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Karl Grünberg - Brennende Ruhr (1928)
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6. KAPITEL

Die Swertruper Ortsgruppe der SPD unterhielt in einem Mietshause der Rheinstraße ein Parteibüro. Als sich Ernst Sukrow die finstere Treppe zum zweiten Stockwerk emporarbeitete, hörte er schon von unten zwei sich streitende Stimmen. Eine Tür mit der Aufschrift :
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
Sprechstunden täglich von 5 bis 8 Uhr
Ortsgruppe Swertrup
stand halb offen. In dem durch eine Schranke geteilten Raum befanden sich zwei Männer, die er schon vom Ansehen kannte: Gewerkschaftssekretär Reese und Parteivorsitzender Overath. Beide waren in ihren Streit so vertieft, dass sie ihn auch jetzt nicht abbrachen.
„Ich tue gewiss schon alles, was ich kann, aber ihr müsst mir auch nicht alles aufhalsen, schließlich bin ich doch nicht Partei-, sondern Gewerkschaftsangestellter", sagte Reese aufgebracht.
„Aber ich allein kann's auch nicht schaffen, ich habe auch noch einen Nebenberuf", sagte Oversath nicht weniger laut.
Dann musst du eben die Genossen mehr zur Mitarbeit heranziehen, früher ging das doch auch."
So siehst du aus, Emil! Ich sage dir, kein Aas kommt mehr, wenn es was zu arbeiten gibt. Sogar das Zettelverteilen musste ich neulich bezahlen."
„Na, jedenfalls morgens bekommst du die Stenotypistin nicht. Nachmittags kannst du dich meinetwegen mit ihr verheiraten", entschied Reese unwillig.
Sein Blick blieb jetzt auf dem jungen Menschen haften, der bescheiden mit dem Hut in der Hand wartete.
„Was wollen Sie denn?"
Sukrow zuckte zusammen. Das klang ja beinahe wie neulich bei dem herrischen Betriebsleiter des Flaschnerwerkes.
„Ich wollte nur mal fragen, ob man hier seine Aufnahme in die Partei beantragen kann", antwortete Sukrow höflich. Die Zornesfalten, die auf der Stirn des Gewerkschaftssekretärs bis hoch in seine Glatze liefen, glätteten sich, und auch Oversath, der unwillig zwischen Papieren herumwühlte, trat hinzu.
„Aber gewiß doch, bitte nehmen Sie nur Platz." Es dauerte geraume Zeit, bis man einen zerknitterten Aufnahmeschein fand. Reese knurrte dabei über die im Sekretariat herrschende Unordnung, was aber der Vorsitzende wieder mit der mangelnden Unterstützung durch die Genossen - wobei er Reese ansah - verteidigte. Der Gewerkschaftssekretär aber wusste, was sich schickte.
„Nun höre doch endlich damit auf, was soll denn der Genosse schließlich von uns denken? Sie müssen schon entschuldigen, Genosse, aber es geht hier augenblicklich etwas bunt her. Die vielen Aufnahmen und laufenden Arbeiten - eine besoldete Kraft haben wir noch nicht, es wird alles ehrenamtlich gemacht - die Genossen sind alle überlastet. Na, hoffentlich gewinnen wir in Ihnen ein recht tätiges Mitglied. Hat Sie jemand hier hergeschickt, oder - ich meine nur, hat Sie jemand bearbeitet?"
„Bearbeitet? Nun ja, wie man's nimmt. In der vorigen Woche hat man mich auf der Lichstraße mit dem Kolben bearbeitet. Ich kam zufällig dort entlang und wurde Zeuge empörender Polizeibrutalitäten. Man sagt, dass in der Polizei wie in allen Regierungsstellen noch reichlich reaktionäre Elemente vorhanden sind, die die besten Absichten unserer Genossen in der Regierung zuschanden machen. Auch mehren sich die Anzeichen, als ob was vor sich gehen soll, ein neuer Putsch - aber diesmal von rechts."
Reese blickte Overath, und dieser wiederum seinen Genossen an.
„Ja, und was wollen Sie denn? - Wollen Sie sich bei der Sicherheitswehr melden", fragte Reese unsicher.
„Gott bewahre, ich war schon einmal 1919 in Berlin beim ,Reichstagsregiment Liebe'. Habe jetzt Stellung hier als Chemiker auf dem Stahlwerk Flaschner. Aber ich halte es für meine Pflicht, mich auch politisch in die republikanische Front einzureihen."
