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Karl Grünberg - Brennende Ruhr (1928)
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18. KAPITEL

Während die auf dem Rückzug befindlichen Rotarmisten in zugigen Scheunen hausten, saßen die guten Bürger von Buldingrath ungekränkt in ihren warmen Stuben und tuschelten.
Die Roten gingen zurück! Das bedeutete Ende des Ruhrkrieges und damit Ende aller Einquartierungen, Scherereien und Requisitionen! Ordnung und Ruhe kehrten wieder, und verstohlen überschlug man bereits, welche Schadenersatzforderungen man an die Regierung stellen könne.
Der Bürgermeister hatte ausdrücklich um Stellung von Straßenpatrouillen ersucht, da er von den finster blickenden Arbeitersoldaten nichts Gutes erwartete. Sukrow hatte einen ganzen Zug dazu bestimmt und einen weiteren mit Kompanieführer Schulz auf Feldwache geschickt.
Ruckers war noch denselben Abend nach Swertrup zurückgefahren, um die Anfuhr der Transportautos zu beschleunigen. Die Zweifel des Alten hatte auf Sukrow immerhin einigen Eindruck gemacht, so dass er den Posten größte Aufmerksamkeit einschärfte und Befehl gab, ihn bei verdächtigen Vorkommnissen sofort zu wecken. Dann hatte er sich, todmüde von den Aufregungen, ohne die Stiefel auszuziehen, in der für den Stab beschlagnahmten Gasthofstube auf einer Strohschütte niedergelegt.
Draußen wütete der Sturm mit aller Heftigkeit. Die Luft war erfüllt von Fauchen, Heulen, Stöhnen und Poltern. Ein richtiges Wetter für einen Überfall, dachte er, noch bevor ihn die Müdigkeit bezwang.
Er hatte das Gefühl, sich eben erst niedergelegt zu haben, als man ihn heftig beim Fuße zog; zugleich blendete ihn Laternenschein. Vor ihm stand die kleine Ordonnanz Küpper mit verstörtem Gesicht.
„Genosse Sukrow, das Militär rückt uns nach!"
Er sprang mit beiden Beinen empor, griff taumelnd nach Pistolengurt und Kartentasche.
„Wir beobachten schon die ganze Nacht, dass man hinter uns mächtig viel Leuchtkugeln abschießt. Jetzt aber leuchten sie dauernd mit einem Scheinwerfer herüber nach der Stadt", fuhr der Kleine aufgeregt fort.
Sie waren ins Freie getreten. Der Sturm hatte sich gelegt, aber es war empfindlich kalt. Ein fahlgelber Saum am östlichen Horizont kündete den nicht mehr fernen Morgen an. Im Norden geisterten noch immer die Leuchtkugeln über der Heide. Irgendwo krähte ein verschlafener Hahn, sonst war es still.
„Wie spät ist es eigentlich?" fragte Sukrow; seine eigene Armbanduhr hatte er aufzuziehen vergessen. Zur Linden, der eben um die Ecke kam, gab die Antwort.
„Was, gleich fünf Uhr? Warum habt ihr mich nicht eher geweckt, wenn euch was Verdächtiges vorkam? Wo ist Schulz?"
„Er ist mit fünf Mann auf Kundschaft nach dem Kalvarienberg und hat mir währenddessen die Wache übertragen. Da drüben ist es nicht geheuer, da... da ist es wieder!"
Irgendwo hinten in der finsteren Heide blitzte ein Licht auf, und dann tastete ein weißer Riesenarm gespenstisch das Gelände ab.
„Das kann nur auf dem Kalvarienberg sein, also sind sie über die Lippe gekommen", sagte zur Linden. „Sollen wir Alarm blasen?"
„Ich glaube das noch nicht, wir wollen doch warten, bis Schulz zurückkommt, unsere Leute sind müde genug", wehrte Sukrow ab.
„Heut' ist erster April, vielleicht macht Herr Watter nur einen kleinen Aprilscherz..."
