser durch die Zähne. Hans hämmerte mit den Schuhspitzen auf den Boden, und es sah aus, als lägen da nur ein paar Jungen und freuten sich, weil der Mond am Himmel stand und sie leben und atmen konnten.
Aber wir freuten uns nicht. In jedem von uns brannte ein Feuer, und jeder von uns schürte das Feuer. Wir wussten jetzt, Bacher hatte etwas Richtiges gesagt: wir wollen keinen Krieg, deswegen "Nieder mit dem Krieg!" Und der Pullmann, der vor dem Kriegsgericht stand, war ein größerer Held als der Pullmann, der den belgischen Glasbläser durch den Leib gestochen hatte. Wir sahen jetzt auch wieder: es ging, obwohl der Kaiser gesagt hatte, er kenne keine Parteien mehr, und obwohl unsere Bonzen es bestätigt hatten und wollten, dass wir uns für diesen Kaiser totschießen ließen, eine breite Linie durch die Welt. Aber keine, die mit Grenzpfählen und Marksteinen aufgerichtet war, die man mit Worten wie Nation, Vaterland oder Heimat abstecken konnte. Sie ging mitten durch die Nationen hindurch. Es war unsere Linie, die Klassenlinie, und es war höchste Zeit, dass wir sie wieder ausrichteten.
Es dauerte lange, bis wir, jeder auf seine Weise, zu dieser Erkenntnis gekommen waren, aber dann war es so weit. Willi fing an: "Man müsste etwas tun."
Hans uns Michel nickten. Fritz schlängelte sich näher. "Irgend etwas Richtiges, damit sie es einsehen, die Rindsviecher." Wen er damit meinte, wussten wir nicht genau. Ob die Bonzen oder all die anderen, die den Bonzen jetzt nachliefen.
Alfred, der immer der realste von uns war, sagte: "Aber was?"
"Tja, was!" Wir lagen im Gras und dachten weiter. Es wurde kalt und immer kälter. Tau fiel, aber wir merkten es nicht. Wir dachten ja, und das Feuer in uns wurde immer größer.
Plötzlich sagte Willi: "Einfach überall anschreiben, was uns Bacher alles gesagt hat." Aber Alfred sagte: "Wie sollen wir das machen. Wenn wir es anschreiben wollen, muss es kürzer sein. Und wohin und wie?" Ja, es war nicht so einfach, einen guten und wichtigen Gedanken in die Tat umzusetzen.
Aber dann ging doch alles ziemlich schnell. Eines Tages war Köster da. Köster war ein kleiner, buckliger Schneider. Er war auch bei uns in der Jugend gewesen. Immer ein wenig störrisch, immer ein wenig oppositionell. Er war, gleich nachdem er ausgelernt hatte, auf die Wanderschaft gegangen, und wir hatten ihn aus den Augen verloren. Er kam aus Erfurt, und in der nächsten Versammlung meldete er sich zum Wort. Er sprach gegen den Krieg, auch davon, dass man etwas tun müsse.
Eilert pfiff ihn an wie ein Korporal seinen Rekruten. Die Mädchen kreischten, und die Kleinen warfen mit Papierkugeln nach ihm. Aber Köster pfiff und kreischte wieder. Nun schrie Eilert, aber Köster schrie auch, und zuletzt warfen sie ihn hinaus. Es war ein Glück, dass Eilert nicht noch weiter ging und Köster denunzierte, denn später hat er das oft getan.
Köster war von dem Tag an unser Mann. Er erzählte uns, dass sie in Erfurt, wo er in einem großen Betrieb Zuschneider für Soldatenmäntel gewesen war, Flugblätter verteilt hatten. Winzige Flugblätter. Nichts weiter drauf als "Nieder mit dem Krieg!" oder "Arbeiter, schießt nicht auf eure Brüder!" Sie hatten auch einige in die Mäntel gesteckt, und mit den Mänteln waren die Zettel in die Kasernen und an die Front gekommen. Drei Wochen hatten sie es gemacht. Im Betrieb war nichts passiert, aber plötzlich war eine Anzeige aus Flandern gekommen, und da man nicht erfahren konnte, wer die Attentäter waren, hatte man die Werkstatt aufgelöst, und auch Köster war auf die Straße gesetzt worden.