„So, so", atmete Overath erleichtert auf, „na, dann füllen Sie man den Schein aus."
Reese nahm seinen Hut. „Also dann auf Wiedersehen, Genosse Sukrow. Und was den Rechtsputsch anbetrifft, da dürfen Sie unbesorgt sein. Dazu sind diese Leute viel zu vernünftig, verlassen Sie sich darauf! Ich selber kenne eine ganze Menge hier, alles ganz patente Leute, die sich nur noch nicht in das Neue hineinfinden können. Das kann man ja verstehen, aber sonst wollen die auch nur das Beste. Ihr Geschrei ist nur Krakeelerei, nichts weiter. Auf jeden Fall haben wir, außer unserem Gustav mit seiner Reichswehr und Genossen Heine mit der Sipo, die ganze Arbeiterschaft hinter uns. Da würden wir bei einem Rechtsputsch noch viel schneller als mit den Spartakisten fertig werden."
" Glauben Sie denn, dass die Reichswehr in solchem Falle auch wirklich gegen Rechtsputschisten schießen würde?" fragte Sukrow ungläubig.
„Glauben?" Reese lächelte überlegen. „Die Soldaten sind doch auf unsere Verfassung vereidigt. Also, Bangemachen gilt nicht."
Damit war er zur Tür hinaus.
„Ich will Ihnen noch einen guten Rat geben, Genosse, treten Sie der Einwohnerwehr bei. Unser Genosse Heine hat sie ja ausdrücklich zum Schutze gegen Putsche von links und rechts gebildet. Ich bin auch Mitglied, kann mich aber wegen meiner vielen Funktionen nicht viel drum kümmern", sagte der Parteivorsitzende.
Sukrow versprach, sich dies zu überlegen und verließ gedankenvoll das Sekretariat.
Ü ber Nacht war wieder Schnee gefallen, aber nicht liegen geblieben. Die Straßen schwammen im Schlamm, und die Schlackenwege des Stahlwerkes glichen morastigen Kanälen.
Ernst Sukrow filtrierte auf dem Fensterbrett des Laboratoriums seine Phosphorbestimmungen, wobei er in das noch immer währende Schneegestöber hinausblickte. Vor vier Wochen noch, da stand der bei solchem Wetter nass wie eine gebadete Katze hinter dem Martinofen und schaufelte garstigen Schrott für den nimmersatten Bauch des Eisenfressers. Jetzt saß er hier hübsch sauber und warm. Wurde besser bezahlt, mit „Herr" angeredet, hatte eine interessante Arbeit, also allen Grund, zufrieden zu sein. Dennoch konnte er nicht mit sich ins reine kommen.
Gewaltsam kämpfte er die dummen Gedanken, die das hässliche Wetter ihm eingab, nieder. Er konnte den armen Kerlen, die da drüben noch weiterhin schaufelten, froren und nass wurden, ja doch nicht helfen. Wenn er dem Ruf auf einen anderen Platz - seinen Fähigkeiten entsprechend - Folge leistete, war er doch noch lange kein Verräter an der republikanischen Sache. Ja, wenn er nun alles hätte aufgegeben? So aber war gerade das Gegenteil der Fall. Er hatte sich sogar politisch organisiert in jener Partei, die sich die Arbeiterbefreiung zum Ziel gesetzt hat. Darauf bildete er sich sogar im Stillen etwas ein. Und dass er, statt, wie ursprünglich beabsichtigt, Kohle zu graben, Stahlanalysen machte, das schlug doch seinen Grundsätzen über Mitarbeit beim Wiederaufbau nicht im geringsten ins Gesicht. „Jeder an seiner Stelle!"
Wie oft wiederholte er sich den Satz. Wenn ihm wieder mal eine schwierige Arbeit gelungen war, wenn er einen neuen Einblick in die Technik des Betriebes gewonnen hatte, jedes Mal fielen ihm die Worte seiner schönen Reisebegleiterin aufs Neue ein. Nach anfänglicher schwerer Prüfung hatte sich für ihn doch noch alles zum Besten gewendet. Gleich einem guten Engel hatte sie ihm Glück gebracht.
In seinen Betrachtungen störte ihn Küpper, der kleine naseweise Laboratoriumsstift:
„Wissen Sie auch schon, Herr Sukrow, wir kriegen eine neue Volontärin." „Eine Volontärin...?"
" Ja, eben wurde von der Direktion angeklingelt. Sie ist schon drüben im Verwaltungsgebäude. Ein feines Fräulein, Sie!"
