DER MARSCH NACH GIRGENTI
  I. 
  "Es scheint wirklich Krieg zu geben", sagte  der alte Aprile zu Giorgio, stöhnte und stemmte sich langsam in die Höhe, denn  es war heiß, die Erde kochte, und von den Hängen des Canicatti kroch eine  kalkige Staubwand herunter. Giorgio, er war ein langer, sehniger Kerl und der  Gehilfe des Alten, nickte nur. Sie bedienten beide die kleinen Öfen, in denen  der Schwefelkies, den sie vorher in der Sonne zu länglichen Broten gebacken  hatten, langsam zu einer zähen, flüssigen Masse gebrannt wurde. 
  "Man müsste doch etwas gegen ihn tun", sagte  der Alte wieder. "Aber was?" fragte Giorgio und wischte sich den  Dreck von dem schweißigen, braunen Gesicht. "Ja, was", wiederholte  der Alte und fasste nach den gelben Schwefelbroten. Es war sicher auch schwer,  etwas gegen den Krieg zu tun, denn vorläufig wurde die Nachricht, dass der Duce  in Abessinien einfallen wolle, von den Leuten in Canicatti verhältnismäßig  ruhig aufgenommen. 
  "Dio mio", sagten sie, wenn der alte Aprile  davon anfing, "wo liegt denn dieses Abessinien?" Oder: "Warum  machst du dir überhaupt Sorgen, Alter?" Der Krieg selber lag für sie in  weiter Ferne. Er war tot, und sie wollten gar nicht wissen, dass er einmal  wiederauferstehen könnte. Als die Zeitungen alle Tage vom Krieg schrieben,  schüttelten sie allerdings auch die Köpfe. Aber dann überblätterten sie die  ersten Seiten, und als eine Woche später beinahe alles in den Zeitungen mit  Kriegsmeldungen angefüllt war, sahen sie einfach nicht mehr hinein. Man erfuhr  ja das, was wichtig war, auch auf der Straße, beim alten Pedro oder unten in  der Grube. 
    Aber plötzlich stand überall, dass die Jahresklassen  1913 und 1914 zurückgehalten werden und dass die ersten Soldaten bereits nach  Afrika unterwegs seien. Das machte auch die Ruhigsten unruhig.  "Soso", sagten sie, "der Duce möchte also doch anfangen."  Oder: "Als ob wir nicht vom letzten Kriege noch genug auf dem Pelze  hätten." 
    Da liefen auch schon die Mädchen aufgeregt von Tür zu  Tür. "Der Nello kommt nicht nach Hause", sagte die Tochter des alten  Pedro, "und wir wollten doch im Sommer heiraten!" Die Tochter des  alten Baretta sagte: "Der Renatus schreibt", und sie las den Brief  vor: "Liebe Angeletta! Wir müssen nach Obbia fahren, und das ist weit in  Somaliland!" Auch die alte Soala weinte und zeigte einen Brief ihres  Sohnes. "Er ist schon auf dem Schiff, und wer soll mir in diesem Jahr den  Wein hochbinden! 1916 haben sie mir den Mann genommen, und nun nehmen sie mir  noch den Sohn!" 
    Die Männer trösteten sie: "Wir haben dir den Wein  im vorigen Jahr hochgebunden, wir werden ihn dir auch dieses Jahr hochbinden,  und dein Junge kommt schon wieder. Es ist ja noch nicht Krieg. Er", und  sie meinten den Duce, "will mit den Soldaten, die er nach Somaliland  schickt, die Schwarzen nur schrecken!" 
    Aber sie waren nun ernstlich beunruhigt, und sie  wurden es noch mehr, als eines Morgens mit großen Buchstaben an dem Tor, das in  ihre Schwefelgrube führte, stand, dass der Jahrgang 1911 einrücken solle. Das  war nicht mehr etwas, was sie nichts anging. Das waren sie selber. Das war  Mario, der Strohkopf, das war Giorgio. Das waren zwei von der  Nachmittagsschicht, Und so hatte es auch 1915 angefangen. Jahrgang 1890,  Jahrgang 1891, sogar den Jahrgang 1900 hatte man am Schluss eingezogen. Und  einer nach dem anderen war gegangen und einer nach dem anderen war nicht  wiedergekommen, oder wenn er wiederkam, fehlte ihm ein Bein wie dem alten  Lazarri oder das Augen licht wie dem alten Ruffino. Sie waren Krüppel geworden  und keine Männer mehr, und es war furchtbar, sie anzusehen. 
    Der alte Aprile sah den roten Zettel zuerst. Er las  ihn von oben bis unten, schneuzte sich dann umständlich und ging weiter. Er  hatte es kommen sehen und die anderen gewarnt. Der alte Baretta konnte leider  nicht lesen. Er wartete, bis Mario kam. Aber Mario las nur die Überschrift,  dann stockte er, sagte "O Madonna!", stopfte sich seine große  Wasserflasche in die Tasche, ließ den alten Baretta stehen und rannte davon.  Anselmo und Peppo, die nach ihm kamen, lasen dem Alten den ganzen Aufruf vor.  Der alte Baretta, der im Kriege zwei Finger verloren hatte und dem in der Hüfte  noch ein großer Eisensplitter saß, verstand jetzt den jungen Mario, und er ging  heim, als wäre er geschlagen worden. 
    Sie hatten es nach und nach alle gelesen, die noch ihr  Brot beim alten Madrazzi fanden. Und alle waren still geworden, still und  schweigsam, und waren heimgesegelt wie übervolle Schiffe. Daheim saßen sie in  der Küche, wuschen sich nicht, zogen sich nicht aus, tranken nicht, schoben den  Napf mit der Suppe auf die Seite. Nein, auch Wein wollten sie nicht. Sie  dachten. Sie dachten ganz langsam und stückweise. Der alte Aprile sagte wieder:  "Man müsste etwas machen!" Aber was sollten sie machen? "Man muss!"  sagte auch der alte Baretta, stand auf und schlug mit der Faust auf den Tisch.  Alle sagten es, und dann schoben sie ihre Schüsseln noch weiter von sich,  nahmen die Kappen und stampften hinaus. 