Der Bergarbeiter brach plötzlich ab, der Morgenwind trug ganz deutlich Gewehrgeknatter herüber.
„Das ist Schulz, der muss auf was gestoßen sein", rief zur Linden und zog ohne weiteres seine Pfeife.
Aber es hätte nicht erst des Alarmsignals bedurft. Über dem Buldingrather Kirchturm erschienen plötzlich weiße Wolkenknollen, in denen es feurig aufzuckte. Bautz - bautz - bautz - bautz!
Klirrend schlugen die Schrapnellkugeln auf die Dachziegel. Zugleich stiegen längs der Landstraße pechschwarze Rauchfontänen aus der Erde; zwei, drei... und dann noch eine vierte! Dumpf rollten die Geschützeinschläge durch das schlafende Städtchen.
Aus den Hoftoren stürzten schreckverstörte Arbeitersoldaten hervor, die Kleidung noch voller Halme. Viele ohne Gewehre, einige, die die Stiefel ausgezogen, barfuss oder auf Strümpfen. Laut jammernde Bürger flüchteten in Nachtkleidung in die Keller.
„Wir sind verraten, die Noskes brechen die Abmachung", schrie es durcheinander.
Nicht flüchten, stehen bleiben, sammeln!" rief Sukrow, sich einem flüchtenden Trupp entgegenstellend, aber seine Stimme hatte jede Autorität verloren. Ein Stoß warf ihn rücklings über ein Maschinengewehr zu
Boden.
Am Nordostrande der Stadt musste schon gekämpft werden. Man hörte Knattern der Gewehre und das harte Pochen der Maschinengewehre.
Aus einer Seitenstraße drang unter Führung Einzels jetzt ein leidlich geordneter Trupp von dreißig Mann, der mit seinem Maschinengewehr an der Straßenecke in Stellung ging.
Alles auf mein Kommande hören! Den Friedhof besetzen !" schrie Sukrow, die Hände als Schalltrichter benutzend, und ergriff zwei der schweren Patronenkästen. Durch einen Hof hindurch gelangten sie unangefochten zu dem hoch auf einem überragenden Hügel gelegenen Friedhof, der mit seinen festen Feldsteinmauern einen, strategisch wertvollen Stützpunkt darstellte. Hierher zogen sich alsbald weitere, teils kämpfende, teils flüchtende Gruppen zurück. Bald tackten auch ihre Maschinengewehre dem in Richtung der Rückzugsstraße vorstoßenden Militär in die Flanke, so dass es gegen das kleine Fort Front machen musste.
Aber die Weißen hier hatten genügend Artillerie zur Hand, die alsbald ein vernichtendes Feuer gegen dieses bequeme Ziel eröffnete. Laut aufbrüllend fuhren die Granaten in das dichte Geäst der alten Ulmen und Trauerweiden.
Der Jesuskörper des hochragenden Kreuzes am Eingang wurde gleich von einer der ersten Granaten heruntergerissen. Einen Augenblick lehnte der sterbende Menschensohn an der Gittertür, als wollte er weiterem
Verderben Zutritt verwehren, ehe ihn ein Volltreffer in Stücke schlug.
Und immer wieder heulte es heran. Die Gräber öffneten sich unter dem wütenden Biss der Granaten, als wäre nicht genug lebendes Gebein zu zermalmen. Erdbrocken, Äste, blutige Menschenglieder und halbverfaulte Fetzen längst Verstorbener wirbelten in diesem Höllenorkan durcheinander und dazwischen Stücke von Grabkreuzen mit der Inschrift: „Hier ruht unter dem Schutz der göttlichen Jungfrau..."
Wohl eine halbe Stunde lang trommelte die Artillerie gegen den Friedhof. Der Turm des Feldsteinkirchleins sprang mit dumpfem Knall auseinander, eine dicke Wolke weißen Kalkstaubs mischte sich mit dem schwärzlichen Qualm der krepierten Geschosse, die Stätte des Grauens in einen wohltätigen Mantel hüllend.