„Hast du sie denn schon gesehen?"
„Drüben in den Büros war sie vor ein paar Wochen schon mal. Da werden Sie staunen", sagte der Knirps, mit den Augen blinzelnd.
In Sukrow stieg eine Ahnung auf. „Wie sieht sie denn aus?"
„Da kommt sie ja schon", rief der Bursche.
Ü ber den Hof kam ein Ingenieur, und in seiner Begleitung eine Dame, in der er, obwohl sie den Lederhut tief auf den Kragen des Gummimantels herabgezogen hatte, sofort „sie", die Langgesuchte, erkannte. Er hätte sie unter Tausenden herausgefunden, so sehr hatte sich ihm ihre Gestalt eingeprägt. Wenige Minuten später stand sie, von Dr. Grell begleitet, im Arbeitsraum. In dem blütenweißen Laboratoriumsmantel, mit dem von blonden Schnecken umrahmten frostgeröteten Gesicht, aus dem ein Paar tiefblaue Augen strahlten, kam sie ihm jetzt wirklich wie ein überirdisches Wesen vor.
„Küpper, bitte mal schnell die Herren von nebenan her", rief Dr. Grell.
Die Herren von nebenan hatten natürlich schon neugierig auf der Lauer gelegen.
„Hier stelle ich Ihnen Fräulein Zenk vor. Fräulein Zenk wird sich acht Tage im Laboratorium aufhalten, um alle einschlägigen Bestimmungen in Stahl, Eisen und Kohle kennen zu lernen."
Die Herren verbeugten sich bei Nennung ihrer Namen, und Gisela Zenk reichte jedem die Rechte, Als sie Sukrow die Hand reichte, zeigte kein Zug ihres gleichmäßig lächelnden Gesichtes, dass sie ihn wieder erkannte.
Seitdem Gisela Zenk im Laboratorium volontierte, war ein ganz anderer Zug dort eingekehrt, was sich vor allem in der Verbesserung des Umgangstones äußerte. Selbst der alte Hövelmann schränkte seinen Anekdotenvorrat ein, zumal sein willigster Abnehmer Peikchen wie verwandelt schien. Die Kollegen foppten diesen heimlich, in die schöne Volontärin verschossen zu sein.
Da für Sukrow der Heimweg etwas weit war, aß er mittags Brotschnitten und verbrachte die übrige Zeit mit Lesen im Waagenzimmer des Laboratoriums. Als er eines Mittags den gewohnten Platz einnehmen wollte, saß zu seiner Überraschung Gisela Zenk noch vor der analytischen Waage.
„Sie auch noch hier, gehen Sie denn nicht zu Tisch?" fragte sie, ohne den Blick von der Skala der in ihrem Glasgehäuse leise vibrierenden Waage abzulenken.
„Ich halte meine Tischzeit immer hier ab, weil es mir mittags zu weit nach Hause ist", entgegnete er etwas verlegen.
„Nun, dann lassen Sie sich nur nicht stören, ich wollte nur eine Kohlenstoffbestimmung nochmals kontrollieren."
Sukrow setzte sich bescheiden in seine Ecke. Das warme Licht der abgeblendeten Lampe umflutete den goldigen Scheitel der anmutigen Gestalt, spiegelte sich in den seidenfeinen Härchen, die sich an dem schönen Nacken kräuselten. Besonders edel deuchten ihm die schmalen weißen Hände beim Dirigieren der automatischen Pinzette.
Gisela Zenk schloss mit lautem Knall das Waagenfenster, warf sich auf ihrem Sessel herum und schlug lässig ein Bein über das andere. Aus der Manteltasche zog sie ein silbernes Etui.
Haben Sie Feuer?" - Ganz verwirrt reichte Sukrow ihr das angetriebene Zündholz und nahm die ihm dargebotene Zigarette.
Mein einziges Laster", lachte sie.
„Wenn gnädiges Fräulein weiter kein Laster haben", stammelte er unsinnig. Er hatte sich vorgenommen, sie nicht wie die anderen mit „Gnädige" anzureden. Nun war es doch geschehen.
„Wer weiß auch", lächelte sie, und nach einer kurzen Weile:
„Wie gefällt Ihnen nun Ihre Tätigkeit hier?! Besser als das hässliche Schrottabladen? Oder wollen Sie doch lieber in den Schacht?"
Sukrow wurde dunkelrot.
„Wie, Sie wissen?..."