    Sie stampften nur hinaus, um zu sehen, was draußen  war. und siehe da, da stand Giorgio vor seiner Tür und dort der alte Renato,  und dann schoben sie sich alle zusammen und gingen durch ihre kleinen,  armseligen Gassen hinüber zum Fluss und zum alten Ferdinando. Beim alten  Ferdinando saßen schon viele. Es wurde auch da wenig gesprochen. Jeder dachte  noch, und jeder wartete darauf, dass vielleicht ein anderer schon zu einem Entschluss  oder zu einem Ende kommt. Sie saßen beinahe den ganzen Abend so zusammen,  tranken in kleinen Schlucken von ihrem Wein, rauchten und spuckten aus und  blickten mit halb zusammengekniffenen Augen durch die blinden Fensterscheiben  auf die Straße. 
    Die Unruhe der Männer war unterdessen auch über die  Frauen gekommen. Was war mit diesen Kerlen, dass sie nicht einmal den Wein  tranken, den man ihnen vorgesetzt hatte? "Ich habe Polenta und Piselli im  Topf", sagte die alte Aprile, "und der Kerl hat einfach nichts  gegessen, nicht einmal einen Löffel voll." "Ja", sagte Anna,  Peppos Frau, "es ist wie damals, als sie die beiden Sartoris aus der Grube  brachten. Wisst ihr es noch, die beiden, denen der Stein das
    Gedärm aus dem Leib geschlagen hatte. Damals saß der  Alte genauso da." Die anderen erzählten dasselbe. Dann sprach es sich  herum, was geschehen war. Marios Braut erzählte es. Stoßweise brachte sie es  heraus, die Hände auf die Brust gepresst, die Augen rot und verschwollen.  "Mario soll einrücken! Morgen schon! Aber Mario ist in die Berge gegangen.  Der Duce soll selber nach Abessinien fahren, wenn er durchaus den Schwarzen ihr  Land stehlen will, hat er gesagt. Ich fahre nicht. Ich nicht!" 
    Die Frauen zogen ihre Gesichter zusammen, als hätten  sie Essig getrunken. "So", sagten sie, "der Mario soll  einrücken?" Plötzlich schrie die kleine Maria, die Tochter des alten  Aprile: "Aber wenn der Mario einrücken muss, muss doch auch Giorgio  einrücken. Sie waren zusammen in Messina, und dein Mann auch, Charlotta, und  auch der Vincens !"Aber Maria brauchte gar nicht so zu schreien, es hatte  die anderen ohnedies schon gepackt. Sie wussten auch genau: wenn erst einer der  Männer aus ihrer Reihe ging, gingen auch die anderen; und als wäre ihnen auf  einmal ein Messer in den Leib gefahren, schrien sie alle durcheinander. Sie  hoben die Hände dabei. Nein, sie stießen sie in die Höhe, und es sah aus, als  wären sie irre geworden oder als wüssten sie vor Schmerzen nicht mehr, was sie  tun sollten. 
    Da läuteten über Canicatti die Glocken. Das Geläut kam  aus der Kirche des heiligen Giorgio, in der der Pater Robertus amtierte. Der  Pater Robertus war ein alter Mann. Die Frauen kannten ihn alle und hatten ihn  gern, und wenn er vor dem Abendläuten die Glocken läuten ließ, war es sicher  etwas Wichtiges, was er ihnen zu sagen hatte. Vielleicht wusste er schon, dass  man wieder einmal nach ihren Männern griff, und er wollte deswegen zu ihnen  sprechen? 
    Der Pater Robertus hatte vom örtlichen Fascio den  Auftrag bekommen, eine Messe für die Männer zu lesen, die am nächsten Morgen  nach Girgenti fahren sollten. Er hatte bereits nach den Männern schicken  lassen, aber es war keiner von ihnen daheim gewesen. Nun kamen wenigstens die  Frauen. Sie kamen recht zögernd in den großen dunklen Raum, zögernder als  sonst, denn es ist nicht einfach, mit 
    einem Schmerz im Leibe in diese große Dunkelheit  hineinzugehen. Aber langsam füllte sich die Kirche, und als der Pater Robertus  die Kanzel betrat, waren es beinahe dreihundert Mütter und Bräute, Frauen und  Kinder, die auf den Bänken und Stühlen saßen. 
    Pater Robertus erhob seine Stimme und sagte: "die  Messe, die wir heute Abend abhalten wollen, ist eigentlich eine Messe für die  Männer, die der Duce zu den Fahnen gerufen hat, und die morgen nach Girgenti  und von Girgenti nach Afrika fahren. Aber da die Männer nicht da sind, wollen  wir sie zusammen für die Männer halten. Wir wollen für sie beten und ihnen  alles Gute und Gottes Segen wünschen!" 
    Die Frauen hielten einen Augenblick den Atem an. Es  war ihnen, als müssten sie plötzlich verstummen. Wie Frierenden war ihnen, denen  man Eis statt Wärme auf Herz presst. Aber sie verstummten nur für ein paar  Minuten, dann schrien sie auch hier auf: "Wir wollen kein Abschiedsmesse  für die Männer!" "Die Männer sollen hier bleiben!" "Hier in  Canicatti!" "Nein, wir lassen sie nicht gehen, damit wir sie als  Krüppel wiederbekommen!" "Nie!" schrien sie. "Nie!" 
    Pater Robertus hob die Hände: "Meine Lieben!  Meine Kinder! Aber sie müssen doch gehen. Der König hat sie gerufen. Der  Duce!" "Nein!" schrien die Frauen weiter. "Sie müssen nicht  gehen. Nie müssen sie gehen!" Die alte Aprile und die kleine Maria drangen  sogar zu ihm hinauf. "Hör auf!" schrie die alte Aprile und stemmte  sich vor dem Pater in die Höhe. "Hör auf! Wir wollen das nicht! Unsere  Männer bleiben da! Keiner darf gehen! Weder einer von den Jungen noch einer  von den Alten!" 