Dann setzten die Soldaten zum Sturm an! -
Das Bombardement des Friedhofes hatte das Sperrfeuer von den Rückzugsstraßen abgelenkt, was die noch in der Stadt befindlichen Rotarmisten zum Zurückfluten benutzten. Die Wut über den heimtückischen Überfall war wilder Verzweiflung gewichen. Ein großer Teil hatte bereits die Waffen fortgeworfen, um so schnell wie möglich aus dem Bereich des mörderischen Feuers zu kommen. Das Stabsauto, mit Flüchtenden bis zum Brechen überfüllt, bahnte sich fortwährend hupend einen Weg.
Am Straßengraben standen drei schussfertige Maschinengewehre, die Grothe mit vieler Mühe bis hierher durchgebracht hatte, dann waren ihm die Leute plötzlich davongelaufen.
„Halt!" brüllte er mit heiserer Stimme und richtete, den Finger am Abzug, ein MG drohend auf das Auto, so dass der Führer erschrocken bremste.
„Sofort alles aussteigen, sonst schieß' ich euch augenblicklich zusammen!"
„Hier die MG und Patronenkästen aufgeladen", kommandierte er, als die Arbeiter absprangen, „dann noch die Verwundeten hinzu. Das Auto wartet am Dorfeingang von Welkum. Wir gehen zu Fuß und decken den Rückzug!"
So gelang es ihm nochmals, eine Gruppe von zwanzig Mann zusammenzuraffen, mit der er bis zu dem eine halbe Stunde entfernten Dorf gelangte. Hier hatten die Flüchtenden inzwischen alles, was an Wagen, Pferden und Fahrrädern aufzutreiben war, requiriert und sich damit davongemacht.
Das Auto mit den Maschinengewehren stand unversehrt am Dorfeingang. Grothe wollte seinen Augen kaum trauen: Auf dem Fahrersitz stand hochaufgerichtet, einen Karabiner in der Hand, eine schlanke Mädchengestalt.
„Mary? Mordsmädel, du hier? Was machst du denn
da?"
„Ich passe auf deine MG auf. Ohne mich lägen die schon längst im Graben, und dein Auto wäre futsch", entgegnete sie, als handle es sich um die einfachste Sache
der Welt.
Ein Mann mit einem Fahrrad sauste vorüber, rief ein
paar unverständliche Worte.
„Ich verstand was von Kavallerie", sagte der Chauffeur, der soeben den Motor wieder anließ.
„Dann sind wir verloren und die anderen da vor uns auch", sagte Grothe, erbleichend nach dem Feldstecher greifend. Deutlich erkannte er zwischen den Bäumen der Chaussee wiegende Pferdeleiber und darüber flatternde blau-weiße Lanzenfähnchen.
Sein Gesicht bekam einen Ausdruck verzweifelter Entschlossenheit.
„Raus mit den Maschinengewehren! Einen Tod können wir nur sterben, er soll den Kappisten teuer zu stehen kommen! Wer sich nicht feige abschlachten lassen will, bleibt bei mir und hilft den Rückzug der anderen decken."
Und zu dem Chauffeur gewendet: Du bringst die Verwundeten weg. Mary, du nimmst den Karabiner mit und sorgst dafür, dass euch keiner anhält. Bleibt auch nicht in Swertrup, sondern macht, dass ihr über die Grenze ins besetzte Gebiet kommt."
„Ich bleibe bei dir, Max", antwortete Mary. Ihre Augen flackerten freudig auf.
Da brüllte er sie an. „Du gehst, verdammt noch einmal, mach, dass du wegkommst, du hältst uns hier nur auf!"
„Geh doch, Mary", flehte er,als sie keine Miene machte, in den bereits langsam anlaufenden Wagen zu steigen. „Dein Platz ist bei den Verwundeten, also beeile dich, wir treffen uns wieder in Swertrup."
