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Kurt Kläber - Barrikaden an der Ruhr (1925)
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EINE FRAU GEHT

Die junge Mutter Mellicher trat aus dem Hause. Sie war gelb und mager geworden. Ihr Gesicht saß auf den spitzen Schultern wie eine längliche Scheibe. Nur die Nase sprang noch kantig und scharf hervor, und die Augen glühten aus der Blässe der Backen wie zwei große, feurige Lichter.
Sie hatte es eilig. Sie schickte erst den Jörg, es war der Kleinste, der mit seinen grauen, viel zu großen Stiefeln eine Pfütze austrat, in das Haus, stieß das Mädchen, die Marta, das sich an der Hausmauer rieb und ihre dünnen, durchsichtigen Arme in eine Schürze gewickelt hatte, hinter ihm her, und dann ging sie hinüber zu dem Mann.
Der war noch schmäler und blässer als die Frau. Er saß auf einem kleinen Stuhl und lehnte mit seinem Rücken an einer Bretterplanke. Er sollte sich sonnen. Der eckige, borstige Kopf und der Hals hingen schräg nach vorn. Sie hatten keinen Halt. Der Rücken war von brechender Kohle angebrochen worden. Außerdem sah der Mann nichts mehr. Das war schon drei Jahre so.
Der Mann spürte, dass die Frau kam. Sein eingefallenes Gesicht belebte und rötete sich. "Du gehst jetzt?" fragte er sie, und versuchte seinen Kopf nach ihr hinzudrehen.
"Ja", antwortete sie. "Alle gehen." Sie blieb noch einen Augenblick stehen und sah ihn an. Ihr Gesicht wurde spitzer. Sie hob ihre Hand, um nach seinem Kopf zu fassen. Sie ließ sie aber in halber Höhe stehen.
Da rief jemand aus dem Haus ihren Namen. Sie drehte sich um. Es war die Nachbarin. Sie ließ schnell die erhobene Hand auf das Knie des Kranken fallen, drückte es leicht und lief zu der Rufenden hinüber.
Es war eine kleine, dicke Frau. Ihre Backen waren aber auch eingefallen und ihre Breite schwabbelte zwischen den geflickten Kleidern hin und her. Ihre Tochter, ein zu schmal aufgeschossenes Mädchen mit großen, roten Flecken auf den Backen, stand neben ihr.
"Wir können gehen", sagte sie schwer atmend und setzte sich gleich in Bewegung. Die Tochter musste vor ihr hergehen. Die junge Mutter Mellicher nickte nur und lief mit ihren kleinen trippelnden Schritten schräg hinter ihr her.
Sie gingen schweigend. Die Mutter Mellicher wusste auch nicht, was sie sprechen sollte. Es war ihr so leer im Kopf. So unkörperlich. Sie fühlte sich kaum. Ja, sie fühlte nicht einmal, dass sie ging. Und warum ging sie eigentlich? Ihre schmale Stirn zog sich zusammen und sie drückte die Augen zu. War das nicht alles nutzlos? War das nicht gleich, ob sie ging oder stand? Es änderte sich doch nichts. Es gab doch keine Hilfe.
Sie dachte weiter. Wer sollte besonders ihr helfen. Wer wusste überhaupt etwas von ihr. Von ihrem Elend. Von ihrer Not. Von ihrer Ausgestoßenheit. Wer hatte in sie gesehen. Wer hatte sie aufgeschlossen. Wer wusste also, was sie alles bedrückte. Niemand! Sie war allein. Sie war einsam. Sie war es schon immer.
Die Ehe! Sie lief schneller und ihre Backen färbten sich etwas. Sicher, erst war es schön. Sie hatte eine Stube. Der Mann war gut. Als die Kinder kamen, musste sie sich eine Arbeit suchen. Es war schwerer. Aber es war noch zu ertragen. Dann brachten sie den Mann. Es war der Absturz. Sie fiel zurück. Nun lag sie wieder unten.
