4. KAPITEL
Ernst Sukrow saß in der Mittagspause in dem ausrangierten Eisenbahnwagen, der den Schrottarbeitern als Garderobe und Aufenthaltsraum diente, sich die verklammten Finger an seinem „Henkelmann" wärmend. Er verspürte heute kaum einen Essensdrang. Das machte die schlaflose Nacht, eine Folge der gestrigen stürmischen Versammlung.
Auf der Straße hatte es nach Versammlungsschluss noch lebhafte Diskussionen gegeben. Die da diskutierten, waren durchweg alte erfahrene Pioniere der Arbeiterbewegung.
Er, der erst vergangene Woche dem Verband beigetreten war, kam sich dagegen klein und unbedeutend vor. Hart prallten die Gegensätze aufeinander. Grothe hatte sich zäh an einen alten unbelehrbaren Anhänger des Überstundenabkommens festgebissen. Dieser, Oversath mit Namen, war zwar selbst kein Bergmann, aber als Eisenbahnbetriebsrat, Stadtverordneter und Vorsitzender der hiesigen SPD-Ortsgruppe immerhin eine beachtenswerte Persönlichkeit. Als ihn Grothe mit seiner Argumentation so in die Enge getrieben hatte, dass er nicht mehr weiter konnte, hatte er nur noch das eine übrig: „Schließlich haben wir oben in der Regierung unsere Genossen sitzen. So klug wie ihr sind die schon lange, und die werden schon dafür sorgen, dass unsere Interessen nicht zu kurz kommen." Da zitierte Grothe den Götz von Berlichingen und ließ ihn stehen.
Ü ber das zweifelhafte Argument des Sozialdemokraten hatte Sukrow die halbe Nacht gegrübelt, ohne zu einem Resultat zu gelangen. Waren diese an die Spitze gestellten Führer denn nun wirklich solche weit blickenden, unbestechlichen Männer? - „Jeder sorgt nur für seine Tasche!" Das hatte nicht nur gestern abend der Völkische gesagt. Das hörte er fast täglich, wenn die Kollegen mal irgendwie auf die Politik kamen.
Zwischendurch war ihm dann immer wieder das Bild der schönen Fabrikantentochter eingefallen. Kein Zweifel, dass sie politisch auf der äußersten Rechten stand. Und doch ging sie in gewöhnliche Arbeiterversammlungen? - Diese Gedanken gingen ihm auch jetzt durch den Kopf, als ihn die Stimme des Schreibers von der Gießerei weckte. „Sukrow, Sie sollen sich gleich mal vorne im Stahlwerkslaboratorium bei Direktor Dr. Grell melden."
Dr. Grell, der technische Leiter der Gießerei, war wegen seiner Strenge sehr gefürchtet. Sukrow war sich zwar keines Vergehens bewusst, betrat aber doch mit recht gemischten Gefühlen das am Eingang gelegene alte Gebäude, in dem das Laboratorium untergebracht war. Ein junger Bursche führte ihn in ein halb als Büro, halb als Laboratorium eingerichtetes Zimmer, in dem sich aber niemand befand. Ein bitteres Gefühl stieg in ihm auf. Dort lag ja jenes chemische Gebiet, wofür er sich vorbereitet hatte. Wofür schon seine Eltern gearbeitet und gedarbt, sich jede Freude versagt hatten, um ihren Sohn mal als berühmten Chemiker und Erfinder zu sehen. Ein hartes Geschick hatte es anders bestimmt. Verstohlen schaute er durch die Glastür in den Nebenraum, zog Vergleiche zwischen den in weißen Mänteln und Stehkragen arbeitenden Herren und seinem eigenen Konterfei, das ihm aus dem großen Spiegel über der Waschtoilette höhnisch entgegenbleckte.
Ein hohlwangiges, bartstoppeliges, frostgerötetes Gesicht unter speckiger Feldmütze, um den Hals ein roter Wollschal, zerrissene, von Rost und Öl starrende Uniformlumpen und ungefüge Schaftstiefel - das war Ernst Sukrow, stud. ehem.