„Nein, Max, ihr kommt nicht wieder, das weiß ich, und darum bleibe ich! Ihr werdet ja auch Verwundete haben. Und zur Not weiß ich auch mit der Waffe Bescheid!"
Sie winkte dem Chauffeur, der es sich nicht zweimal sagen ließ und mit Vollgas davonschoß.
Ein wunderbarer Selbstverleugnungsgeist war über die kleine Schar gekommen. Siegte die eigene bessere Einsicht? War es das mutige Beispiel des jungen Führers? Oder wollten sie sich an Tapferkeit nicht von dem jungen Mädchen beschämen lassen?
Die bayerischen Ulanen, die geglaubt hatten, ohne Widerstand das Dorf auskehren zu können, rissen entsetzt ihre Pferde herum, als ihnen aus nächster Nähe eine volle Lage entgegenprasselte.
Links vom Straßenrand lag ein einstöckiges Haus, anscheinend zu der in der Nähe gelegenen Ziegelei gehörig. Ein junger Obstgarten mit einem neuen Zaun aus Drahtgeflecht umgab es von drei Seiten. Rückwärts stieß der Garten an einen Elsenbruch, in dem die Frösche quakten. Hierhin zog sich Grothe mit seinem Häuflein zurück, als die abgesessenen Kavalleristen, verstärkt durch Infanterie mit Maschinengewehren, in Schwarmlinie wiederkamen.
Die Bewohner des Hauses waren geflüchtet, und die Arbeiter verbarrikadierten mit Möbeln, Betten und Matratzen Türen und Fenster. Grothe selbst postierte die Maschinengewehre derartig, dass sie die Straße und die ganze Umgegend beherrschten. Sie waren außer dem Mädchen noch siebzehn Mann.
Hinter Zäunen, Hecken und Bäumen hervor begannen die Soldaten das Haus unter Feuer zu nehmen, ohne dass es ihnen gelang, die tapfere Besatzung niederzukämpfen. Angstvoll lauschten die Dorfbewohner dem wütenden Gekläff der Maschinengewehre, die mit ihren Geschoßgarben die armselige kleine Festung zerfetzten. Aber immer wieder, wenn man längst schon glaubte, dass die Belagerten zum Schweigen gebracht waren, knallte es aus irgendeiner Luke, tackerte ein Maschinengewehr Antwort, und die Ambulanzen auf dem Grasplatz hinter dem Ziegelofen hatten alle Hände voll zu tun.
Ein bayerischer Hauptmann raste vor Wut. Gegen zehn Uhr vormittags beorderte er seine Mannschaften auf den Grasplatz und hielt ihnen folgende Rede:
„Ihr wollt Soldaten sein und lasst euch auf eine stundenlange Belagerung mit ein paar Spartakisten ein? Arschlöcher seid ihr durch die Bank! Mit zwanzig solchen Kerlen, wie sie da drin sitzen, schlage ich euer ganzes Bataillon in die Flucht. Jetzt hört mir aber das blöde Geknalle auf, dazu sind die Patronen zu teuer. Ich werde euch schon die Nasen aus dem Dreck bringen! Jetzt wird gestürmt, verstanden? Und wer mir kehrt macht, ehe er da drüben seine Handgranaten abgeladen hat, dem schieße ich eine Kugel in den Arsch."
Die jungen Soldaten blickten scheu auf die Handgranatenkisten, aus denen man ihnen die Koppel spickte. Ein paar ältere, die in den Trichtern vor Verdun und in den Argonnen mitgekämpft hatten, sahen herausfordernd drein, als wollten sie sagen: „Hannemann, geh du voran!" Der Hauptmann verstand diesen Blick und warf sich kurz entschlossen selber einen Sturmsack mit Handgranaten über die Schulter.