Was sollte sich also noch ändern? Der Mann wurde nicht mehr gesund. Es konnte nur schlechter werden. Sie hatte sich ja auch beschieden. Sie ertrug alles. Sie schuftete wie ein Stück Vieh. Sie kam kaum noch in ihre Stube. Früh lief sie in eine Fabrik. Am Abend versuchte sie es mit dem Waschen. Es wurde nur langsam zu viel.
Sie öffnete die Augen wieder und sah gerade aus. Wer sollte ihnen überhaupt helfen? Sie waren die Armen. Sie waren es immer gewesen. Der Großvater, der Vater. Sie hatten zu hungern. Es war ihr Leben. Manchmal bekamen sie ja auch Luft. Es ging besser. Jetzt ging es nur ganz schlecht. Die Kinder fielen bald um. Der Mann war nicht mehr zu sättigen. Der eigene Leib war zusammengefallen wie ein leerer Sack. Elender durfte es nicht werden. Das wäre das Ende. Ihr Gesicht verzerrte sich. Deswegen lief sie auch mit.
Sie lief jetzt nicht mehr allein mit der Nachbarin. Sie waren in eine breite Straße eingebogen. Schritte weckten sie. Sie sah sich um. Aus allen Häusern kamen hier Menschen. Frauen, groß, knochig. Mit grauen Tüchern. Die Gesichter weiß und gläsern in die Höhe gereckt. Auch Männer. Halbwüchsige Burschen. Greise. Sie liefen zu zweit, zu dritt. In langen Reihen. Die ganze benachbarte Viertel war in Bewegung.
Sie duckten sich. Was wollten diese Menschen. Hatten sie auch Hunger? Sie war ein Eingänger. Sie war es schon als Kind gewesen. Sie lief auch nie mit solchen Massen. Sie ging ihnen sogar aus dem Wege. Sie ängstigte sich vor ihnen. Was taten sie? Sie schrien. Sie durchbrüllten die Straßen. Sie waren Empörte. Hatte das aber einen Nutzen? War das gut? Sie wurden doch immer wieder niedergeschlagen.
Sie bog den Kopf tiefer. Warum war sie auch mitgegangen. Sie war zu dem Gang gedrängt worden. Alle gehen heute, hatte die Nachbarin zu ihr gesagt. Aus der ganzen Stadt. Hinter dem Stadtpark. Es soll eine Versammlung sein. Weswegen? Die Nachbarin hatte aufgelacht. Wegen dem Hunger! Wegen dem Hunger? Ja, dachte sie denn, sie hungerte allein. Sah sie nicht, dass es nicht nur in ihrer Stube an Brot fehlte. Die ganze Straße hinauf schrie man danach. Unten in der Vorstadt. Überall. Und heute sollte man dagegen aufstehen.
Um sie wurde es lauter. Die Scharen der Mitziehenden wurden dichter. Sie sprachen alle. Manche hart und schreiend. Die meisten erhoben noch ihre Hände. Dünne, durchsichtige Hände wie die ihren. Von was sprachen sie. Sie versuchte ein paar Worte aufzufangen.
Neben ihr lief eine höckrige, geduckte Frau. Sie zog noch das Bein nach. Ihr Gesicht war klein und ängstlich. "Seit gestern haben wir kein Brot, kein Mehl, keine Kartoffeln." Sie sagte das langsam und stieß jedes Wort nur vor sich hin.
Eine andere antwortete: "Uns geht es noch schlechter. Der Große, der gemauert hat, liegt im Bett. Er fiebert. Der Mann ist seit vier Wochen arbeitslos. Ich finde auch keine Arbeit."
"O", eine dritte erhob ihre Stimme, "was soll ich sagen. Der Kleine wird sterben. Erst brachen ihm die Füße zusammen. Jetzt pfeift sein Atem nur noch. Von was soll er auch leben?"
Die Mutter Mellicher sah sich erstaunt um. Wer sprach da? Was waren das für Stimmen? Wem hungerte da auch? Wer klagte da? Wer saß da in seinem Leben wie sie, ausgestoßen und ausgeschlossen?