    Aber der alte Robertus hörte nicht. Er versuchte  weiterzureden. Da stürmten die Frauen wieder von der Kanzel herunter.  "Hinaus!" schrie die alte Aprile, "soll er den Eulen und  Fledermäusen predigen!' "Aber wohin?" rief die dicke Charlotte. Da  sagte die kleine Maria: "Wenn uns der alte Robertus und der heilige  Giorgio nicht helfen wollen, vielleicht hilft uns die heilige Mutter  Maria." "Ja, ziehen wir zur Kapelle der Mutter Maria!" sagten  auch die anderen. 
    Sie drängten und schoben sich gegen die Tür. Vorher  holten sie alles, was sie sonst mitnahmen,  wenn sie von der Kirche des Heiligen Giorgio zur Kapelle der Mutter Maria  zogen. Die zerschlissenen Fahnen und die neuen Standarten. Die Blumensträuße,  die auf die vergoldeten Stecken gebunden waren. Die Schärpen und die Bilder.  Sogar die Totenfahne riss Marios Braut aus ihrem Versteck, und die anderen nahmen  die dicken Kerzen, die sonst nur die Männer trugen. Alles nahmen sie mit, und  als sie wieder auf dem Platz vor der Kirche standen, waren sie wir überschwemmt  von dieser sonder baren Buntheit und dem Flackern der Kerzen. 
    Sie bildeten einen Zug und setzten sich, die Fahnen  und Standarten an der Spitze, nach der Kapelle der Mutter Maria in Bewegung.  Schon nach den ersten Schritten schrien und sangen sie; es war ein sonderbarer  Gesang. "Heilige Mutter Maria", sangen sie "hilf uns und lass  unsere Männer nicht fort!" Einige sangen es dumpf und wie gebrochen, die  anderen sangen es immer lauter, ja, Marios Braut und dicke Charlotta schrien es  so gellend, dass es von den Häusern zurückschallte. 
    Sie gingen ganz langsam, aber trotzdem stürmte, wogte,  brandete ihr Zug wie eine große Welle gegen die kleinen Häuser von Canicatti.  Sie riss sie auf, riss sie auseinander, riss die Menschen, die noch in den  Kammern und Stuben waren, mit, ließ sie genauso aufschluchzen, aufheulen und  ihren Schmerz in den Abend schreien, und als sie sich über den Markt wälzte,  waren aus den dreihundert schon beinahe fünfhundert geworden. 
    Auch die Männer hörten die Frauen. "Das ist  Marios Braut", sagte der eine. "Das ist die deine", sagte  Anselmo zum alten Aprile. "Was schreien sie wohl?" fragte der alte  Baretta. Sie standen auf, gingen an die Fenster und vor die Türen und sahen die  schwarze Welle näher kommen. Sie verstanden, was die Frauen sagten. Der alte  Baretta lächelte: da hatten sie den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend  zusammengesessen und überlegt, was sie gegen den Krieg tun können, und die  Frauen taten schon etwas. Sie marschierten einfach gegen ihn. "Gehen wir  mit", sagte der alte Aprile. "Ja", sagten 
    Giorgio und seine beiden Nachbarn, auch die anderen  reihten sich ein, und der Zug wurde immer größer. 
    Am oberen Markt stand der alte Ruffino und drehte  seine Orgel. "Komm mit, Alter!" sagten die Frauen. "Sie wollen  unsere Männer wieder in den Krieg holen!" "Ja, komm mit", sagte  der alte Aprile und fasste ihn leicht an der Schulter. Der alte Ruffino packte  seine Orgel fester und ging mit. Die Frauen schrien noch immer. "Heilige  Mutter Maria, hilf uns!" Oder: "Wir lassen uns unsere Männer nicht  nehmen!" Die Männer schrien: "Nieder mit dem Krieg!"  "Nieder mit dem Abenteuer von Abessinien!" Die vielen Kinder, die  ihre Mütter begleiteten, schrien auch, und dazwischen hörte man die quäkenden  Töne der Drehorgel. 
    Vor der Kapelle der Mutter Maria hatten sich die  Gendarmen von Canicatti und der örtliche Fascio aufgestellt. Der Zug stockte  einen Augenblick. Nur der blinde Ruffino mit seinem Leierkasten ging weiter.  Er sah ja nichts. Er konnte durch das Quäken seiner Orgel auch nicht hören, dass  die anderen stehengeblieben waren. Er ging mitten in die Gendarmen hinein.  Einer trat vor und schlug ihm mit seinem Knüppel über den Kopf. Ruffino drehte  sich langsam um sich selber und sank zu Boden. Die Orgel drehte er dabei  weiter, und sie jammerte ihre Töne noch in den Abend hinein, als Ruffino schon  auf der Erde lag. 
    Die Frauen trieb das wieder vorwärts. "Solche  Schufte", sagte die alte Aprile. Der Zug marschierte wie Ruffino mitten in  die Kette der Gendarmen hinein. Es waren ungefähr zwölf Mann. Sie versuchten  wieder zu schlagen, aber die Wellen der Frauen verschluckten sie, als wären sie  nicht aus Fleisch und Blut und mit Pistolen und Karabinern bewaffnet, sondern  armselige Strohpuppen. Das halbe Hundert Faschisten, das hinter den Gendarmen  stand, konnte noch weniger tun. Die Frau des Leutnants, der an der Spitze der  Faschisten stand, war in der dritten Reihe des Zuges. Die Frau des kleinen  Emilio, der Trommler des Fascio war, schrie genau so wie die Braut Marios:  "Unsere Männer bleiben hier!" Was sollten sie machen? Auf ihre 
    Frauen einschlagen, schießen? Aber bevor sie sich zu  etwas entschlossen, hatten die Wellen der Frauen auch sie verschlungen. 
    Der Meßner hatte die Kapelle der Mutter Maria eilig  geschlossen. Aber selbst die schwere, mit Eisenblech beschlagene Tür konnte die  Frauen nicht aufhalten. "Ist das unsere Mutter Maria?" rief die alte  Baretta, "oder ist das ihre Mutter Maria?" "Unsere!"  antworteten die Frauen, "unsere!" Sie warfen sich gegen die Tür, eine  nach der anderen, bis die Tür nachgab und sie in die Kapelle hinein konnten.  Alle wollten sie hinein. Sie schoben sich vor bis zum Altar. Sie drangen bis  in die Krypta. Es waren beinahe achthundert geworden, und die Kapelle fasste  kaum die Hälfte. 
