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Kurt Kläber - Barrikaden an der Ruhr (1925)
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LEGIONÄR BLÉROT

In Kong, einer Stadt in Indochina, war unter den Arbeitern einer Fabrik wegen einiger Cents Abzüge eine Revolte ausgebrochen. Sie war weder schlimm noch blutig, da aber die Arbeiter bereits den dritten Tag feierten, telegraphierten die Behörden von Kong in eines der benachbarten Militärlager, und noch am gleichen Tag marschierte in Kong ein Bataillon Legionäre ein, das die Aufständischen auseinandertrieb und fünf von ihnen, die die örtliche Verwaltung als Rädelsführer bezeichnet hatte, verhaftete.
Diesen fünf machte das Kriegsgericht, das aus dem Bataillonskommandeur, einem weiteren Offizier und zwei Beamten der Stadt Kong bestand, noch am gleichen Tag den Prozess. Nach kurzer Verhandlung wurden die fünf, wie das allgemein in Kolonialländern üblich ist, zum Tode verurteilt, und zwar sollten sie erschossen werden.
Da aber schon die sechste Abendstunde vorbei war, als das Gericht seine Verhandlungen beendete, und das Bataillon, das die Exekution vollziehen sollte, bereits in die Ruhequartiere abgerückt war, musste die Erschießung der fünf auf den nächsten Morgen verschoben werden. Der Kommandeur ordnete nur noch an, dass die Gefangenen in die Hände seines verlässlichsten Unteroffiziers kamen, eines gewissen Limon, der den Auftrag bekam, sie mit vier seiner besten Leute bis zum nächsten Morgen zu bewachen.
Dieser Limon ließ die fünf, um eine Flucht oder eine gewaltsame Befreiung zu verhindern, in Eisen legen und brachte sie außerdem auf eine Sandbank, die in dem Fluss Me Kong lag, der die Stadt Kong in der Mitte wie ein Messer zerschneidet. Auf der Insel teilte er seine Leute für die Wache ein. Jeder hatte zwei Stunden zu wachen, und die erste Wache übernahm Limon selber.
Unter den vier Leuten, die Limon unterstanden, war nun ein junger Arbeiter namens Blérot, den nur die Arbeitslosigkeit von seiner Drehbank in diese Truppe und nach Indochina verschlagen hatte. Er war
erst 22 Jahre alt, aber durch eine gute proletarische Schule gegangen, und er wusste, dass die fünf Gefangenen kein "lausiges, dreckiges Annamiten- und Chinesenpack" waren, wie der Major bei der Verkündigung des Urteils gesagt hatte, sondern Arbeits- und Klassengenossen von ihm, und es war eine Schande, dass er sie bewachte. Er gehörte eigentlich an ihre Seite,
Den Soldaten Blérot beschäftigte das von dem Aufgenblick an, da er zu der Bewachung kommandiert wurde, und wenn er sich auch klar war, dass es eine Dummheit gewesen wäre, wenn er offen aus der Wachmannschaft herausgetreten wäre und sich neben die Gefangenen gestellt hätte, so dachte er doch unaufhörlich darüber nach, wie er den Gefangenen helfen und sie aus ihrer misslichen Lage befreien könnte.
Er war noch immer zu keinem Entschluss gekommen, als er plötzlich an der Schulter gefasst wurde. Es war sein Kamerad Lacour, der sich niederlegen wollte, weil Blérots Wache begann. Blérot sprang auf, wartete noch, bis Lacour zwischen den beiden anderen einen Platz gefunden hatte, dann schulterte er seinerseits das Gewehr und ging zu den Gefangenen hinüber.
Die Sandbank war nur spärlich mit Gras und Gebüsch bewachsen. Die Gefangenen lagen, etwas erhöht, nebeneinander. Er ging zweimal an ihnen vorbei. Sie lagen alle zusammengekrümmt im Sand. Limon hatte ihnen nicht nur Hände und Füße in Eisen legen lassen, zwischen die Eisen war noch ein kurzer Strick gebunden, der die Füße an die Hände heranzog.
Blérot sah die Gefangenen eine Weile an. Es waren große, athletische Kerle. Sie hatten nichts weiter wie einen Tuchfetzen um den Leib und über der gewölbten Stirn ihre buschigen, kurzen Haare. Als jetzt der Mond aus den Wolken trat, sah er auch ihre Augen. Die Männer schliefen nicht, wie er zuerst gedacht hatte. Sie sahen ihn sogar an, aber nicht klagend oder ängstlich, sondern ruhig, abschätzend, ja beinahe ein wenig mitleidig.