„Arbeit schändet nicht!"
Wer hatte ihm doch das so eindringlich zu Gemüte geführt? - Ja, richtig, „sie", die schöne Fabrikantentochter. Ruckers' Worte vom Abscheu der Bourgeoisie gegen schmutzige Arbeiter fielen ihm ein. Vermutlich würde sie, die so schön reden konnte, jetzt auch einen großen Bogen um ihn machen. „Jeder muss beim Wiederaufbau an seiner Stelle mithelfen", hatte sie gesagt.
Jeder an seiner Stelle? War denn der Schrotthaufen seine Stelle? - Sie hatte gut reden, wie alle Warmsitzenden. Ihr mutete keiner solche Kuliarbeit zu.
Er erschrak plötzlich vor sich selber. Aus seinem Unterbewusstsein war ein Lehrsatz seines Universitätsprofessors an die Oberfläche geraten:
„Der Neid der Besitzlosen ist analog dem tierischen Neid um den Fressnapf, der in seiner hassvollendeten Form nur beim Proletariat der untersten Stufe anzutreffen ist."
War er denn bereits so tief gesunken? Hatte ihn sein Umgang mit den Arbeitern schon so tief hinabgezogen? Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen. Vor ihm stand die kraftstrotzende Gestalt des Gefürchteten.
„Was wollen Sie denn?"
Hart und messerscharf entflog der Satz dem Gehege eines auffallend starken Gebisses. Ein Gruß kam für den zerlumpten Stahlwerksproleten natürlich nicht in Frage. Sukrow hatte in seiner kurzen Arbeiterlaufbahn schon genug Missachtungen und Demütigungen erfahren. Seine Philosophie über den „Adel der Arbeit", über Heranreifen eines „neuen Zeitalters mit besserer Würdigung der Arbeiter" und endlich das Bewusstsein, doch noch gewissermaßen „etwas Besseres" darzustellen, an das diese Kränkungen nicht heranreichten, hatten ihn immer darüber hinweggeholfen. Jetzt aber kam seine Antwort alles andere als unterwürfig heraus.
„Ich will gar nichts, ich bin nur herbestellt worden." Dr. Grell blickte ihn verwundert an. „Hierher bestellt? Ach, sind Sie der Herr Sukrow aus dem Stahlwerk? Ja so, das müssen Sie doch sagen. Entschuldigen Sie, dass man Ihnen keinen Stuhl anbot, nehmen Sie Platz. Also, Sie haben Chemie studiert?"
Sukrow wurde rot und verlegen wie ein junges Mädchen.
„Hm, drei Semester ist ja nicht viel. Und jetzt karren Sie Schrott am Martinofen? Wie gefällt Ihnen denn das?" In Ton und Miene des Stahlwerkleiters lag etwas, das Sukrow nicht zu definieren vermochte, das ihn aber gleichviel reizte. Wollte dieser Typ eines Herrenmenschen nur seine Neugierde befriedigen, ihn noch gar verhöhnen? All seine Selbstbeherrschung zusammennehmend antwortete er daher:
„Ich kam eigentlich hierher, um Kohlenhauer zu werden. In Berlin hieß es, im Ruhrgebiet herrscht großer Mangel an Bergarbeitern. Ich wurde hier aber eines anderen belehrt, man nahm mich nicht mal als Übertagearbeiter an. Da war ich, weil mir das Rückreisegeld fehlte, gezwungen, als einfacher Handlanger Arbeit anzunehmen, denn ich sagte mir: Arbeit schändet nicht!" Wollen Sie nicht lieber hier im Stahlwerkslaboratorium arbeiten?" fragte Dr. Grell.
Der junge Mann musste ein wenig geistreiches Gesicht machen, das jener für eine Ablehnung halten konnte.