    Der Pater war nicht da oder er wollte sich nicht sehen  lasse. Aber die Frauen konnten auch ohne den Pater beten. Sie hoben die Hände.  Sie hoben sie immer höher. Die meisten fielen dabei auf die Knie. Ein paar  schrien wieder. "Hilf uns, Mutter Maria!" Und alsbald beteten oder  schrien sie alle dasselbe. Ein paar versuchten auch zu singen, aber das Beten  und Schreien erstickte den Gesang. 
    Während die Frauen beteten, waren die Männer wieder  zusammengekommen. Die meisten hatten sich schon kurz vor der Kapelle auf die  Seite gestellt. Das Beten überließen sie, die Männer von Canicatti, auch sonst  den Frauen. Sie drängten sich alle unten am Wasser zusammen. "Was machen  wir weiter", sagte der alte Baretta und spie hinunter in das spärliche  Rinnsal. "Ja, was machen wir", fragten Anselmo und Peppo. Sie wussten  es noch immer nicht. Sie wussten nur, die Welle der Rebellion musste  weitergetrieben werden, wenn sie wirklich verhindern wollten, dass Mario und  die anderen nach Abessinien mussten. 
  "Das beste ist", fuhr der alte Baretta fort,  "wir lassen die Einberufenen überhaupt nicht aus Canicatti heraus."  Der alte Aprile nickte: "Keinen." "Aber wie wollt ihr das  machen", fragte Giorgio, "wir sollen morgen früh um sechs auf dem  Bahnhof sein." "Ich glaube", sagte der Mann von Charlotte,  "dass sie uns in einem Extrazug nach Girgenti bringen." Der alte  Baretta blinzelte den beiden zu: "Wir werden dann alle am Bahnhof sein und  lassen euch einfach nicht in den Zug hinein!" 
    Die anderen lachten und stimmten dem alten Baretta zu. 
  "Wir sollten auch ein paar in die Berge  schicken", fing der alte Baretta wieder an. "Es ist gut, wenn die  Leute auch außerhalb von Canicatti wissen, was wir morgen tun wollen."  "Ich will gern hinaufgehen", sagte Anselmo. Auch zwei andere meldeten  sich. "Schicken wir auch Boten nach Racalmuto", sagte der alte  Aprile, "auch nach Aragona, damit sie dort die Einberufenen  aufhalten." Der alte Baretta war damit einverstanden, und die Brüder  Bernadoni und Vincens machten sich auf den Weg. 
    Als die Männer eine Stunde später heimkamen, waren die  Frauen noch immer nicht in ihren Kammern. Sie beteten, bis die Nacht kam. Auch  als der Meßner sagte: "Ich muss jetzt die Kapelle schließen", ließen  sie sich in ihrem Beten nicht aufhalten. Ja, sie beteten noch, als es zwölf  schlug und sonst alles in Canicatti zur Ruhe gegangen war, Viele blieben auch  die ganze Nacht in der Kapelle der Mutter Maria. Die jungen Frauen hatten sie  mit Kerzen und Lampen erleuchtet. Außerdem zogen immer zwei an den Klöppeln der  kleinen Totenglocke, und man hörte ihr Bim-Bam bis hinauf nach Serradifalco. 
    
  II. 
  Der Morgen war hell und ohne Wolken. Ganz klar stieg  die Sonne auf, und sie hatte vorher schon die Bergspitzen und die kahlen Hänge  gefärbt. Der alte Baretta war der erste auf dem kleinen Bahnhof. "Wann  kommt der Zug, der die Männer nach Girgenti bringen soll?" fragte er den  kleinen Alfonso, der Nachtdienst gehabt hatte und langsam wie eine Schnecke auf  ihn zukam. "Zwischen sechs und sechs Uhr fünfzehn wird er kommen, und ein  paar Minuten später fährt er weiter. Er kommt von Caltanissetta, und vorher  werden noch die Einberufenen von Serradifalco eingeladen." 
    Der kleine Alfonso wunderte sich, als plötzlich immer  mehr Männer kamen. Wahrscheinlich wollten sie aber nur von ihren  Freunden Abschied nehmen. Auch ein paar Frauen kamen, aber es waren doch in der  Hauptsache Männer, die den Bahnhof in seiner ganzen Breite überschwemmten. Sie  waren, obwohl es ein Wochentag war, alle in ihren besten Anzügen gekommen.  Sonderbar, keiner hatte davon gesprochen, und doch hatten alle es getan. Es  war ja auch etwas Besonderes und Feierliches, was sie da tun wollten. Sie  wollten versuchen, ob man den Krieg nicht doch noch aufhalten könne, und wenn  er schon über ganz Italien gebraust war, über Canicatti sollte er nicht hinwegbrausen. 
    Die beiden Offiziere und der dicke Feldwebel mit den  paar Leuten vom Fascio waren zuerst auch erstaunt, als sie die vielen Menschen  sahen, auch beunruhigt. Aber die Gesichter, vor allen Dingen der Ernst und die  Feierlichkeit, beruhigten sie wieder. Die Offiziere wurden erst stutzig, als  auch eine Viertelstunde vor Abgang des Zuges noch immer niemand zu dem Schild  kam, das einer der Milizionäre in der Hand hielt, obwohl auf dem Schild stand, dass  sich alle Einberufenen in seiner Nähe sammeln sollten. Die Tochter des Podesta  wollte ihnen eine Rosette mit den Farben Italiens anstecken und ihnen kleine  grünweißrote Fähnchen geben. Nein, es kam niemand zu dem Schild, auch nachdem  der Feldwebel die Namen der Einberufenen aufgerufen hatte. 