"Also Flugblätter", sagte Willi. "Also Flugblätter", sagte Hans. Aber das Herstellen war schon schwieriger. "Ihr müsst selber einmal nachdenken!"
Wenn wir früher ein Flugblatt brauchten, gingen wir zum alten Heinemann. Der setzte es, zog den Satz ab, dann überlasen wir alles noch einmal. Heinemann schickte es eine Treppe tiefer, der Satz lief durch eine der großen Druckmaschinen, und das Flugblatt war fertig. Aber jetzt war Heinemann irgendwo an der Front. Wo Heinemann gestanden hatte, stand der lange Kunze. Kunze war ein Freund von Eilert. Nein, Kunze konnten wir nichts von uns zum Drucken anvertrauen. Am nächsten Tag hätte es Eilert gewusst, am übernächsten der Parteivorstand und dann die Polizei.
"Schreiben", sagte Hans.
Alfred: "Du bist wohl verrückt. Jeder kann doch dann sehen, wer die Blätter gemacht hat!" "Zeichnen!"
Das war genau so dumm. Wer sollte außerdem so viele Blätter zeichnen. Wir mussten uns schon etwas Besseres ausdenken.
Wir fragten Köster, wie sie es in Erfurt gemacht hatten. "Mit einer Schreibmaschine." Aber eine Schreibmaschine hatten wir auch nicht. Wir saßen in den nächsten Tagen jede freie Stunde zusammen und
überlegten. Auch während wir drehten, überlegten wir. Es war zum Verzweifeln. Da wollten wir endlich das Richtige tun, und nun hatten wir keine Möglichkeit, es durchzuführen.
Bis Willi eines Morgens sagte: "Es ist alles in Ordnung. Ich habe da etwas ausbaldowert." Wir sollten nur entschuldigen, dass es so lange gedauert, aber der Mann, den er bearbeitet hatte, habe zuerst nicht recht gewollt.
"Was ist es denn?" fragte Hans.
"Eine Handdruckmaschine!"
Wir rissen das Maul auf. "Wo?"
Aber Willi wollte es nicht sagen: "Der Mann, der sie hat, will nur, dass ich und noch einer zu ihm kommen, und wenn nur zwei bei der Arbeit gebraucht werden, müssen es auch nur zwei sein, die es wissen."
Wir sahen ihn an. Traute er uns nicht? Auch ich war nicht einverstanden. Gerade das Gefährliche und Geheimnisvolle war es ja, was uns alle aneinander band, und je mehr wir die weiteren Schritte gemeinsam taten, umso stärker und unlösbarer hingen wir zusammen. Dann war da noch eine Frage: wer sollte der zweite sein? Aber Willi kanzelte uns ab wie Schuljungen. Er sagte etwas von höchster Vorsicht. "Wir sind doch keine Heldenjüngelchen. Keine Studenten, die eine Verschwörung vorhaben. Wir haben einfach unsere Pflicht zu tun, und da schon die russischen Arbeiter wussten, dass fünf lauter pfeifen als zwei, bleibt die Sache bei zwei." Er gab uns allen Strohhalme, und wir mussten ziehen. "Wer den längsten hat, ist der zweite!"
Ich hatte ihn und ich wusste im Augenblick nicht recht, ob es Pech war, dass ich ihn hatte, oder ob ich mich freuen sollte, denn es war ja eine gefährliche Arbeit. Aber Willi fragte gar nicht weiter. Die ganze Sache hatte ihm schon viel zu lange gedauert. "Wir müssen noch heute mit der Arbeit anfangen", sagte er. Wir ließen also die anderen sitzen und zogen los.
Wir mussten durch die halbe Stadt. "Wir gehen zum alten Bauer", sagte Willi. Ich kannte ihn. Er hatte unten am Markt einen kleinen Antiquitätenladen, verkaufte Münzen, Dolche, alte Teller, druckte außerdem Karten und Holzschnitte, die er an Sonn- und Feiertagen in den Restaurants verkaufte. Er war weiß und wohl schon achtzig Jahre alt.