War sie denn nicht die einzige? Wer drang da auf einmal bis zu ihr?
Es schüttelte sie und sie versuchte zu lächeln.
Die erste, die sie genauer sah, war die Höckrige. Ihr kleines, ängstliches Gesicht war noch faltiger als das ihre und an ihren Backenknochen hing die Haut wie ein Lappen. Neben ihr humpelte
eine Größere. Aus einem schwarzen Tuch sah ein gelbes, eingefallenes Gesicht. Die Füße darunter schleiften hinter ihm her, als wären es schwere, eiserne Klumpen. Und sie sahen alle so aus die mit ihr zogen. Sie waren zusammengesunken und müde. Sie schoben sich vorwärts, als könnten sie ihr Leben nicht mehr ertragen. Und in ihren Gesichtern hing das Elend und der Hunger, als wären sie damit gezeichnet worden.
Die Augen der Mutter Mellicher wurden feucht. Da waren also Hunderte, die genau so verworfen und verdammt waren wie sie. Sie war wirklich nicht die einzige. Alle, die da hinter und vor ihr hergingen, waren es genauso. Sie empfand das wie eine Beruhigung. Ja, wie eine Beglückung. Irgend etwas zersprang dabei in ihr. Ihre Einsamkeit. Ihre Verbitterung. Ihre Ausgestoßenheit. Sie fühlte sich auf einmal wie geöffnet. Wie nach allen Seiten ausgebreitet. Alle Mauern stürzten ein. Sie verströmte nur noch. Sie zerfloss. Es war ihr auch, als würde alles um sie und in ihr leichter.
Sie spürte das gleichzeitig an ihren Schritten. An ihrem Leib. Sie ging nicht mehr allein. Ihr Körper war aus seinem Schreiten ausgebrochen. Er versuchte mit den anderen zu gehen. Er wiegte sich, wie sie, hin und her. Er übernahm ihre Bewegungen. Er Schleifte wie sie über das Pflaster. Er mischte sich mit ihren lauten, schlürfenden Takten.
Und sie selber? Sie hätte sich jetzt am liebsten nach allen Seiten gebogen. Waren sie nicht alle Hungernde und Verstoßene? Was trennte sie also? Warum hatte sie sich bis heute von ihnen abgeschlossen? War sie blind gewesen? Sie hob ihre Hände ein wenig. O, aber nun wollte sie nach ihnen fassen. Jetzt wollte sie sich an sie anlehnen. Jetzt wollte sie mit ihnen marschieren. Jetzt sollte sie nichts mehr
von ihnen trennen.
Neue Menschen stießen auf die Straße. Es wurden immer mehr. Aus allen Gassen kamen sie. Aus jedem Haus. Sie formten sich schon zu kleinen Trupps. Zu Kolonnen. Ihr Takt wurde fester. Der Lärm wurde größer. Die ganze Stadt schien auszuziehen. Und mit jedem Menschen, den Mutter Mellicher sah, wuchs sie tiefer in diese Scharen hinein. Mit jedem Gesicht, das sie groß und ängstlich anstarrte, kam sie ihnen näher. Soviel Unglückliche und Hungrige gab es also. Soviel Hunderte, ja soviel Tausende standen neben ihr klein und unglücklich, betrogen und verlassen, und wurden zertreten
von ihrem Leben.
Aber diese Massen drückten die Gehende nicht nieder. Diese Unendlichkeit der Armut machte sie nicht kleiner. War es nicht sogar leichter und bequemer, das Leben zu tragen, wenn es Tausende mittragen konnten. Wenn es nicht mehr allein auf den spitzen Schultern lag, sondern wenn es sich über die ganze Stadt streckte. Sie hob ihren Kopf, als empfände sie auf einmal diese Leichtigkeit.