    Aber selbst wenn einer von den Aufgerufenen zu dem  Schild gewollt hätte, die anderen hätten es verhindert. Es war ja so einfach,  sie zu erkennen und zurückzuhalten. Alle, die einen Koffer in der Hand hatten  oder einen Karton, oder deren Frauen weinten, waren Mobilisierte. Man drängte  sie auf die Seite, und dann sprachen die Männer mit ihnen. "Du bist einer  von den Mobilisierten", sagte der alte Aprile. "Ja" sagte der  Junge und sah den alten Aprile an. "Die Mobilisierten aus Canicatti haben  beschlossen, der Order nicht Folge zu leisten", sagte der alte Aprile  weiter. "So", sagte der Junge und bekam runde Augen. 
  "Ja", sagte der alte Aprile oder einer der  anderen, "und es wäre gut, wenn du auch wieder nach Hause gingst." 
    Der Junge war dann zuerst erstaunt oder erschrocken,  und hie und da musste sich auch noch der alte Baretta oder ein anderer in das  Gespräch mischen. Aber meistens dauerten die Gespräche nicht viel länger.  Viele von den Jungen ließen sich schnell überzeugen. Die Burschen, die von den  abseitigen Weilern kamen, noch schneller als die Burschen aus den nächsten  Dörfern. Sie nahmen dann ihre Koffer und gingen, wenn sie nicht zusehen  wollten, was weiter geschah, eiliger, als sie gekommen waren, wieder davon. 
    An der Spitze reckten sich einige. Der Zug kam. Es  waren noch immer keine Mobilisierten bei den beiden Offizieren, und der eine  von ihnen schlug sich nervös mit dem kurzen Peitschenstiel um die Füße und war  schon ganz weißlich im Gesicht, Vor dem Zug war eine kleine, alte Lokomotive,  die sonst die Schwefelzüge zur Küste brachte. Aber man hatte sie mit Grün  geschmückt und Bänder und Blumen um ihren dicken Leib gebunden. Auch die Wagen  waren über und über geschmückt. Unter den Fenstern waren breite Schilder  angebracht, auf denen mit großen Buchstaben, die wie weiße Flammen in der Sonne  brannten, stand: "Nach Abessinien! Es lebe der Duce! Eviva den tapferen  Söhnen Siziliens, die für ihr Vaterland kämpfen wollen!" 
    Der Zug hatte tatsächlich schon einige Arbeiter aus  Caltanissetta, Bauernsöhne aus den Bergen und aus Serradifalco aufgenommen.  Aber es war nichts in ihren Gesichtern zu sehen, was im Einklang mit den  flammenden Buchstaben stünde. Im Gegenteil, der Junge, der im zweiten Fenster  zu sehen war, war so gelb wie eine Wachspuppe. Im dritten Wagen stand ein Mann  aus Caltanissetta, den man in Canicatti kannte. Er versuchte zu lächeln, als er  einige aus dem großen, schwarzen und beinahe unbeweglichen Meer von Menschen  erkannte. Aber er hatte kaum mit seinem Lächeln begonnen, da erstarrte er schon  wieder, und es sah so aus, als sei dieser Mann aus Caltanissetta der Spiegel  von diesen Hunderten, die da auf ihn sahen, geworden. Er spürte jetzt auch,  warum ihn die Männer so anstarrten, denn 
    er schüttelte sich einige Male, als hätte ihn eine  Krankheit befallen. 
    Der Zug hielt. Ein schmaler, mit Orden geschmückter  Offizier Sprang aus einem der mittleren Wagen, Dann zeigten sich auch einige  Jungen von der Miliz. Sie sahen in ihren graugrünen, eng anliegenden Uniformen,  die auch mit Ordensschnallen und Bändern bedeckt waren, wie Gaukler aus. Ja,  mit den großen Rosetten und den Fähnchen, die sie schwangen, sahen sie wie  aufgeputzte Äffchen aus, die nun mit allerlei komischen Sprüngen und Kapriolen  die angesammelten Menschen begeistern und zu Beifall hinreißen wollten. 
    Die beiden Offiziere und der Feldwebel, die auf den  Zug gewartet hatten, sprachen mit dem Offizier, der aus dem Zug gesprungen war,  dann nahm der Feldwebel dem Milizionär das Schild ab, kletterte auf einen der  Wagen und hob das Schild noch höher. "Alle Mobilisierten zu mir!"  schrie er. 
    Aber es löste sich auch jetzt niemand aus der  schweigsamen Menge. Es geschah nur etwas anderes, und es war so sonderbar, dass  alle, die im Zuge waren, es einen Augenblick gar nicht begriffen. Die ganze  Menge kam einen Schritt auf den Zug zu. Sie drängte genau so stumm und  schweigsam, wie sie dagestanden hatte, gegen ihn, in ihn hinein, auf ihn. Die  Männer, die schon im Zuge waren, empfanden dieses langsame Näherkommen mit  einer schmerzhaften Angst. Es war ihnen, als kippe der Zug langsam um, langsam,  aber unabänderlich, und als stürzten sie dabei mit, tief, immer tiefer, einige  stöhnten sogar auf. 
    Aber es war nichts dergleichen geschehen. Die Männer  waren mit ihrem Schritt nur näher gekommen. Der Feldwebel schrie lauter. Auch  die Offiziere schrien. Sie rissen ihre Revolvertaschen auf und zielten auf die  Männer. Die Milizionäre und die Gendarmen warfen sich gleichfalls zwischen die  Menge. Einige versuchten, die Männer, die in den Zug eingedrungen waren, wieder  aus dem Zug hinauszudrängen. Der schmale, mit den Ordensschnallen bedeckte  Offizier schoss sogar. Der alte Baretta, der in seiner Nähe stand, nahm ihm aber,  bevor er zum zweiten Male schießen konnte, die Pistole aus der Hand. 
    Sonst blieb alles ruhig. Ja, die Menschen standen so  unbeweglich wie eine Mauer, Der alte Baretta hatte ihnen nicht umsonst eingeschärft:  "Wir tun nichts. Wir sagen nichts. Wir stellen und einfach nur hin!"  So blieben sie auch weiter stehen, einer neben dem anderen. Der alte Aprile  neben der dicken Charlotta. Anselmo neben dem blinden Ruffino. Und selbst die  Kinder, die sich eingefunden hatten, standen stumm und gelassen in der schweigsamen,  noch immer wachsenden Menge. 