"Der alte Bauer will uns also helfen", sagte ich.
Aber der Alte war es nicht. "Sein Enkel", sagte Willi. Er hieß Karl und arbeitet auch bei uns in der Fabrik. "Ich kenne ihn schon aus der Schule", erzählte Willi weiter. "Wir haben früher oft den halben Laden auf den Kopf gestellt. Karl hockt auch jetzt noch bei seinem Großvater. Seitdem der Alte die Siebzig überschritten hat, muss er sogar bei ihm schlafen. Allerdings nicht in der Kammer, sondern in der Werkstatt auf dem Kanapee." In dieser Werkstatt stand auch die Druckmaschine. Willi hatte sich plötzlich wieder ihrer erinnert. Er wusste sogar, wie sie bedient wurde. "Ich habe dem Alten oft bei dem Druck seiner Karten und Holzschnitte geholfen."
Es war nicht leicht gewesen, den Jungen in die Sache einzuweihen und ihn dazu zu bringen, dass er uns half. Willi erzählte mir noch, wie viel Zigaretten und wie viel Bier es gekostet hatte. "Ich habe ihm sogar meine Briefmarkensammlung versprechen müssen, bis dieser triefäugige Kerl damit einverstanden war, dass wir abends in die Werkstatt können, um etwas zu drucken, was nichts kosten soll."
Ich fragte ihn noch, ob Karl auch wüsste, was wir drucken wollten. "Rindvieh", sagte Willi - so grob konnte Willi werden - "natürlich nicht."
Ich verzog den Mund. "Na, gute Nacht!" Denn ich konnte mir nicht denken, dass uns Karl einen Augenblick aus den Augen ließ, wenn wir vor der Druckpresse standen. Aber dann sah ich, dass Willi auch das einkalkuliert hatte und dass alles besser ging, als zu erwarten war.
Es war ja noch einer da, der nichts wissen durfte. Nicht einmal, dass wir an die Handpresse gingen. Der Alte. Wir konnten also nur in die Werkstatt, wenn Vater Bauer die Werkstatt verlassen hatte. Er verließ sie abends zwischen acht und zehn. Er saß dann im benachbarten "Bären" und trank mit dem alten Gerber seinen Abendschoppen. Es war aber nie gewiss, ob Vater Bauer pünktlich um zehn ging. Oft krachte er sich mit dem alten Gerber, dann stieß er einfach sein Bier auf die Seite, ließ den alten Gerber sitzen und schaukelte heim. Das wusste Karl, aber auch Willi. Beide hatten nun ausgemacht, dass Karl ab neun vorn in den Laden ging und hinter den Gardinen Schmiere stand. Kam Vater Bauer, so wollte er pfeifen. Wir mussten dann alles zusammenpacken und auf den Hinterhof gehen. Wenn der Alte im Bett war, wollte uns Karl durch den Laden wieder hinauslassen. Wir hatten also immer eine Stunde, wo wir unbeobachtet waren, und von acht bis neun mussten wir etwas anderes drucken. Ich war erstaunt, wie gut Willi auch das vorbereitet hatte.
Karl stand schon hinter der Tür, als wir klopften. "Schnell", sagte er. Wir gingen hinein, und er brachte uns gleich in die Werkstatt. Es war ein sonderbarer Raum, voller alter Dinge und Gerüche. Und mitten in dem alten Krempel, unter Bildern und Statuetten, stand auf einem schweren Unterbau die Presse.
Aber wir hatten keine Zeit, uns umzuschauen. Willi zog schon einen dicken Karton aus der Tasche. Ich hatte ihn vorher nicht gesehen, und ich konnte auch nicht erkennen, was darauf war. Ein paar sonderbare Schnörkel und Löcher. Karl half zuerst. Er brachte eine schwarze Schmiere, schmierte sie über den Karton, dann klemmte er die Presse auseinander, schob den Karton darunter, ein Stück weißes Papier darüber, eine Platte darauf, und dann warf sich Willi auf die große Schraube und ließ sie mit einem Schwung auf Platte, Karton und Papier hinunter sausen.