Und sie empfand auch plötzlich, dass in diesem gewaltigen Aufmarsch der Hungernden noch Kraft war. Da gingen nicht nur Menschen, die das Leben zerbrochen hatte, oder noch zerbrach, es war Wucht in ihnen, Gewalt. Es kam aus dem Aufstampfen der Füße. Aus dem Wiegen der Körper und sie wurde stärker, je größer der Strom der Marschierenden anschwoll.
Dass machte sie selber auch mutiger. Das ließ sie den Kopf noch höher heben. Das feuerte sie an. Das hob sie über ihre kleine Armseligkeit hinaus. O, sie kannte sich kaum noch. Sie lief nur. Sie marschierte mit. Und sie tauchte und zerfloss in diesen Strom, als wäre sie schon ewig mit ihm verbunden und verschwistert gewesen.
Die Menschen stauten sich nun plötzlich. Sie mussten auch stehenbleiben. Erstaunt sah sie sich um. Ihre Füße traten ja schon die bloße Erde. Wo war sie? Sie versuchte sich höher zu heben. Rechts liefen Gartenzäune. Auf der linken Seite standen ein paar kleine Häuser. Vor ihr wölbten sich Bäume. Jetzt wusste sie es. Sie war durch die untere Stadt marschiert und durch die obere. Nun mussten sie noch an einigen Wiesenflächen vorbei. Dahinter war die Versammlung.
Sie reckte sich weiter. Wirklich, da standen schon die ersten. Sie waren dick gestaffelt. Tausende! Vielleicht noch mehr. Und sie waren zu einem einzigen großen Klumpen geballt, aneinandergereiht, miteinander verwachsen, und von allen Seiten kamen noch neue Scharen.
Sie wollte stehen bleiben. Aber die Nachbarin nahm sie an der Hand. Zog sie mit. Drängte sie an den ersten Reihen vorbei, in den Klumpen hinein und versuchte nach der Mitte durchzudringen. Es gelang ihr auch. Sie durchschritten die Massen bis zu einem Karren.
Hier schien das Zentrum zu sein. Der Mittelpunkt dieser riesigen Ansammlung. Wie ein Kreis hatten sich wenigstens die Menschen um diesen Karren gezogen und ihre Gesichter standen sich groß und feierlich gegenüber.
Die Mutter Mellicher war erst etwas betroffen. Diese gewaltige Ansammlung von Gesichtern hatte sie erschrocken. Gab es eigentlich so viele Menschen. Waren wirklich so viele Hungrige in der Stadt? Und waren das alles Ausgestoßene und Verquälte wie sie? Sie wurde ängstlich. Sie duckte sich sogar nach unten. Als sie ihren Kopf aber wieder erhob, und in dieses tausendfache Gesicht hinein blinzelte, sah sie sich in jedem nur wie in einem Spiegel. Das war tatsächlich nur ihr Gesicht. Das war sie selber. Das war sie, nackt und armselig wie sie im Leben stand, nur in einer unerhörten Vielheit und Größe.
Auch die Worte, die um sie anschwollen, waren die ihren. Sie horchte lange. Ob nun ein Mann sprach oder eine Frau, ein Mädchen oder ein Bursche, es war immer ihre Stimme, die erscholl. Die
klagte oder schluchzte, die geifern oder nur stottern konnte. Und diese Stimme wurde immer lauter, immer klagender, immer tönender, schwoll höher und bewegte sie wie ein brausender Wind. O, sie riss sie sogar empor. Sie trug sie in die Höhe. Sie erhob auch die anderen. Sie ließ sie schweben. Sie steilte sie. Als sie erschauernd die Augen schließen musste, spürte sie, dass sie noch gewaltiger wurde, dass sie sich ballte und sich über ihren Köpfen staute wie ein Orkan.
Es war still, als sie wieder Erde unter ihren Füßen spürte und die Augen öffnete. Sogar unheimlich still. Die ganze Menschenmasse war erstarrt und die Gesichter waren wie durch einen Zwang in die Höhe gehoben. Sie drehte sich um. Nun begriff sie. Die Menschen lauschten. Seitlich von ihr war ein Mann auf die Karre gestiegen und hatte seine Hände erhoben. Jetzt öffnete er auch seinen Mund. Seine Stimme fuhr wie ein Knall über die Massen.