Gisela lachte hellauf. „Natürlich weiß ich. Habe Sie doch oft genug auf der Lore stehen sehen. Bloß Sie haben mich nicht gesehen, oder waren zu stolz, da oben auf Ihrem ehernen Thron."
„Aber ich weiß wirklich nicht..."
„Sie wissen anscheinend manches noch nicht. Auch nicht, wie Sie plötzlich hierher ins Laboratorium kamen?"
Jetzt wurde ihm blitzschnell alles klar. „Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, dass ich nicht eher meinen Dank..."
„Ich freue mich, wenn ich anständigen Menschen ein bisschen unter die Arme greifen kann", lächelte sie abwinkend.
Sukrow hätte am liebsten ihre Hand geküsst.
„Ich bin ja so zufrieden, dass ich hier in meinem Berufe wirken und schaffen kann, wenn ich auch die Fortsetzung meiner Studien weiter hinausschieben muss."
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„Nun, dazu wird vielleicht auch noch mal Rat. Übrigens scheinen Sie Ihre Studien hier nicht allein auf hüttenchemisches Gebiet zu beschränken. - Ich sah Sie mal in einer Arbeiterversammlung."
„Da ging ich aus demselben Grunde hin wie Sie", entgegnete er schnell gefasst.
„Wie, sind Sie denn auch?...", sie biss sich schnell auf die Zunge. - „Sie sind doch radikal, halten es mit den Arbeitern!"
„Das stimmt gewissermaßen, und darum gehe ich auch in Arbeiterversammlungen, um meine sozialen Einsichten zu vertiefen."
Ü ber Giselas schönes Gesicht flog ein Schatten des Unmutes.
„Für die Arbeiter sind wir - bin ich auch! Das habe ich Ihnen ja schon damals in der Bahn gesagt. Aber Sie haben ja in jener Versammlung gesehen: Die Arbeiter selbst sind sich nicht einig und werden sich auch nie einig werden! Einer reißt den anderen herunter! Und jeder, der etwas wird, tritt seine Kameraden mit Füßen. Ein Arbeiter, der was wird, ist der schlimmste Ausbeuter, den man sich denken kann."
„Die Befreiung der Arbeiterklasse kann aber nur das Werk ihrer eigenen Hände sein", antwortete Sukrow.
„So sagt der Jude Marx, um einen gegen den anderen aufzuhetzen", rief sie blitzenden Auges.
„Das stimmt aber nicht, Marx hetzt doch keine Arbeiter gegen Arbeiter", sagte er, den Kampf aufnehmend.
„Nein, aber einen Deutschen gegen den anderen! Oder sind die Arbeitgeber, die Offiziere, die Intellektuellen, zu denen Sie doch auch gehören, nicht auch Volksgenossen, ohne die kein Fortschritt und kein Arbeiten möglich ist? Und wie wird dagegen gehetzt?"
„Das liegt doch wohl hauptsächlich an der Gegenseite. Wie wird denn auch der Arbeiter ausgebeutet und behandelt? Ich habe es selbst zur Genüge erfahren", setzte er hinzu.
„Und sind nicht doch gewisse Vertreter dieser verruchten Menschenklasse' gekommen und haben Ihnen geholfen?" trumpfte sie auf.
Sukrow fühlte sich entwaffnet und beschämt zugleich. Später ärgerte er sich, dass er ihr nicht gesagt hatte: „Ja, mir einzelnem, der ich ja eigentlich gar kein Arbeiter war - aber was haben die andern davon?"
Gisela Zenk nützte seine Niederlage geschickt aus. „Ich achte und ehre jede Ansicht, auch wenn sie falsch ist. Sie selber, Herr Sukrow, sind nur ein unbewusstes Opfer der marxistischen Irrlehre. Die meisten Menschen rennen in ihrer Parteidogmatik wie in einem Käfig auf und ab. Weil sie dem Gegner stets nur die gemeinsten Absichten unterschieben. Eines Menschen Rede aber ist keine Rede..."
„Man soll sie hören alle beide."
„So, das wissen Sie. Aber Sie sind so untolerant, einen andern gar nicht mal aussprechen zu lassen, nur weil das Ihrer vorgefassten Meinung zuwiderläuft!"
Sukrow war sich dieser Schuld zwar nicht bewusst, senkte aber vor ihren eifersprühenden Augen das Haupt. Und dann begann sie ein Bild des Wiederaufbaues, so wie sie ihn sich vorstellte, zu entwerfen - Arbeitgeber und Arbeitnehmer wohnen unter einem Dach in dem großen Hause, das da heißt „Deutschland"! Also haben beide ein gemeinsames Interesse an seinem Aufbau! Er fühlte zwar, dass da irgendetwas nicht stimmte, nicht stimmen konnte, war aber zu aufgeregt, um etwas zu erwidern.
Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, ärgerte er sich über sich selber. Immer, wenn er mit jemandem politisierte, zog er den Kürzeren. Dass ihm das sogar hier passiert war, schmerzte ihn besonders. Er musste sich heimlich eingestehen, dass er ihr nicht sonderlich Achtung eingeflößt haben konnte.
Der Gedanke, sich das Wohlwollen der schönen Fabrikantentochter verscherzt zu haben, verließ ihn den ganzen Nachmittag nicht. Dass er ihr nicht ganz gleichgültig war, bewies allein schon, dass sie sich für ihn verwendet hatte. War das nun bloß rein menschliche Anteilnahme, oder mehr? - Verstohlen betrachtete er sich im Spiegel. Er hatte ein schmales durchgeistigtes Gesicht, schwarze Haare und dunkelgraue Augen. „Gegensätze ziehen sich an, vielleicht dass sie, die blonde..."
Ah, was sind das für Gedanken?! Zwischen ihm, dem mittellosen Werkstudenten, und ihr, der reichen Unternehmerstochter, der alle Welt zu Füßen lag, klaffte ein Abgrund, der durch alle romantischen Kombinationen nicht zu überbrücken war. -
Am Samstag daraufrückte er - nachdem er zu Abend gegessen hatte — die grüne Stehlampe an das Sofa und schlug das aus der Parteibibliothek entliehene Buch auf: "Ferdinand Lasalle, Über Verfassungsfragen".
Was ihm die beiden Parteifunktionäre wegen der Einwohnerwehr geraten, schien hier gewissermaßen seine Rechtfertigung zu finden. Die Verfassung konnte nur durch die dahinterstehenden realen Machtmittel: Kanonen und Bajonette realisiert werden. Danach war es nicht nur richtig, dass Noske an der Spitze der Reichswehr, Heine an der Spitze der Sicherheits- und Einwohnerwehr standen, sondern dass man selber auch Mitglied der Einwohnerwehr wurde, um dort im sozialdemokratischen Geist zu wirken. - Wenn er an Peikchen und Konsorten dachte, erschien ihm zwar die Möglichkeit einer solchen Betätigung sehr fragwürdig.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedankengänge. Schapulla, der wie gewöhnlich in Hemdsärmeln war, bat um das Geschirr.
Nanu, Herr Schapulla bemüht sich persönlich? Haben Sie sich deshalb extra so fein gemacht, oder wollen Sie zur Hochzeit?" Der dicke Wirt, der gute schwarze Hosen und einen Kragen mit weißem Schlips trug, lächelte etwas verlegen.
„Das gerade nicht, aber wir haben von der Einwohnerwehr heute im Marxloher Hof...", er legte eine gedruckte Einladung auf den Tisch.
„Geselliger Abend mit Gästen und Tanzvergnügen."
„Sind Sie denn da auch Mitglied?" fragte Sukrow interessiert.
Und ob er Mitglied war! - Herr Schapulla war zwar alles andere als ein Politiker. Ob Wilhelm oder Ebert regierten, das war ihm ganz Gottlieb Schulze. Als Mann für Ruhe und Ordnung und Mitglied des Vereins ehemaliger „Hacketäuer" hatte er es aber für selbstverständlich gehalten, auch der EW beizutreten.
Der Zusammenhalt in der Swertruper Einwohnerwehr ließ noch viel zu wünschen übrig. Die Wehrleitung kam daher auf den Einfall, solche geselligen Abende zu veranstalten. Jedes Mitglied war verpflichtet, mindestens einen Gast mitzubringen. Schapulla hatte lange überlegt, wen er da wohl mitschleifen könnte, denn mit dem Grünwarenhändler Kabuschat, der nur für nass saufen wollte, mochte er sich nicht blamieren. Schließlich war ihm sein „möblierter Herr" eingefallen, nur wusste er noch nicht, wie er das anbringen sollte.
„Na, dann amüsieren Sie sich man recht schön, und werden Sie Ihrer Frau nicht untreu", sagte der junge Mann gutgelaunt.
„O ja, das letzte mal war es sehr nett. Bier wird immer massenhaft gepöttet, alles meist Lagen, und Damen waren da, ich sage Ihnen...", er schnalzte bedeutsam mit der Zunge. „Leider fehlte es an tüchtigen Tänzern."