„Wenn Sie aber lieber bei der Karre bleiben, habe ich natürlich auch nichts dagegen. Ich dachte nur, dass es Ihnen als gebildetem Menschen doch angenehmer sein müsse. Sie hätten hier die beste Gelegenheit, sich analytisch weiterzubilden."
„Entschuldigen Sie, Herr Doktor, es kam mir nur etwas überraschend, natürlich..."
„Also einverstanden? Gut! Kommen Sie morgen früh einhalb acht hierher. Aber natürlich müssen Sie sich ein bisschen anziehen. Einen Kragen umbinden. - Sie haben doch noch einen anderen Anzug? Ich gebe Ihnen vorläufig siebenhundert Mark Monatsgehalt. Und dann auf Wiedersehen!"
Das war alles so plötzlich gekommen, dass er wie betäubt an seinen Platz zurückkehrte. Aber allmählich brach in seinem Innern lauter Jubel auf. „Glück muss man haben", frohlockte es in ihm, „und Ausdauer und Selbstvertrauen" setzte er noch hinzu. Mit einer Art Andacht beendete er seine Nachmittagsarbeit. Er musste in dieser Stimmung unbedingt jemand haben, mit dem er sich aussprechen konnte. Da Grothe noch nicht zu Hause war, lenkte er seine Schritte nach Hasdrubal hinaus. Ruckers wusch sich gerade in der Küche, wobei er seinen Brösel rauchte:
„Nanu, du machst ja ein Gesicht, als ob du das große Los gewonnen hast", begrüßte er den jungen Mann.
„So etwas Ähnliches ist es auch", antwortete dieser vergnügt und erzählte, sich auf einen Schemel niederlassend, das Vorgefallene. Zu seinem großen Befremden sagte Ruckers gar nichts, sondern paffte nur dicke Qualmwolken, wie er es immer tat, wenn er in seinem breiten Schädel Gedanken wälzte.
„Na, und du sagst gar nichts dazu?" drängte der Besucher ungeduldig.
„Was soll ich dazu sagen? Was wird denn nun aus deinem Kohlenpicken und der Wiederaufbauarbeit?"
Sukrow war beleidigt. „Man kann beim Wiederaufbau helfen auch ohne Kohlenpicken und Schrottkarren. Ich weiß nicht, was du dir für eine Vorstellung von einem Betriebslaboratorium machst? Nehmen wir nur die Brennstofffrage. Im Laboratorium werden Kohle, Heizgase und andere Brennstoffe auf ihren Heizwert untersucht und demgemäß eingesetzt. Durch rationelle Wärmetechnik werden ungeheure Mengen Kohle erspart."
Das war schon wieder ganz der junge Akademiker, der von der Warte seiner Bildung herab anderen Belehrung gab. Ruckers knurrte verstimmt:
„Na, dann untersuch man tau! Vielleicht bringt ihr es eines Tages noch so weit, dass die Kumpels ganz zu Hause bleiben können."
Als er aber des anderen bestürztes Gesicht sah, lenkte er wieder ein:
„Nichts für ungut, wenn ich dir solche dämliche Antwort gebe, aber ich habe heute auch alle Ursache zur Wut." Und dann erzählte er die Vorfälle, die sich auf Zeche „Beate" bei der Ausfahrt der Vormittagsschicht ereignet hatten.
Entgegen der Anordnung der Zechenleitung, eine halbe Überschicht abzuleisten, erzwangen die Bergleute nach der siebenten Stunde die Ausfahrt. Auf Anordnung des Direktors, der den Maschinisten fortschickte, blieb aber der Förderkorb auf halber Höhe im Schacht stehen. Den bereits ausgefahrenen Arbeitern war es nicht möglich, ihren eingeschlossenen Kollegen Hilfe zu bringen, da ein unfachgemäßes Berühren der Fördermaschinerie unabsehbares Unglück bringen konnte. Anderthalb Stunden hingen die Arbeiter in ihren dünnen Arbeitskleidern im zugigen Schacht, ehe man sie ans Tageslicht ließ. Als sie nach oben kamen, hatte sich der vorsorgliche Direktor bereits mit Sicherheitswehr umgeben. Zum Protest dagegen war die gesamte Belegschaft in den Streik getreten.