    Die drei Offiziere sprachen miteinander. Was sollten  sie gegen diese Menge tun? Sie wollten wenigstens versuchen, den Zug und die  Mobilisierten aus Caltanissetta und aus Serradifalco ohne zu große Verluste  wieder aus Canicatti herauszubringen. Ein paar von den Milizionären schlugen  sich schon nach der Maschine durch. Auch der Offizier, der mit dem Zug gekommen  war, schwang sich auf die Maschine, und drei von den Gendarmen kletterten über  die Wagendächer, um die Maschine zu erreichen. 
    Der Offizier stieg auf die Kohlen hinauf, hob die  Hände und rief: "Zurück!" Und nach einer Pause: "Wir fahren,  auch wenn ihr nicht zurückgeht!" Aber auch jetzt sagte keiner von den  vielen Menschen ein Wort. Sie sahen nur alle in das winzige, wie ein weißer  Punkt in der Luft hängende Gesicht, des Offiziers hinein. Es wurde unter dem  Anprall der tausend Blicke noch kleiner und zerging beinahe in der weißlichen  Luft, 
    Der Offizier stieg von dem Kohlenhaufen hinunter und  sprach mit den anderen, die auf der Lokomotive waren, dann kletterte er zum  zweiten Male auf den Kohlenberg. "Es geht los!" schrie er noch lauter  als das erste mal und hob seine Hand. "Es geht los!" Gleich darauf  stieg auch grell und misstönend Dampf durch die Pfeife, die kleine, mit  Girlanden geschmückte Lokomotive heulte auf, aber die Menge rührte auch das  nicht. 
    Die Männer von Canicatti kannten ja den dicken  Faustino, der rund und wie mit Wasser übergossen in dem kleinen Vorbau der  Lokomotive stand. Sie kannten ihn so genau, wie sie sich selber kannten. Die,  die vorn neben der Lokomotive standen, sahen ihn auch. Sie sahen ihn genau so  ernst und schweigsam an, wie sie den Offizier angesehen hatten. Sie hatten  auch gesehen, wie einer der Milizionäre Faustino mit dem Revolver in der Hand  gezwungen hatte, die Dampfpfeife herumzureißen. Sie sahen jetzt, wie der  Offizier ihn zwang, den Bremshebel herumzuwerfen, sein schmales, geiferndes  Gesicht hing dabei wie eine Fratze über dem ruhigen, roten Gesicht des Dicken.  Sie sahen auch, dass Faustino jetzt Dampf in die Kolben ließ, Er ließ ihn so  langsam hinein, dass die Männer, die unmittelbar vor oder daneben standen,  ohne sich beeilen zu müssen, zurücktreten konnten. 
    Aber die Räder drehten sich tatsächlich, und der Zug  setzte sich in Bewegung. Der Offizier fuchtelt noch immer mit seinem Revolver  um Faustino herum. Aber er kann tun, was er will, Faustino fährt nicht  schneller. Er lässt den Dampf nur ruckweise in die Kolben, Er fährt so langsam,  dass alle, die neben oder vor dem Zug gehen, mit dem Zug Schritt halten können.  So bewegen sich die zwölf Wagen und die kleine Maschine auch vorwärts, als sie  schon aus Canicatti hinaus sind. Die Menschentraube bleibt an ihnen hängen. Sie  zieht sich nur einmal in der Mitte und einmal am Ende des Zuges zusammen, aber  sonst hält sie Schritt, Sie wandert den steinigen Abhang mit hinauf, wirft sich  oben in die heiße, wie von einem Feuer zerfressene Hochebene, und sie stößt  mit dem Zug auch kurz vor Racalmuto wieder nach unten. Erst nach zehn Uhr fährt  der Zug genauso schrittweise, wie er aus Canicatti hinausgefahren ist, nach  Racalmuto hinein. Er hat zu der ganzen Strecke, die er sonst in dreißig Minuten  durcheilt, beinahe drei Stunden gebraucht. 
    Als die Männer, die an der Spitze des Zuges gehen,  nach Racalmuto hineinkommen, sehen sie, dass sich die Leute von Racalmuto auch  am Bahnhof versammelt haben, Die Boten, die der alte Baretta zu ihnen gesandt  hat, haben ihre Botschaft nicht vergeblich ausgerichtet. "Wenn die Leute  von Canicatti nicht ihre Söhne einrücken lassen, dann lassen wir die unseren  auch nicht aus Racalmuto hinaus", haben 
    die Männer von Racalmuto gesagt. Auch die Bauern, die  um Racalmuto wohnen, wollen ihre Söhne nicht nach Abessinien lassen. "Keiner  darf nach Girgenti, und wenn wir sie mit dem Knüppel wieder in die Dörfer  zurücktreiben!" Groß und schwer stehen sie neben den Leuten von Racalmuto,  braungebrannt und wie Statuen, und als der Zug einläuft, gehen sie mit den  Leuten von Racalmuto auf die Männer von Canicatti zu, begrüßen sie und geben  ihnen die Hand. 
    In Racalmuto war es schwerer als in Canicatti gewesen,  sich auf dem Bahnhof zu versammeln. Die Miliz hatte einen der Boten abgefangen,  als er wieder nach Canicatti zurückging, hatte ihn geschlagen und von ihm  erfahren, was er den Leuten von Racalmuto ausgerichtet hatte. Als am Morgen die  Leute von Racalmuto den Bahnhof besetzen wollten, hatten ihn die Gendarmen und  die Miliz in großem Bogen abgesperrt. "Nur die Mobilisierten dürfen  vorbei, sagten die Gendarmen, und sie schossen, als auch die anderen gegen die  Kette drängten. Sie schossen zuerst in die Luft, dann aber in die Leute von  Racalmuto hinein. Es hatte vier Verletzte gegeben. 