„Na, da haben Sie ja Chancen!"
„Aber, gehen Sie, unsereiner kommt ja bei solchen ,Hiawatha' nicht zurechte. Ja, als ich so alt war wie Sie, da war ich auch ein toller Hahn. Beim Karneval kam ich mal fünf Tage nicht in mein Bett. Und bei der Kirmes? Immer rangegangen und nix wie rangegangen! Aber Sie machen sich wohl gar nichts aus Tanzen und so?"
Sukrow lachte. „Das kommt auf die Gelegenheit an."
„Nun, wenn es Ihnen kommod ist?... Heute wird wieder allerlei gefällig sein. Gewöhnlich geht es da die ganze Nacht durch", blinzelte Schapulla vielsagend. Sukrow sprang auf. „M.w.! Machen wir! Mir fällt ohnehin die Decke auf den Kopf. Wenn Sie mich also mitnehmen wollen, in fünf Bierminuten bin ich unten!" Als Schapulla mit seinem Gast in der neunten Stunde den Saal betrat, waren bereits gegen vierhundert Personen anwesend. Die älteren Herren in Gruppen gesprächsweise zusammenstehend. Rings um die blankgebohnerte Tanzfläche auf langen Stuhlreihen, wie Stare auf dem Telegraphendraht, die heiratslustig aufgeputzten Töchter. Etwas im Hintergrunde die würdigen Mamas mit Lorgnetten.
„Allerhand Kalbfleisch hier, was? Na, da sehen Sie mal zu, was sich machen lässt. Und falls Sie sich eine abschleppen... "- Schapulla bunkerte mit den wässrigblauen Schweinsäuglein, - „nach ein Uhr ist die Bude sturmfrei. Meine Ollsche will das ja nicht, sie sagt, das Haus soll rein bleiben. Die Weiber sind ja darin so komisch. Ziehen Sie sich man die Stiefel unten aus. Die Hauptsache, dass keine Lockennadeln im Bett liegenbleiben."
Die vortreffliche Musik begann soeben einen Walzer aus der „Czardasfürstin", und Sukrow wollte, vom Jagdeifer gepackt, sich in das Vergnügen stürzen, als ihn sein Begleiter am Arm festhielt: „Nicht so stürmisch, erst muss ich Sie noch vorstellen." Und dann führte er ihn zu einigen jovialen Herren mit Bändern und Medaillen im Knopfloch. Er hörte unverständliche Namen und „hoch erfreut", verbeugte sich nach rechts und links, tauschte Händedrücke und fand doch das Ganze widerlich abgeschmackt.
Plötzlich stieß er auf zwei bekannte Gesichter: Reese und Oversath! Es war ihm zwar peinlich, die Parteigenossen hier, wo er sich nach Grothes Rezept mal tüchtig austoben wollte, anzutreffen, konnte aber natürlich einer Begrüßung nicht aus dem Wege gehen. Die beiden Arbeiterführer schienen aufrichtig erfreut zu sein, den jungen Mann hier zu treffen, und stellten ihm einen älteren Herrn, dessen Kopf wie ein Kürbis mit Schmiss und Hornbrille aussah, als Bürgermeister Dr. Livenkuhl vor. Jeder hatte für ihn ein paar verbindliche Worte, klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter, und seine Taschen füllten sich mit Anmeldezetteln und Werbeprospekten: „Schützt euer Heim und eure Familie, tretet der Einwohnerwehr bei" oder „Was will die Technische Nothilfe?" und so weiter.
Damit aber noch nicht genug, schleppten ihn die beiden Genossen zu einem Tisch, wo sie schon von ihren besseren Hälften nebst Töchtern sehnsüchtig erwartet wurden. Wieder gab es Höflichkeitszeremonien! Die beiden Frauen, die den jungen Mann sofort mit Kennermiene zum Schwiegersohnaspiranten erkoren, platzierten ihn mit mütterlicher Sorgfalt — die keinen Widerspruch duldete — zwischen sich, so dass ein Entrinnen unmöglich schien. Dann begann ein ebenso liebenswürdiges wie hochnotpeinliches Verhör über seine hiesigen als auch familiären Verhältnisse. Sie mussten darüber schon zum Teil orientiert sein, denn trotz seines schüchternen Einwandes redeten sie ihn fortgesetzt mit „Herr Doktor" an.