Wir drehten sie beide wieder auf, Karl hob die Platte. Auf dem weißen Papier waren vier sonderbare Vögel, um die Vögel ein paar geschwungene Linien, inmitten der Linien stand "Bund der Falken".
"So", sagte Karl. "Einen neuen Bund wollt ihr also gründen. Das ist das Geheimnis."
Willi kniff nur das rechte Auge zusammen, ich blinzelte mit, dann druckten wir schweigend weiter. Plötzlich rasselte die Uhr, "Neun", sagte Karlchen. "Ich will mal lieber gehen. Der Kleine wird' s ja nun wahrscheinlich auch können!" Und wie ich es konnte! Einmal sah mir Karl noch zu, dann ging er wirklich.
"Schnell", sagte Willi. Er hatte schon einen anderen Karton aus der Tasche genommen. Er war größer als der erste. Willi strich zweimal mit der Schwärze darüber. Ich legte das Papier bereit, Willi die Platte über beides, dann knallte die Schraube nach unten. Wir drehten sie mühsam wieder nach rechts. Willi hob die Platte hoch, und wir konnten es beide lesen: "Nieder mit dem Krieg!" stand groß und mit seltsam schweren Lettern auf dem weißen Papier.
Es war zu zweit schwerer als zu dritt. Wir konnten auch nicht lange drucken. Zehn vor zehn kam Karl sicher wieder herein. Außerdem mussten unsere Blätter ja auch trocknen, Wir konnten also kaum dreißig Blätter drucken.
Fünf Abende druckten wir so. Es war eine harte Arbeit. Die anderen bekamen uns in dieser Zeit kaum zu sehen. Nur in der Mittagspause lachten wir uns geheimnisvoll zu, und ich zischte: "schon sechzig!" "Schon neunzig!" "Schon hundertzwanzig!"
Willi. nahm die Blätter immer mit. Wir hatten in unserer Schulzeit in einem alten Steinbruch einen Geröllhaufen, den wir mit Brettern und Ästen zugedeckt hatten und unsere Burg nannten. Darin versteckte Willi sie. Hundertfünfzig hatten wir nun. Das war fürs erste genug, und ich musste die anderen benachrichtigen, dass wir fertig waren.
Am nächsten Abend kamen wir alle in der Burg zusammen. Es waren kleine Sitzplätze da. Jeder hatte einen, und Willi saß in der Mitte auf einem erhöhten Platz. Er war schon früher unser Häuptling gewesen.
"Na, zeigt sie einmal her", sagte Alfred, und alle drängen sich um Willi und mich.
Wir zeigten sie ihnen. Sie sahen die Blätter sonderbar überlegen an. Sicher, sie waren nicht schön. Es war altes, vergilbtes Papier. Wir hatten auch manchmal gewackelt. Die Buchstaben waren verschwommen. Der Druck saß auch nicht immer in der Mitte. Hans, dieser Schweinehund, zog sogar die Augen in die Höhe und die Lippen auseinander.
Willi sagte ihnen, wie schwer das Drucken war. Was für Mühe und Arbeit es gemacht hatte. Er sprach auch von den Gefahren: "Steckt also gefälligst euer Lachen ein. Das nächste Mal könnt ihr es übrigens besser machen!"
Sie lachten schon nicht mehr. Es kam ja auch gar nicht darauf an, wie die Zettel aussahen, die Hauptsache war, dass sie überhaupt da waren und dass sie so schnell wie möglich verteilt wurden.
Hans sagte: "Wir werden sie morgen auf die Werktische legen." "Ja", sagte Alfred, "wir gehen ein paar Minuten früher hin und verteilen sie." Michel: "Oder wir streuen sie in die Garderobe." Fritz: "Ich klebe meine in unsre Klosetts." Jeder wusste etwas und jeder gab es zum Besten.
Aber Willi hatte wohl andere Pläne. Er sagte zu allem bloß: "Ja, ja", oder "Vielleicht", oder er wiegte nur seinen Kopf hin und her. Alfred wurde ärgerlich. "Mach doch bessere Vorschläge", knurrte er.