Als die Uhr der Dorfkirche zehn ausgeschlagen hatte, brachen die Stoßtrupps aus ihren Deckungen mit lautem Hurra hervor. An der Spitze lief, mit seinen weitaufgeblähten Breeches wie ein Känguruh aussehend, die Wurfgranate über den Kopf schwingend, der Hauptmann.
Hinter den zerfetzten Wänden blaffte und ratterte es trotzig auf! Noch ehe der Hauptmann die Hälfte der Distanz durcheilt hatte, fiel er vornüber auf das Gesicht, während er die Füße mit den komischen Reithosen krampfhaft nach oben warf.
Unschädlich explodierten alle geworfenen Handgranaten weit vor dem Ziel... und bald war das Schussfeld wieder klar, bis auf die noch immer gegen die Sonne gerichteten Reithosen und einem halben Dutzend weiterer regungsloser Uniformbündel.
Da zog der kommandierende Offizier seine Leute auf einen entfernteren Feuerring zurück und schickte nach einem Minenwerfer. -
Mut steckt ebenso an wie Feigheit. In der Hitze des Gefechts lassen sich auch oftmals solche Menschen zu Mut und Todesverachtung hinreißen, deren stärkste Seite die Tapferkeit sonst nicht ist. Aber in einem umzingelten Hause, ohne jede Aussicht auf Entsatz oder Pardon stundenlang untätig zu sitzen und dabei genau zu wissen: Ehe die Sonne untergeht, ist alles vorbei... dazu gehört mehr als landläufige Tapferkeit.
Die vierzehn Männer, die in dem belagerten Hause noch atmend auf den Tod warteten, hatten ihm sowohl auf den Schlachtfeldern des Weltkrieges wie tief unter der Erde im Kampf mit den Gewalten der Tiefe oft genug ins Auge geblickt.
Die Soldaten hatten ihnen aus ihren Deckungen heraus die fürchterlichsten Drohungen und die Mitteilung von dem angeforderten Minenwerfer zugerufen. Was das bedeutete, verstand jeder, aber auch so gab sich keiner einer Illusion über die Ausweglosigkeit seiner Lage hin. Wasser für die gleichermaßen durstenden Menschen und Maschinengewehre gab ja der im Flur liegende Saugbrunnen, und gegen den Hunger fand sich neben Brot ein großer Vorrat gelber Rüben. Aber noch ein solcher Angriff... und die letzte Patrone flog hinaus.
Inmitten des Hauses befand sich unter einer Falltür ein finsteres, feuchtes Kohlenverlies. Hierher hatte man vor den ständig durchschlagenden Kugeln den Kommandeur, dem ein Geschoß das rechte Schultergelenk zerschmettert hatte, in Sicherheit gebracht. Auf einem Lager von alten Kleidungsstücken lag er langausgestreckt, seinen Kopf hatte Mâry in ihren Schoß gebettet.
Auf seine Anordnung stellte man nach dem abgeschlagenen Angriff überall starke Beobachtungsposten, während die anderen sich für den noch schweren Endkampf ausruhen sollten. Einer nach dem anderen tappte die gebrechliche Leiter hinab. Kaum einer sprach ein Wort. Auf Stühlen und Kisten hockten sie umher. Das flackernde Licht einer rußenden Petroleumfunzel ließ die fahlen, eckigen Gesichter noch fahler und eckiger erscheinen.
Eine bleierne Erschöpfung war über alle gekommen, aber kein Schlaf senkte sich auf die müden Lider. Jeder fühlte, dass die Gedanken der anderen auch nur gleich einem müden Hippodrompferd um den einen verfluchten Punkt kreisten und kreisten! Aber kein Laut der Klage kam über die blutiggenagten Lippen.
Plötzlich wuchs in einer Ecke des Kellers ein laut schlürfendes Geräusch: Schnarchen, das so komisch klang, dass alle in ein lautes Lachen ausbrachen.
„Was ist denn los, warum lacht ihr denn so?" fragte der Aufgewachte mit noch ganz benebelter Stimme.