Frau Oversath, eine kleine rundliche Frau mit munterem kölnischem Mundwerk, bemühte sich dabei, recht hochdeutsch zu reden, was der schwarzseiden, steif und würdevoll dasitzenden Frau Gewerkschaftssekretär Veranlassung gab, ihrem gegenübersitzenden Töchterlein Ilse auf den Fuß zu treten. Dabei erwischte sie aber den Fuß von Lucie Oversath, die, in dem Wahne, der wuchtige Anstoß käme von dem interessanten Studenten, kräftig zurücktrat.
Währenddessen sondierte Ernst das Gefechtsfeld. Dummes Gänschen, im Dutzend billiger, dachte er in Bezug auf das Töchterchen des Gewerkschaftssekretärs, das duftig aufgeputzt wie eine Ehrenjungfrau, mit geistlosem Puppengesicht dasaß. Die Oversaths hatten dunkelblondes Haar, niedliche Stumpfnasen und sanfte, graublaue Augen, die, wenn sie die langen Wimpern aufschlugen, einem unerfahrenen Vierundzwanzigjährigen gefährlich werden konnten.
Sukrow, der abwechselnd mit allen dreien tanzte, wusste nicht, ob er sich für Gertrud oder Lucie entscheiden sollte. Diese peinliche Frage löste ein schmissgezierter baumlanger Mensch, der Lucie bei jedem Tanz sofort für den nächsten engagierte, so dass er sich nunmehr gänzlich an Gertrud hielt. Sehr zur Entrüstung der Frau Gewerkschaftssekretär, die sichtbar verstimmt mit ihrem sitzen gebliebenen Töchterlein gegen elf Uhr das Feld räumte. Auch Frau Oversath verabschiedete sich
bald darauf.
„Verzeihung, meine Herrschaften", näselte der Schmissige, „wenn Sie nichts dagegen haben, nehme ich hier ein bisschen Platz. Gestatten Sie: Kuhlenkamp, -
Bergassessor 1"
„Was trinken die Herrschaften?" fragte der hinzutretende Kellner, die Gläser mit den schalen Bierresten
abräumend.
„Bringen Sie mal die Weinkarte, - Sie gestatten, dass ich einlade", verbeugte sich abermals der Lange.
„Nebenan ist's gemütlich, da gibt's hübsche Ecken, wo man nicht so wie hier auf dem Paradeteller sitzt", sagte Lucie mit viel versprechendem Augenaufschlag.
„Ach so! - Sie wissen hier schon Bescheid? Nun, ich bin von Oberhausen und heute das erste Mal hier. Aber selbstverständlich ziehen wir da um."
Um zwölf Uhr verlöschte wegen der eingetretenen Polizeistunde das elektrische Licht. Stattdessen wurden an den Kronleuchtern die Spiritusglühlampen von der Gassparzeit her aufgehängt, aber die ganzen Seitenflächen des Saales verblieben in prickelndem Halbdunkel, sehr zur Freude der liebebedürftigen Jugend, die sich von der lästigen elterlichen Aufsicht befreit sah. In die Musik mischte sich Singen, Lachen, Kreischen und Stöhnen. Die Atmosphäre war gesättigt von menschlichen Ausdünstungen und Rauch, Staub und Biergeruch, Parfüm und Sinnlichkeit.
Die älteren Herrschaften hatten sich in die vorderen Wirtschaftsräume zurückgezogen, wo sie an behaglichen Rundtischen beim Kerzenlicht weitertranken.
Polizeistunde? -
Es hatte sich was, wenn der Polizeigewaltige, Bürgermeister Livenkuhl, den Anführer machte. Da prangte er im Kreise der Herren vom Wehrvorstand hinter einer Batterie geleerter Rotweinflaschen und fühlte sich offensichtlich sehr wohl. Neben ihm saß Gewerkschaftssekretär Reese, der mit weinrotem Gesicht Mikoschwitze zum Besten gab. - Ein paar Tische weiter hockten Schlächtermeister Gutknecht, Kaufhausbesitzer Gerstenberg, Drogist Dobberstein und Oberpostsekretär Liepel und machten sich das Vergnügen, Herrn Schapulla, der Lustiges aus seiner „Dienstzeit" erzählte, mit „Dortmunder" voll zu pumpen. Oversath, der nicht viel vertragen konnte, hatte bereits den Gang zur Toilette vollgespien und lag jetzt leblos wie eine Leiche auf einer Eckbank. Der dicke Kosthauswirt aber soff wie ein Loch, so dass seine Kumpane sich kaum noch über Tisch halten konnten.