Willi sagte: "Hauptsache ist, dass die Zettel ziemlich viele bekommen, und noch wichtiger ist es, dass die Zettel auch gelesen werden. Wenn wir sie aber auf die Plätze legen, sieht sie der erste, der kommt, macht ein Geschrei, und bevor die anderen kommen, haben sie die Meister schon zusammenklauben lassen, und sie sind zum Teufel!"
"Und in der Garderobe", sagte Michel.
"Wenn wir sie hinstreuen, hebt sie der erste auf, zeigt sie dem Portier und der kehrt sie zusammen."
Michel: "Dann müssen wir sie eben jedem in seinen Spind stecken." Hans: "Und in der Werkstatt jedem in seinen Werkzeugkasten."
Willi nickte: Wenn dann einer seinen Kasten aufzieht und den Zettel sieht, schiebt er den Kasten sicher im ersten Schreck wieder zu, besieht sich später den Zettel zum zweiten und dritten Male, und sein Nachbar macht es bestimmt genauso. Jeder hat doch zuerst das Gefühl, vielleicht habe ich allein so einen Wisch im Kasten, und wenn ich ein Geschrei mache, sitze ich in der Patsche!"
Wir lachten. Willi hatte sicher recht. Hans sagte: "Ich sehe sie schon. Vor allen Dingen unsern kleinen Angermann. Der wird sicher Blut schwitzen."
Willi verteilte die Zettel. Michel war in eine Großdreherei gekommen. Er musste die meisten haben. "Steckt sie in die Jackentasche", sagte Willi", und behaltet ja keinen bei euch. Sie suchen dann sicher in allen Spinden und allen Taschen."
Wir brummelten etwas, als wir wieder ins Tal stiegen. Wir waren trotz aller Aufregungen und allem, was passieren konnte, wieder froher. Wir wussten übrigens kaum, dass auch jeden Zettel, den wir bei uns trugen, zehn Jahre Zuchthaus oder Arbeitshaus standen. Wir wussten nur, wir taten wieder etwas. Wir saßen nicht mehr herum und ließen uns von Eilert beschwatzen und von Ehrler Siegesmeldungen ins Hirn träufeln. Wir waren wieder auf dem Marsch.
Es geschah dann alles so, wie es Willi vorausgesagt hatte. Ich hatte über Nacht meine Zettel unter dem Kopfkissen. Früh stopfte ich sie in die Hosentaschen. Es fiel nicht weiter auf, dass wir mit die ersten waren, die durch die Tore kamen. Wir waren es sonst auch. Ich zog mich hastig um; auch das war wichtig, dass wir in unseren Arbeitskitteln in die Werkstatt gingen.
Ich schob meine Zettel ohne große Mühe zwischen Werkbank und Schubfachleiste in die Werkzeugkästen. Immer einen, denn wir hatten ja so wenig. Die letzten vier für die Dreher kamen in ihre Garderobeschränke, die Dreher hatten keine Arbeitskästen. Dann ging ich aufs Klosett und kam nach ein paar Minuten wieder.
Es war kaum etwas zu merken. Laatsch saß an seinem Platz und stierte in seinen Kasten. Der dicke Ackermann machte seinen Kasten
einmal auf und einmal zu. Meier 2 hatte sich, um besser zu sehen, seine Brille auf die Nase geschoben. Der alte Michel hatte den Mund offen. Prohaska lachte sogar, dieser Himmelhund. Er freute sich sicher. Ja, Willi hatte recht, jeder saß vor seinem Kasten, wie ein Vogel, der ein falsches Ei in seinem Nest gefunden, oder wie einer, den ein Schlag getroffen, kein harter, aber einer, der es in sich hat.
Meier 2 war der erste, der seinen Schock überwand. Er ging in die Meisterbude zum alten Fritz und bat ihn, er möchte einmal mitkommen. Der alte Fritz kam mit. "Da", sagte Meier und zeigte auf seinen Kasten. Der alte Fritz sah hinein, nahm den Zettel heraus und hielt ihn vor seine Augen. Dann sah er Meier 2 an, dann schaute er in die Abteilung, und dann ging er genau so langsam, wie er gekommen war, wieder an seinen Platz. Dann kam Wulf und brachte seinen Zettel, und dann kamen noch mehr. Es war ein ewiges Gehen und Kommen, und ich nahm auch den meinen und brachte ihn zum alten Fritz, und der alte Fritz wurde immer blasser und wusste kaum noch, was er sagen sollte.