„Das sind die vielgerühmten Freiheiten in dieser famosen Republik, dass man die Arbeiter bereits mit Gewalt in der Grube festhält", beendete Ruckers seinen Bericht.
„Das ist in der Tat unerhört, das ist ja Freiheitsberaubung und müsste angezeigt werden", sagte Sukrow entrüstet.
Der Bergmann lachte höhnisch auf. „Bildest du dir ein, dass ein deutscher Richter Herrn Direktor Buchterkirchner wegen Freiheitsberaubung verurteilen wird? Das Auftreten der Polizei zeigt ja doch von vornherein, auf wessen Seite die Staatsgewalt steht. Eine Versammlung der Streikenden wurde von der Polizei sofort ohne weiteres auseinandergejagt. Das verstößt auch gegen gesetzliche Bestimmungen über das Koalitionsrecht; aber was macht das schon?"
„Ja, aber der Verband, was sagt denn der dazu?" fragte Sukrow ganz außer Fassung.
„Ich gehe eben zu einer Sitzung der Schachtvertrauensleute. Aber viel mehr als eine schöne Resolution wird dabei nicht herauskommen. Reese hat bereits telephonisch mitgeteilt, dass ein Solidaritätsstreik unter keinen Umständen sanktioniert wird, da das Überstundenabkommen von den Gewerkschaften gebilligt, die Kumpels also im Unrecht seien. Das stimmt aber gar nicht mal, denn auf ,Beate´ ist die Mehrzahl in der ,Union', die am Abkommen nicht beteiligt ist."
„Das wäre auch egal, bis zur Freiheitsberaubung dürften sie es aber unter keinen Umständen kommen lassen."
„Na siehste, das begreifst du sogar", polterte Ruckers und zog sich die Jacke wieder an.
Da niemand weiter im Hause war, ging Sukrow mit, um sich die besetzte Zeche einmal von der Nähe anzusehen. Es war bereits dunkel, als er über die Ratinger Straße kam. Überall standen in kleinen Gruppen Kumpels, teils finster schweigend, teils leidenschaftlich diskutierend. Ein Teil der Ladengeschäfte hatte bereits vorsorglich die Jalousien herabgelassen. Hinter den Gittern äugten die ängstlichen Gesichter der Geschäftsinhaber. Eine Sipo-Patrouille, vier Mann mit Karabiner und schussfertiger Maschinenpistole, bahnte sich, die Mitte des Fahrdammes haltend, ihren Weg durch die Menge. Langsam nur wichen die Kumpels zur Seite. Hassfunkelnde Augen und halblaute höhnische Zurufe folgten ihnen. Das Portal der Tonhalle war im großen Bogen durch eine doppelte Kette „Grüner" abgesperrt.
„Was ist da drin denn los?" fragte Sukrow einen der herumstehenden Bergarbeiter.
„Machen Sie, dass Sie weiterkommen! Hetzen Sie hier die Leute nicht auf!" krähte plötzlich hinter ihm eine Stimme. Zugleich erhielt er einen Stoß, dass er gegen einen Laternenpfahl flog.
In der Lichstraße, wo das Zechengebäude der "Beate" lag, flutete ihm schon eine, die ganze Straßenbreite einnehmende, aufgeregte Menge entgegen. Man hörte Schreien und Johlen, irgendwo klirrte eine Scheibe. Er drückte sich in eine Hausflurnische, um nicht vom Strom der Flüchtenden mitgerissen zu werden. Die Ursache der Panik waren sechs berittene Sipo. Hinter ihnen eine doppelte Kette von Fußmannschaften, mit Kolben oder aufgepflanztem Bajonett. Plötzlich ein harter Ruf: „Straße frei!"
„Bluthunde!" „Bluthunde!" echote es von den Wänden der engen Straße.