Sukrow sah das alles, als er mal von draußen zurückkehrte. Sowohl als Soldat als auch als Student hatte er Saufereien kennen und verabscheuen gelernt, so dass dieses Bild ihn keineswegs entzückte. Und noch auf etwas anderes wurde er durch die Mädchen aufmerksam gemacht. In einer notdürftig erhellten Nische saß eine völlig betrunkene Frauensperson auf dem Schoß eines ebenfalls nicht mehr nüchternen Herrn.
Kuhlenkamp verzog seinen Mund bis zu den Ohren, Lucie Oversath aber entrüstete sich:
„Das ist nun eine verheiratete Frau, ihr Mann ist Reiseingenieur, - dass die sich gar nicht schämt."
„Nicht wahr, sie sollten es lieber so wie wir machen", sagte der Assessor und blies mit gewaltigem Niesen das Licht aus.
IM
Lucie spielte noch immer die Naive. „Gott, man kann ja alles mitmachen. Unsere Mama sagt immer: Ich werde euch nicht anbinden, ihr müsst selber wissen, wie weit ihr zu gehen habt."
„Die da drüben treiben's auch entschieden zu weit", griente der Frivole.
Als bei der zweiten „Muskateller" Gertrud ihre Beine auf den Tisch legte, so dass ihr Rock weit in den Schoß zurückfiel, rief die Schwester vorwurfsvoll: „Aber Trautchen!"...
„Lass mir deine Spitzenhöschen seh'n!" - trällerte Kuhlenkamp und zielte mit der Flasche.
„Das kannst du bei Lucie machen", sagte sie schnippisch und deckte ihre Reize wieder zu.
„Also jetzt trinken wir alle Brüderschaft, und jeder bekommt dabei einen anständigen Kuss", rief Kuhlenkamp, sein Glas hebend.
Als die Mädchen einmal hinausgingen, sagte der Lange: „Die haben schon genug! Ich bin mit der Meinigen schon einig. Wir gehen ins Hotel 'Ohnsorge'" „Davon habe ich ja gar nichts gehört", sagte Sukrow
erstaunt.
„Na, Mensch, das sagt man doch auch nicht, davon überzeugt man sich handgreiflich. Und wie steht's bei dir, Kommilitone?"
Sukrow machte Ausflüchte. - „Wenn Sie mir die Schwester nicht abnehmen, vermasseln Sie mir die ganze Tour. Kommen Sie doch mit, die Kleine ist ja auch nicht spröde", jammerte der Bergbeamte und stellte sich dann - des anderen Verlegenheit erratend - zur Verfügung. Sukrow nahm hundert Mark.
Als er später nach einem Tanz mit Lucie zum Tisch zurückkehrte, erblickte er vor dem hellerleuchteten Garderobespiegel im Gang eine schlanke, in lichtgrüne Seide gekleidete Gestalt, die sich ihr Haar ordnete. Ein befrackter Herr mit der Garderobe stand hinter ihr. Im selben Moment drehte sie sich um - und Sukrow blickte in Gisela Zenks Augen. Er machte eine linkische Verbeugung, aber sie schaute kalt über ihn hinweg, als kenne sie ihn nicht. Da ging er beschämt in seine Ecke zurück. Als man gegen zwei Uhr die Straße betrat, lag diese fast in völliger Finsternis. Überall in der Dunkelheit grölte und torkelte es. Auch Sukrow merkte, dass er reichlich voll des süßen „Muskatellers" war. Die Mädchen hingen selig im Arm ihrer Begleiter. An einem Straßenmast lehnte ein Kumpel und erbrach sich zum Gaudium der Umstehenden in seinen Filzhut.
„Die Arbeiter sind doch ein Schweinepack, verdienen immer noch zuviel", lallte der Bergassessor.
Bei einer Eckdestille mit eingeschlagenen Scheiben war eine Ansammlung. Sukrow trat in etwas Klebriges und entdeckte zu seinem Schrecken, dass es Blut war. Der Destillenwirt hatte mit einigen „polnischen Kamerads", die noch nach zwölf Uhr Einlass begehrten, Streit gehabt und die Polizei alarmiert. Die hatte einige der Ruhestörer mit dem Säbel verletzt und dann mit zur Wache genommen.
„Richtig so - kurzen Prozess machen - Pack gleich an die Wand stellen", rief Kuhlenkamp mit schwerer Stimme, und dann begann er mit seinem Bambusstock fuchtelnd, zu grölen:
„Nieder mit den Juden, nieder mit den Juden, Nieder mit den Juden von der Republik!"

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