    Die Menge war zurückgewichen. Die Arbeiter hatten mit  den Mobilisierten gesprochen, und die Mobilisierten gingen danach allein auf  die Kette zu. Sie lachten die Milizleute an. Sie kannten sich ja. "Du hast  also wirklich auf uns geschossen, Giavomino", sagten sie. Sie legten noch  genauso lachend die Hand auf die Schultern der Milizleute, aber mit der anderen  hatten sie schon nach den Karabinern der Soldaten gegriffen. Auf einmal waren  auch die Leute von Racalmuto wieder da. Die Mobilisierten gaben die Karabiner  nach hinten, und die Miliz und die Gendarmen wurden aus dem Weg gedrängt. 
    Von Racalmuto fuhr der Zug ganz genauso langsam über  Aragona nach Girgenti. Der lange Wagenwurm war schon in der schwärzlichen Masse  verschwunden. Er war schon von ihr angefressen, halb verschlungen, und die  dünne Rauchfahne, die aus der Lokomotive kam, war das einzige Zeichen, dass  noch Leben in ihm war. Es kamen auch fortwährend neue Leute zu dem großen Zug.  Sie kamen aus den abgelegenen Bergdörfern. Vom Wasser kamen einige. Es waren  Fischer, 
    Apfelsinenpflücker, Arbeiter aus den Schwefelgruben,  die südliche von Favara liegen. Als sich der Zug Girgenti näherte, waren es Tausende,  die ihm das Geleit gaben, 
    Vor Girgenti standen neue Menschenmassen, Sie standen  in den Weinbergen und in den Gärten, die sich längs des Gebirges bis hinunter  an das Meer ziehen, Sie waren da hinauf geflüchtet, denn in Girgenti war ein  Kontingent Miliz gegen sie eingesetzt worden, auch eine Schwadron Kavallerie,  Die Miliz hatte außerdem zwei Maschinengewehre am Eisenbahndamm eingebaut, und  wenn sich die Männer von Canicatti und Racalmuto reckten, konnten sie vor  Girgenti einen Panzerwagen sehen, 
    Die Miliz und die Kavallerie hatten sich rechts und  links von der Bahnstrecke verteilt, und sie gingen sofort, als der Zug in Sicht  kam, gegen die Massen, die den Zug begleiteten, vor. Sie schlugen ziemlich  brutal auf die Menschen ein, stachen mit ihren Bajonetten, trieben ihre Pferde  gegen sie, und es war ihnen gleich, wen sie trafen. Sie schlugen auf Männer und  Frauen ein, auf Burschen und Kinder. 
    Die Menge staute sich einen Augenblick, aber dann wich  sie unter dem Ansturm der Soldaten langsam zurück. Ja, was die Miliz von  Canicatti und Racalmuto nicht fertiggebracht hatte, die Miliz von Girgenti  schälte den Zug frei. Sie hieb ihn wieder aus den Massen heraus, und ehe der  Zug die ersten Häuser von Girgenti erreicht hatte, war er von den Menschen  befreit. Faustino ließ nun auch den Dampf schneller durch die Kolben gehen, und  die Menschen blieben immer weiter zurück, 
    Sie stießen diesmal nicht nach. Sie nahmen nicht  einmal einen Anlauf, obwohl sie sich fächerförmig über die Hänge ausgebreitet  hatten und die paar hundert Milizleute leicht umzingeln und entwaffnen oder  sie einfach umgehen und von der anderen Seite nach Girgenti hineinstoßen  konnten. Sie gingen sogar langsam zurück. Hinauf in ihre Weiler, hinunter in  ihre Fischerdörfer, hinüber nach Racalmuto und nach Favara. Wie ein angestautes  Wasser plötzlich über alle Hügel rinnt, wenn der Damm reißt, so flossen sie  auseinander. Zuerst in Bächen, dann in Gerinseln, dann in einzelnen, kleinen  Tropfen. 
    Der Zug hatte unterdessen den Bahnhof von Girgenti  erreicht. Das Gebäude war vollständig von Milizleuten und von Gendarmen abgesperrt.  Oben an der Hauptstraße hatten die Soldaten aus Brettern eine Barrikade von  einer Häusermauer zur anderen gezogen, und auf der Straße, die hinunter nach  Porto Empedocle führte, hatte man wieder Miliz und eine Kompanie  Matrosen aufgestellt. Auf dem Bahnsteig stand der General, dem die Streitkräfte  von Girgenti und Porto Empedocle unterstanden, mit einigen  seiner Offiziere und empfing den Zug der laut und durchdringend pfeifend  hereinkam. Der Offizier sprang von der Lokomotive und salutierte. 
  "So energisch wie hier hätten sie schon in  Canicatti gegen die Bande vorgehen sollen", sagte der General.  "Einfach draufschlagen, dann pariert der Pieps !" Der Offizier war  noch ganz verstört und auch erstaunt, dass die Menge den Zug so plötzlich und  ohne Widerstand verlassen hatte und dass er jetzt hier im Bahnhof von Girgenti  war. Er verstand es auch erst, als er mit dem General den Zug entlang gingt Der  Zug war leer. Die Leute von Canicatti und von Racalmuto hatten nicht nur ihre  eigenen Leute abgehalten, nach Girgenti zu fahren, sie hatten auch die  Mobilisierten aus Caltanissetta und aus den anderen Orten mitgenommen, als sie  von der Miliz auseinandergetrieben wurden. 
  "Verdammt!" schrie der General und stampfte  auf. "Verdammt!" Aber was sollte er machen? Sollte er mit seinen  Leuten den Flüchtenden nachsetzen? Wer konnte wissen, ob die Mobilisierte nicht  schon lange vor Girgenti in die Berge, in die alten Schwefelstollen oder hinunter  in die Klippen geflüchtet waren. Er war aus dem Lande und kannte es. Es war  sicher auch besser, er holte sich erst Instruktionen, bevor er weiter gegen  die Bevölkerung vorging. Der Zug mit seinen Fahnen und Wimpeln fuhr also leer  nach Porto Empedocle, wo die Mobilisierten  eingekleidet und auf die Schiffe verladen werden sollten. 