Dann kam der Obermeister und sah die Zettel an, dann der Betriebsingenieur, dann der Betriebsführer, und dann kam Preller, der Kriminalbeamte Preller, mit noch einem Mann, den ich nicht kannte, und dann kam ein Schutzmann in Uniform mit einer Mappe. In diese Mappe kamen die Zettel alle hinein.
Unterdessen sprach sich' s herum: "Auch in Abteilung 4 sind solche Zettel gefunden worden!" "In Abteilung 1!" "Bei Bollert in der Fräserei!" "Bei Immich, in der Optik!" Es waren überall dieselben Zettel. Es war eine große Aufregung, und man sprach von Vaterlandsverrat und von Untersuchungen, von Schande für die Firma und von schlimmen Folgen. Ich drehte und drehte und sah mich kaum um und wartete nur, dass es Mittag wurde und dass ich auf die Straße kam.
Wir trafen uns wie immer am Tor. Aber jeder blinzelte nur mit den Augen. Dann mischten wir uns unter die anderen, auch das hatte Willi mit uns besprochen. Überall tuschelte man von schlimmen Sachen, die passiert waren. Dass es sich um Flugblätter gegen den Krieg handelte, sagte man nur ganz geheimnisvoll. Einer sagte: "Das waren sicher Franzosen oder Engländer, die die Flugblätter verteilt haben. Sie haben sich gestern Abend eingeschlichen und sind heute Morgen mit der Frühschicht wieder hinaus." Ein anderer sagte: "Nein, es waren Russen." Jeder wusste etwas anderes. Der kleine Ernemann: "Man hat schon einen bestimmten Verdacht." Unser Portier: "Man hat schon zwei verhaftet." Alfred sprach manchmal mit, und wir mussten die Zähne zusammenbeißen, um nicht heraus zuprusten.
Einer wusste sogar, wer die Kerle waren, die die Flugblätter in seiner Abteilung verteilt hatten, und Michel, der danebenstand, kniff mich dabei zweimal in den Arm, so heftig, dass ich beinahe geschrieen hätte. Fritz, der Schweinehund, hatte wirklich ein paar Zettel in die Klosetts geklebt. Der dicke Hahnemann erzählte es. Er hatte den kleinen Heinrich gesehen, wie er, die Hose in der Hand, aus dem Klosett geschossen kam. Der dicke Hahnemann lachte: "Ich glaube, er hätte lieber in die Hosen geschissen, als mit so einem Plakat eine Minute allein zu sitzen." Fritz stand hinter dem dicken Hahnemann und hörte zu. Er hätte sich beinahe die Zunge abgebissen.
Dann war die Pause vorbei, und wir mussten noch einmal hinein in den Kasten, drehten und schrubbten, nahmen eine Kapsel nach der anderen von der Drehscheibe und warfen sie in die Körbe. Preller kroch noch immer durch die Abteilungen, und der Polizist schrie und suchte noch immer nach Flugblättern. Dann schlug es endlich fünf, und wir konnten uns waschen, die Kittel ausziehen und die Bude verlassen. Wir ließen alles hinter uns, die Fabrik, die Straßen, die Stadt und zogen wieder auf unsre Berge.
Da lagen wir nun. Wir sagten noch immer nichts. Willi zog wieder Gras durch die Zähne. Hans trommelte mit den Schuhspitzen auf den Boden. Michel spuckte ein paarmal durch die Luft. Aber das alles war keine richtige Ruhe. In uns sah es ganz anders aus. Wir waren irgendwie durchgeschüttelt, aufgeplustert, gehoben. Wir wussten nur noch
nicht, wie wir das alles aus uns heraus brausen lassen sollten, und dann kam es. Ganz plötzlich. Alfred brummte das Lied von der "Jungen Garde". Drei Monate hatten wir es nicht gesungen, und jetzt kam es wieder aus uns heraus. Irgendwie von ganz unten. Es war wie ein Wind, wie ein Sturm. Wir sangen es bis zu Ende. |
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