Das berührte den Soldaten Blérot so sonderbar, dass der Wunsch,
den fünf zu helfen, alles andere in ihm überstimmte, und wie das manchmal geschieht, in dem Augenblick, als ihn das überfiel, hatte er auch schon einen Plan, und er war selber erstaunt, dass ihm das nicht früher eingefallen war.
Das Wichtigste dabei war Schnelligkeit und dass ihm die Gefangenen keine Schwierigkeiten machten. Das war nicht leicht, denn er kannte kein Wort von ihrer zischenden Sprache und musste sich ganz auf seine Mimik und ihren Verstand verlassen. Aber er versuchte es. Er trat an die fünf heran, legte dabei einen Finger auf den Mund und zog ein Messer aus der Tasche. Mit dem Messer schnitt er die Stricke durch, die die Hände und Füße zusammenbanden. Dann hob er den ersten in die Höhe, schob ihn über die Schulter und ging mit ihm zum Wasser. Am Wasser zeigte er nach links, dann nach rechts, und als der Mann bei rechts nickte, ging Blérot tiefer ins Wasser, legte sich auf den Rücken, hielt den Gefangenen drei Handbreit von sich ab und versuchte nach der Stadt hinüberzuschwimmen.
Es war nicht leicht. Der Mann war schwerer, als Blérot gedacht hatte, außerdem war das Wasser kalt und reißend, und es dauerte beinahe zehn Minuten, bis er das Ufer erreichte. Er sah sich um. Es war niemand in der Nähe. Er zog den Gefangenen hinter sich her, legte ihn behutsam zwischen ein paar Bohlen, winkte ihm noch einmal zu und schwamm dann eilig nach der Sandbank zurück.
Als er die Sandbank wieder betrat, merkte er, dass die Gefangenen ihm vertrauten. Sie hatten bereits das wenige getan, was sie tun konnten, um ihm bei seinem Rettungswerk zu helfen. Er musste nicht wieder hinauf zu ihnen steigen, der zweite hatte sich schon ans Wasser gerollt, und Blérot musste ihn nur unter die Arme nehmen, ihn tiefer ins Wasser ziehen, und dann konnte er abstoßen. Er versuchte, an der gleichen Stelle zu landen wie das erste Mal. Es war auch nicht schwer. Aber gerade als er den zweiten neben den ersten legen wollte, merkte er, dass der Platz leer und der Mann in der Zwischenzeit verschwunden war.
Blérot hielt sich nicht lange bei dieser Tatsache auf und lief wieder ins Wasser, um auch den dritten zu holen. Als er auch diesen glücklich am Ufer hatte, sah er noch, wie der zweite fortgetragen wurde. Die Gefangenen hatten also trotz ihrer Fesseln schon eine Verbindung zu ihren Kameraden hergestellt. Blérot war das recht, denn der Weg durch das Wasser war ja erst der Anfang der Rettung, und er hatte sich schon viel Gedanken darüber gemacht, wie er die Gefesselten weiterbringen sollte, Nun wurde ihm das von den Kameraden der Gefangenen abgenommen.
Er schwamm das dritte Mal zurück. Dabei merkte er, dass er langsam müder wurde und dass seine Arme schon ganz steif waren; auch das Herz hämmerte sonderbar hart gegen die Brust, und er machte sich ernstliche Sorgen, ob er den vierten und den fünften noch an das Ufer bringen würde. Nun, er wollte es versuchen.
Mit dem vierten glückte es auch, als er aber den fünften hinter sich herzog, spürte er, dass er nicht mehr bis ans Ufer kommen würde. Hatte der vierte nun etwas von Blérots Müdigkeit gemerkt, oder waren die Männer, die die Gefangenen in Empfang nahmen, selber auf den Gedanken gekommen, aber von der Stadt kam ein Floß mit zwei Ruderern. Blérot rechnete schon damit, mit seinem Gefangenen von einem Strudel in die Tiefe gezogen zu werden, da war das Floß an seiner Seite. Einer der Ruderer griff nach dem Gefangenen, und der zweite wollte ihn aus dem Wasser ziehen.