Sie horchte. Sie konnte ihn nicht genau verstehen, trotzdem sie dicht hinter ihm stand. Was sprach er. Endlich erreichten ein paar Sätze ihr Ohr. Er sprach von ihrem Elend. Von dem Hunger, der über sie gekommen sei. Von der Arbeitslosigkeit. Von den vergeblichen Mühen zu helfen, und dass sie nun ganz verhungern könnten. "Niemand hilft uns! Niemand kümmert sich um uns! Niemand steht uns bei!" Er schrie die Sätze von sich, als säße ihm der Hunger an der Kehle.
Dann wurde seine Stimme härter. Fester. Die lange Gestalt des Sprechers straffte sich mehr. Was schrie er nun? Mutter Mellicher lauschte. "Was sollen wir tun? Sollen wir weiter hungern! Sollen wir warten bis wir zusammengebrochen sind! Es gibt nur das eine!" Seine Stimme schwoll an. "Wir müssen uns helfen!"
Er trompetete das über die Köpfe wie eine Fanfare und es fiel in diese Menschen hinein wie ein heißer Guss. Alle spürten ihn an ihrem Leib. Allen lief er wie ein Schütteln über die ausgehungerten, mageren Körper. Alle wurden von ihm brennend berührt. Sie duckten sich vor ihm, aber sie richteten sich in ihm auch wieder auf. Der Mann sprach weiter. "Ist das nicht unser Recht!" dröhnte
seine Stimme jetzt. "Sind wir nicht dazu Menschen, dass wir uns helfen. Und wer will uns hindern? Die uns ausgesperrt haben? Die auf dem Gelde sitzen? Die uns ihre Läden verschließen? Die uns unser ganzes Leben niedergetreten haben!" Seine Gestalt wuchs. "Wir sind heute alle! Wir sind beinahe die ganze Stadt!" Er schrie das heißer und wie eine Drohung.
Die Mutter Mellicher war bestürzt davon. Es beängstigte sie. Sie sagte es leise nach. War das nicht Aufruhr? War das nicht noch mehr? Hieß das nicht, dass sie sich empören sollten? Vielleicht durch die Straßen ziehen. Schlagen! Schießen!  Sie schüttelte sich. Sie wollte das wieder von sich abwerfen. Es schauerte sie.
Und schauerte es die anderen nicht mit? Sie sah sich um. Erhoben sie sich nicht gegen diese Worte? Standen sie nicht dagegen auf? Sie erschrak. Sie jubelten ihnen sogar zu. Sie drängten sich näher an den Mann. Sie erhoben ihre Hände. Sie wiederholten seine Worte. Sie riefen sie weiter. Sie ballten sie zu schreien. Sie warfen sie wieder zurück und mischten sie mit ihrem dröhnenden Beifall.
Die Mutter Mellicher erschauerte noch mehr. Aber was sollte sie tun? Jetzt umfassten sie ja diese Worte schon selber. Jetzt tobten sie mit dem Beifall schon um sie. Jetzt suchten sie in sie einzudringen. Und war das nicht wieder die Kraft, die mit dem Beifall über sie fiel, die sie schon auf dem Marsch gespürt hatte, die Kraft, dass sie Hunderte, ja, dass sie Tausende waren, die das Elend und den Hunger trugen. Und diese Tausende richteten sich auf. Sie waren begeistert. Sie waren empört. Was sollten sie? Sie versuchte die Worte nachzusprechen. Sie sollten sich selber helfen.
Es beugte sie tief. Was war das? Konnte man das? War das nicht Sünde? Und wer hatte das gesprochen? Hatte das überhaupt ein Mensch gesagt? Einer von ihnen. Einer der Armen. Sie sah nach dem Karren. Dort stand der Mann noch. Fünf Schritte vor ihr. Lang! Hager wie sie. Eine Hand in den Himmel gestreckt. Das Zeichen zu schweigen. Alle schwiegen auch wieder, denn eine Frau stand neben ihm.