Die Berittenen spornten ihre Gäule hochauf in die Massen. Im Zwielicht der Laternen sah man Klingen auf und nieder blitzen. Gellende Aufschreie zeugten von Getroffenen. Dunkle Knäuel wälzten sich unter den Pferdehufen.
Während die Vorderen vergeblich Schutz vor den Säbeln und Hufen suchten, drängten die Hinteren mit wütendem Trotz nach vorne.
„Standhalten! Nicht ausrücken, Kumpels!"
Plötzlich ein johlendes Freudengeheul. Ein Pferd war auf dem schlüpfrigen Pflaster zu Fall gekommen, im Sturz seinen Reiter unter sich begrabend. Ein schwerer Bergarbeiterstiefel stampfte dem Hilflosen mehrmals auf die noch den Säbelgriff umklammernde Hand. „Bluthund - Mörder - Kapitalsknecht!"
Jetzt stürmten die Fußmannschaften. Vor dem blanken Stahl der Bajonette stob die eingekeilte Menge auseinander. Gleichzeitig knallten Schüsse.
Sukrow zitterte am ganzen Körper. Wohl hatte er in den Januartagen neunzehn in Berlin Zusammenstöße in den Straßen miterlebt. Auch dort wurde geschossen, aber von beiden Seiten. Hier aber handelte es sich um wehrlose Arbeiter, die nichts weiter wollten, als von ihrem gesetzlichen Koalitionsrecht Gebrauch zu machen.
„Pah, Gesetz und Verfassung! Die hat ja Ebert mit dem § 48 außer Kraft gesetzt. Eine Kleinkaliberkugel hat mehr Durchschlagslogik als alles Papier", hatte Grothe gesagt. Das sah man hier, wo die Sicherheitssoldaten sich nicht allein damit begnügten, die Massen zu zersprengen, sondern auch noch die am Boden Liegenden misshandelten und die Flüchtenden bis in die Häuser hinein verfolgten.
Bei der Räumung des Hausflurs, in den sich Sukrow geflüchtet hatte, ging es besonders brutal zu. Mit Fausthieben und Kolbenstößen wurden die Leute auf die Straße getrieben. Ein Sipo drehte einem Mann, der sich vergeblich auf sein künstliches Bein berief, den Arm auf den Rücken, dann stieß er ihm ein paar Mal mit dem Knie ins Kreuz, dass der Krüppel wie ein Bündel zur Erde klatschte.
„Pfui, du Schweinehund, einen Krüppel zu misshandeln!"
Ein weit ausholender weiblicher Arm beschrieb zweimal einen großen Bogen. Zwei kräftige Ohrfeigen klatschten in das Gesicht des verdutzten Ordnungshüters. Sukrow erkannte zu seiner Überraschung in der schlagfertigen Person Mâry Ruckers.
„Mâry, Sie hier? Um Gottes Willen, kommen Sie, man schießt scharf." Instinktiv hatte er ihren Arm ergriffen, und sie in eine Seitengasse mit fortgezogen.
„Wie kommen Sie denn hierher in diesen Tumult", fragte er, als sie den Auflauf im Rücken hatten.
„Jedenfalls genauso wie Sie, das heißt, ich kam aus dem Geschäft", antwortete sie, noch ganz außer Atem.
Sukrow, der noch immer ihren Arm in dem seinen hatte, fühlte, wie sie zitterte.
Sie fliegen ja förmlich", sagte er, besorgt ihre Hand ergreifend. In der anderen hielt sie ihr verbeultes Hütchen. Beim Laternenlicht fand er sie mit dem zerzausten Haar, den geröteten Wangen und den blitzenden Augen plötzlich hübsch.
„Da soll man sich nicht aufregen, wenn man solche Gemeinheiten gegen Wehrlose sieht? Ob diese Kerle wohl im Kriege auch so tapfer waren? Aber wenigstens hat er ein paar ordentliche Schellen gekriegt."