    Am Hafen stand eine Kompanie Rekruten mit ihrer Musik.  Man hatte sie aufgestellt um die Mobilisierten zu empfangen. Auch sonst hatten  sich viele Menschen aus Girgenti und aus Porto Empedocle auf Geheiß des Fascio  aufgestellt: die Schüler der beiden Schulen, Studenten, eine ganze Anzahl  Kleinbürger aus Girgenti mit ihren Frauen und auch sonst allerlei Volk. Sie  waren ziemlich erstaunt, als außer den paar Milizionären nur Faustino und sein  Heizer aus dem Zug stiegen. 
  "Wo habt ihr sie denn, eure Mobilisierten?"  fragte einer der Rekruten, der mit aufgepflanztem Bajonett vor dem Ausgang der  Kaianlage stand. Faustino, der gerade, die Beine weit ausgrätschend, an dem  Posten vorbei hinüber zur "Roten Henne" wollte, wo er immer einen  Schnaps trank, wenn er seine alte Lokomotive glücklich nach Porto Empedocle  gebracht hatte, hob seine Hand und tat so, als spucke er aus. Aber hinter der  Hand zischte er dem Soldaten zu: "Sie wollten nicht. Die meisten sind gar  nicht erst gekommen, und die doch gekommen sind, haben die Leute aus Canicatti  und aus Racalmuto wieder aus dem Zug geholt." 
    Der Rekrut verzog das Gesicht. Er verzog es nur ganz  leicht, und man sah kaum, dass es um seine Mundwinkel zuckte: "Die von  Palma", sagte er dann, "sind auch nur zur Hälfte gekommen, und von  denen, die man gestern mit dem Schiff aus Terranova gebracht hat, ist heute Morgen  auch ein Teil wieder ausgerückt." 
    
  III. 
  Die Leute von Canicatti waren unterdessen wieder in  Canicatti eingetroffen. Sie waren so truppweise in die Stadt gekommen, wie sie  von Girgenti abmarschiert waren, einmal ein halbes Hundert und einmal nur ein  paar Dutzend. Der alte Baretta und der alte Aprile waren 
    mit beim ersten Trupp. Auch ihre Frauen, Marios Braut,  Giorgios Braut und die dicke Charlotta, 
  "Was soll nun weiter geschehen", sagte die  alte Aprile, bevor sie sich von den anderen trennte. Der alte Baretta blieb  stehen. Darüber musste man wohl noch sprechen, denn es war anzunehmen, dass die  Miliz im Laufe des Abends nachrückte, um die Mobilisierten doch noch nach  Girgenti zu holen. "Stellt ein paar Jungens auf die Berge, damit wir  wenigstens erfahren, wenn sie kommen", sagte die alte Aprile wieder,  "und einen auf den Turm der Kapelle der Mutter Maria, er soll dann läuten,  wenn ihm die Jungens von den Bergen ein Zeichen geben." 
    Das wollten die Männer tun. "Aber was machen wir,  wenn sie morgen kommen, während wir in der Grube sind", fragte der alte  Baretta, "Wir fahren eben die nächsten Tage nicht ein", sagte Peppo.  "Also streiken", sagte der alte Baretta. "JA", sagte Peppo,  "du kannst es auch so nennen." 
    Aber die Miliz kam weder in der Nacht noch am nächsten  Morgen, ja, es dauerte ziemlich lange, bis sich der General von dem Schlag  erholte, den ihm die Männer von Canicatti versetzt hatten. Es hatte sich auch  ziemlich schnell auf der Insel herumgesprochen, was in Canicatti geschehen war,  und auch in Syrakus und in Trapani kamen die Mobilisierten nur noch  tropfenweise in ihre Ganisonen. "In Catania sind sogar ein paar von den  jungen Faschisten nicht eingerückt", erzählte ein Mann, der aus Catania  kam, und Faustino brachte aus Caltanissetta die Nachricht mit, dass auch dort  die Arbeiter der Schwefelgruben in den Streik getreten waren, um ihre  Mobilisierten zu schützen. 
    Als es am vierten Tag immer noch ruhig blieb, nahmen  die Arbeiter von Canicatti ihre Blechkannen von der Wand und fuhren wieder  ein. "Jetzt werden sie wohl nicht mehr kommen", sagte der alte Aprile.  Aber sie kamen doch. Allerdings nicht so, wie es die Arbeiter von Canicatti  erwartet hatten. Sie kamen heimlich, um die Mobilisierten zu fassen. 
    Mario packten sie, als er aus der Grube kam. Er musste  wieder arbeiten, denn er hatte einen alten Vater, der von den paar Lire lebte,  die Mario verdiente. Giorgio hoben sie bei Maria aus. Sie hatten bereits drei  Nächte auf ihn gelauert. Giorgio wusste es auch, aber er wollte Maria noch  einmal sehen, bevor er, wie zwei andere, weiter hinauf in die Berge ging. 
    Die aus den Dörfern fingen sie, indem sie die Dörfer  umstellten. Einen großen Teil der Einberufenen haben sie aber auch heute noch  nicht. Jeder Schwefelarbeiter hilft ihnen, und die Bauern stecken ihnen  heimlich Brot zu, auch wenn die Regierung mit noch so hohen Strafen droht.  Jeder in und um Canicatti weiß ja auch bereits, dass sie die große Welle der  Mobilmachung durch ihren Widerstand aufgehalten haben. In Oberitalien und in  Sardinien hat der Duce schon die Jahrgänge 1910 und 1909 einberufen und nach  Afrika geschickt, auf Sizilien noch nicht, 
  "Weißt du", sagte der alte Aprile zu dem  alten Renato, der jetzt anstelle von Giorgio mit ihm die Schwefelbrote in die  kleinen Öfen schob, "dass auch die Soldaten in Somaliland schon gehört  haben, wie tapfer wir in Sizilien für sie kämpfen?" Und da der alte Renato  den Kopf schüttelte: "Der Paolino, der Junge von der alten Scola, hat an  seine Mutter geschrieben. Grüße alle Nachbarn und Freunde, hat er geschrieben,  und sie sollen weiter so tapfer in Canicatti und in Caltanissetta gegen den  Krieg kämpfen. Wir tun es hier auch, und der Duce wird nicht viel Freude an  seinen Soldaten haben!"  | 
  
    
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