Die Pupillen der Mutter Mellicher wurden größer. Die Frau kannte sie. Sie dachte nach. Sie war nur neben ihr gegangen. Es war die Geduckte, Höckrige, die kein Brot und keine Kartoffeln mehr hatte. Sie sah nur größer aus. Der Karren steilte sie. Auch das Gesicht erschien ihr verändert.
Die Frau begann leiser als der Mann. "Ja", wiederholte sie "wir sind heute alle. Wir sind bald die ganze Stadt. Was wollen wir? Wir wollen Arbeit! Wir wollen Brot! Wir wollen leben können!" Sie machte eine Pause und zog Luft in ihre Brust "Ist das zu viel? Wir sollten noch viel mehr wollen!"
"Ja!" rief sie weiter, "was ist unser Leben? Armut! Was haben wir? Sorgen! Was tun wir? Wir arbeiten! Wir schuften! Wir schinden uns, bis wir zusammenbrechen! Ist das das Leben? Sie bog sich nach vorn und ihr Kopf wurde spitz. "Wir sollten noch viel mehr wollen!" rief sie noch einmal. "Einmal Ruhe! Ein Haus! Einen Garten! Freude!! Und warum nicht? Gibt es zweierlei Menschen? Sind wir ungleich geschaffen? Warum haben wir nichts und die anderen alles? Warum hungern wir und die anderen essen sich satt? Warum sitzen wir im Schatten und die anderen in der Sonne? Ist die Sonne zu klein?" Sie spannte ihre Arme in einen Bogen nach hinten. "Sie ist groß?" schrie sie noch so laut wie sie schreien konnte.
Die Mutter Mellicher hatte den Atem angehalten, während die Frau sprach. Die Worte des Mannes hatten sie gebeugt. Die Worte der Frau schnellten sie wieder hoch. Das war die Höckrige. Das war die, die neben ihr geklagt hatte. Und nun stand sie dort. Nun hatte sie sich über die anderen erhoben. Und was sprach sie? Sprach so eine Ausgestoßene. Sprach so eine Unglückliche. Wer hatte das in diesen Mund gelegt? Wer stieß das aus der Frau hervor? War das nicht auch Aufruhr? War das nicht auch Empörung! Aber diesmal sog sie jedes Wort in sich hinein, und als sich der Beifall um die Frau türmte, schrie sie mit, tobte am lautesten, antwortete mit all ihren Sinnen und drängte sich hin zu ihr, um sie zu umfassen.
Ho - war diese Frau nicht Teil von ihr? Kraft schien sich plötzlich von ihr in sie gegossen zu haben. Aber es war diesmal nicht die Gemeinsamkeit der Duldung, die sie heiß überströmte. Es war etwas Stärkeres. Etwas Größeres. Etwas Unerhörtes. Etwas, was noch nie ihren Körper überflutet hatte, was sie empor riss, und sie sogar aus ihrer Duldung schleuderte. Was war es. Sie hatte sich hochgestemmt und ihre Augen glühten wie zwei Lichter. War sie vielleicht auch eine Empörte? War sie vielleicht auch eine Aufrührerische? Wollte sie auch mehr als Arbeit und Brot? Und was wollte sie? Sie musste ihre Hände gegen die Brust pressen, so bäumte sich alles in ihr hoch.
Sicher wollte sie mehr! Sicher wollte sie etwas Freude. Sicher wollte sie ein Haus! Einen Garten. Sicher wollte sie sich einmal ausruhen und Zeit! O! - was sie alles wollte! Sie streckte ihre Hände in die Höhe. Sie schnellte sich aus sich heraus. Ihr Gesicht stand in Flammen.