„Unter Brüdern war wohl jede zwei Pfund schwer", pflichtete Sukrow bei.
Jetzt lachten beide.
„Und wenn der Sipo nun Sie niedergeschossen hätte?" Mary lachte verächtlich. „Ich wäre nicht das erste Weib, dem das in dieser wunderbaren Republik passierte."
Mittlerweile waren sie bis zur Ratinger Straße gekommen.
„Darf ich Sie nach Hause begleiten?" fragte er. „Wenn es Ihnen bis zu uns hinaus nicht zu dreckig ist? Aber dann nicht so", sagte sie, und mit energischem Ruck zog sie ihren Arm aus dem seinen.
Er lief brav wie ein Hündchen neben ihr her und erzählte von dem, was er bereits von ihrem Vater erfahren hatte. Sie zeigte sich politisch gut unterrichtet. Im Kreise ihrer Familie war sie scheu und befangen. Hier aber auf der Straße plauderte sie in ihrem melodischen rheinischen Dialekt drauflos, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Als der junge Mann von der Veränderung seines Arbeitsverhältnisses erzählte, gratulierte sie, was er doppelt wohltuend empfand.
„Ich wunderte mich schon immer, dass Sie diese Arbeit so aushalten. Das muss Ihnen doch schwer ankommen, da Sie es nicht gewöhnt sind", sagte sie teilnehmend.
„Mir blieb ja letzten Endes nichts weiter übrig - und da wollte ich eben, weil ich musste! Aber Ihnen, Mary, kann ich es ja im Vertrauen sagen, manchmal stand es mir schon bis hier heran", antwortete er ehrlich. „Vor allem bin ich glücklich, nun wieder als Chemiker arbeiten zu können. Wenn ich mal mein Studium wiederaufnehmen kann, wird mir diese Praxis sehr zustatten kommen."
„Da werden wir Sie wohl bei uns in Hasdrubal bald am längsten gesehen haben", bemerkte sie.
„Wieso denn das?"
„Nun, das ist doch unausbleiblich. Sie kommen wieder in andere Verhältnisse, verkehren mit Ihresgleichen und..."
„Und schäme mich dann Ihresgleichen, was? - Aber Mâry, halten Sie mich für so borniert? Ich werde glücklich sein, wenn ich weiter zu Ihnen hinauskommen darf. Nicht nur aus Dankbarkeit Ihrem Vater und Ihrer Frau Mutter gegenüber, die mich wildfremden Menschen hier ja wie ihren Sohn aufgenommen haben. Die schönen Abende bei Ihnen sind mir ein Lichtblick gewesen. Wollen Sie mir das glauben?" - Er war stehen geblieben, hatte ihre Hand ergriffen und sah sie an.
„Wenn Sie es so sagen, muss ich's glauben", lächelte sie.
„Ü berhaupt ist mir Ihre Gesellschaft so lieb geworden. Ich käme gern öfter zu Ihnen", fuhr er fort.
„Dann kommen Sie doch, Sie bleiben ja jetzt so oft aus!"
Sukrow schluckte. „Ich möchte nicht unbescheiden sein. "Mache dich selten im Hause deiner Freunde, dass sie dir nicht gram werden', sagt Salomo. Aber wenn ich Sie mal abends vom Geschäft —"
" Da muss ich gleich nach Hause", fiel sie ihm ins Wort.
„Aber sonntags?"
Eine Weile ging sie schweigend, den Blick gesenkt, neben ihm her. War er zu weit gegangen, war sie beleidigt? -
Sonntags muss ich auch spätestens um neun Uhr zu Hause sein", sagte sie dann leise.
„Nanu, Sie sind doch über zwanzig, ist denn Ihr Vater so streng?"
„Ja, das ist er auch", kam es mit einem bitteren Unterton zurück.
„Dann können wir doch mal nachmittags ein bisschen weggehen. Nächsten Sonntag?"
„Wenn Sie damit zufrieden sind", antwortete sie und blickte ihn verstohlen von der Seite an. |
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