Aber das stand nicht im Plan unseres tapferen Soldaten. Er schob die helfende Hand zurück und schwamm langsam mit seinen letzten Kräften wieder zur Insel, Er wartete noch, bis das gebrechliche Fahrzeug die Mitte von Insel und Ufer erreicht hatte, dann nahm er sein Gewehr und schlich auf den oberen Teil der Sandbank. Dort schoss er zweimal in die Luft und warf sich rücklings das sechste Mal ins Wasser.
Durch die Schüsse, die wie eine Kanonade durch die Nacht knallten, wurde alles geweckt, was noch auf der Insel war. Limon riss sich als erster die Decke vom Leib. "Die Gefangenen!" schrie er. Auch die anderen sprangen in die Höhe und stierten auf den Platz, wo die fünf gelegen hatten, dann sahen sie, die Hände an den Flinten, auf die Wellen des Me Kong.
Auf dem Fluss war aber nichts weiter zu sehen als ein entschwindendes Fahrzeug und die Montur eines ihrer Kameraden, die gerade vor ihren Augen von den Wellen vorbeigetrieben wurde. Limon, der noch immer schimpfte und schrie, schoss einige Male nach dem Floß, die anderen sprangen ins Wasser, um zu sehen, ob in der Montur noch ihr Kamerad Blérot steckte oder ob ihn die verdammten Annamiten massakriert und die Montur und den Kerl, der darin war, gesondert ins Wasser geworfen hatte.
Blérot stak noch darin, aber er sah grau und käsig aus, und es nützte auch nichts, dass sie ihm Branntwein einflößten. Er schlug zwar einmal die Augen auf, aber dann fiel er in eine tiefe Ohnmacht.
Durch die Schießerei war die halbe Stadt und auch das Bataillon geweckt worden, aber obgleich nun das ganze Hafenviertel Hütte um Hütte durchsucht wurde, fand man keinen der Ausreißer wieder, nur in einer alten Schmiede die Fuß- und Handeisen der Gefangenen. Jemand hatte die Fesseln mit einem Meißel auseinandergeschlagen, und den Gefangenen war es dann wohl nicht schwer gewesen, allein weiterzufliehen.
Auch aus dem Soldaten Blérot war, als er am späten Nachmittag endlich vernehmungsfähig war, nicht viel herauszubekommen. Er entsann sich nur dunkel, bei einem seiner Wachgänge plötzlich bemerkt zu haben, dass um die Gefangenen ein paar Männer schlichen. Er sei langsam näher gekommen, aber in dem Augenblick, als er Lärm schlagen wollte, sei er von hinten umkrallt, zu Boden gestoßen und niedergeschlagen worden. Wieder zur Besinnung gekommen, habe er noch gesehen, wie die Männer die Gefangenen auf einer Art Floß fortbrachten. Er habe sofort zu seinem Gewehr gegriffen, zweimal auf das Floß geschossen, wohl auch getroffen, dann sei er aber erneut von ein paar Gelben angegriffen worden, die ihm das Gewehr entreißen wollten. Da er das Gewehr nicht losgelassen habe, sei er von ihnen ins Wasser gestoßen worden, und dann wisse er nichts mehr.
Da er wirklich sehr erschöpft war, fiel er nach dem langen Reden das zweitemal in Ohnmacht, und da sein Körper auch sonst alle Symptome von Müdigkeit und Erschöpfung zeigte, wurde er noch am gleichen Tage in das örtliche Krankenhaus gebracht. Er blieb dort zehn Tage, und als er wieder entlassen wurde, war bereits so viel Gras über die ganze Geschichte   gewachsen, dass sich sein Truppenteil seiner nur noch als eines unerschrockenen, tapferen Soldaten entsann, Er wurde sogar für seine Unerschrockenheit vor dem ganzen Bataillon gelobt und mit einer Medaille ausgezeichnet.
Nun, Blérot war klug genug, die Medaille genau so ruhig entgegenzunehmen, wie er eine Degradierung oder Beschimpfung entgegengenommen hätte. Nur wenn man ihn später fragte, nachdem er schon lange aus Kong und aus Indochina zurück war und im dreizehnten Bezirk von Paris wieder an einer großen Revolverbank Räder drehte, was ihm in jenen Tagen in Indochina die größte Freude gemacht hätte, dann sagte er nicht seine Medaille oder die Tage in der Legion, sondern er zeigte ein zierliches Messer mit einem silbernen Griff, in dem mit sonderbaren Schriftzeichen: "Dank an den Genossen Blérot" stand. Es war ihm, als er in Kong im Krankenhaus lag, von fünf annamitischen Arbeitern geschenkt worden.

 
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