Auf den Karren war aber schon wieder eine andere Frau geklettert. Sie war größer wie die Höckrige. Männlicher. Sie hatte ein hartes, verbissenes Gesicht und über ihrer Stirne saßen kleine Falten. "Frauen!" schrie sie laut, "Männer!" und ihr Gesicht wurde noch härter. "Warum stehen wir so lange? Warum reden wir so viel? Warum gehen wir nicht!" Sie sah einen Augenblick über die Massen, als sähe sie jedem ins Hirn. "Wo ist das Brot! Wo ist die Arbeit! Wo sind die, die uns hindern?"
"In der Stadt! kreischten einige auf, die in der Nähe standen. "In der Stadt!" schrien die anderen mit. "In der Stadt!" antwortete auch die Mutter Mellicher. Und sie riefen es weiter. Die Antwort sprang aus allen. Aus der ganzen Versammlung. Ballte sich zum Geschrei. Hallte wieder zurück.
"In die Stadt!!" rief da die Frau so laut sie rufen konnte. "In die Stadt!" Und ihre beiden Hände streckten sich nach den ersten Häusern.
Alle fingen den Ruf noch schneller auf. Alle wiesen auch nach der Stadt. Die Mittelsten drängten sich schon zu einem Zuge.
"In der Stadt!" schrie da die Höckrige noch einmal, die neben die Große getreten war. Eine dünne, weißhaarige Alte, die zu ihnen gestemmt wurde, schrie dasselbe. "In die Stadt!" schrie jetzt auch die Mutter Mellicher, die der Ansturm gegen den Karren warf und sie schwang sich hinauf zu den Dreien. "In die Stadt!" Und sie schrie es auf einmal aus sich heraus, als hinge ihr ganzes Leben daran. Als säße in dieser Stadt ihre Freiheit. Als könne sie in dieser Stadt von ihrem ganzen Elend erlöst werden. Von ihrem Hunger. Von ihrer Not. Als säße in, oder hinter dieser Stadt ein besseres Leben.
Und die Menschen, die sich jetzt hinter und unter ihr zum Zuge sammelten, schienen dasselbe zu spüren. Ihre Gesichter waren noch gelb und klein. Noch mager und ausgehöhlt. Ihre Leiber wiegten sich noch schwer und mühsam hin und her. Ihre Augen waren aber feuriger. Die Gesichter glühten. Alles wuchs an ihnen. Sie wurden größer. Gewaltiger   Sie hoben sich aus ihrer Armseligkeit, als
hätten sie Flügel.
Die Mutter Mellicher machte das noch freier. Es umwogte sie. Es durchdrang sie. Es rührte sie bis ans Herz. Wuchsen sie nicht schon über die Stadt. Wer sollte sich ihr und diesen Menschen auch entgegenstellen? Wer wollte ihren Marsch aufhalten? Wer wollte gegen diese Schar seine Hände rühren? Wer? Wer? Sie sprang von der Karre wieder herunter und stellte sich mit an die Spitze des Zuges. Wer? Wer? dachte sie noch einmal, als sie sich in Marsch setzten.
Zuerst fluteten sie über die Wiesen. Dann traten sie mit Wucht das holprige Pflaster. Hinter dem Park bogen sie in die Stadt ein. Ihr Zug war gestaffelt wie ein stumpfer Keil.
In der ersten Querstraße sollte Militär stehen. Etwas weiter oben sah man auch eine Schutzmannskette und ein Maschinengewehr. Was störte das aber diese Menschen. Was sollte das auch gegen ihren Anmarsch. Waren sie überhaupt aufzuhalten? Sie marschierten weiter. Die Mutter Mellicher zog noch immer an der Spitze. Sie war jetzt nicht mehr klein, nicht mehr geduckt, nicht mehr ausgestoßen, nicht mehr allein. Sie war ganz mit den anderen verwachsen verschmolzen. In ihnen untergegangen  In ihrer Empörung. In ihrem Anmarsch. Sie ging nur, und sie ging sowie sie ihr ganzes Leben noch nie gegangen war.

 
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