„Nun habt ihr ihn wach gemacht. Schlaf ruhig weiter, mein armer Prüm, die Noskes dürfen dir nichts tun", antwortete eine väterliche Stimme, so dass neues Lachen den Raum erschütterte.
Grothe verzog schmerzlich sein Gesicht. „Kinder, macht nicht solche Witze, wenn ich lache, ist es mir, als wenn ein Bohrer in meiner Schulter Akkord bohrt."
„Lachen ist besser als die Köpfe hängen lassen und grübeln; lasst uns doch ein bisschen ,labern'", sagte ein Schlesier, die Lampe zurechtschneuzend.
„Da hast du Recht; wenn uns erst die Würmer fressen, ist es mit dem Quatschen sowieso aus", spottete ein anderer.
„Verdammt noch mal, wer reißt da sein dreckiges Maul auf? Sagst du noch einmal solch Wort, schlag' ich dir die Zähne ein", rief Grothe, sich aufrichtend.
Mary zog ihn sanft zurück, und eine Weile war es wieder still.
Dann begann eine fistelnde Stimme. „Ich war vor acht Jahren mit unter den vierzehn Kumpels, die drei Tage lang auf Zeche Radbod eingeschlossen waren. Aber es ist merkwürdig. Damals hatte ich eine fressende Todesangst, obwohl wir die Retter hörten, heute aber bin ich beinahe vergnügt."
„In Frankreich", begann ein anderer, „mussten wir einmal einen Sturmangriff machen. Als es aber soweit war, konnte keiner aus dem Graben heraus, weil jeder, vom Leutnant angefangen, die Hosen abgeknöpft hatte."
„Ich freue mich direkt, dass ich hier mit dabeisein darf, wo ich doch noch höchstens zwei Jahre zu leben habe", fistelte der Schwindsüchtige weiter. „Wie der Hauptmann da seine Luftballonbuxen in die Gegend schmiss..."
Ein alter Häuer, der, den Kopf auf die angezogenen Knie gestützt, zu schlafen versucht hatte, richtete sich aus der unbequemen Stellung empor: „Einen Tod kann man doch nur sterben, das ist wahr. Das Hundeleben, das unsereiner führt, ist kaum wert, dass man darüber spricht. Nur meine fünf kleinen Blagen tun mir leid. Unseren Frauen wird kein Mensch was geben! Wenn das Älteste wenigstens ein Junge wäre, dann könnte er nächstes Jahr schon mit zur Grube gehen."
Er sprach schwer, mit dumpf abgehackten Sätzen. Jedes Wort schien er zwischen den priemgeschwärzten Zähnen erst durchzukauen. Irgendwo fing sich ein Laut wie von einem niedergekämpften Schluchzen.
Ein Jüngerer stand auf. „Euer Gesülze hier kann ja Mensch und Tier verrückt machen! Da gehe ich lieber wieder nach oben. Aber eins sage ich euch noch: Ich habe zwar bloß ein Kind, einen lieben, drolligen Kerl von zwei Jahren. Als ich weg machte, kriegte er gerade die ersten Höschen. Er ist mir genauso viel wert wie dir deine fünfe! Wenn er groß geworden ist, wird er nicht einmal wissen, wie sein Vater ausgesehen hat, aber mit Stolz kann er dann sagen: Mein Vater war damals auch mit dabei... für unsere gute Sache! - Ich tausche jetzt mit keinem!"
„Das war ein richtiges Wort", sagte der Schlesier. „Wenn ich so an die anderen denke, die wir mitnehmen, kommt mir das gar nicht so schlimm vor. Eines ist nur schade: Dass wir hier kein Dynamit haben; für uns, und für die andern da draußen."
„Ich weiß was Besseres, Genossen", nahm der Verwundete das Wort. „Wenn sie uns auch hier das bisschen Leben ausblasen, wenn es ihnen auch diesmal noch gelingt, unsere Bewegungen niederzuschlagen, der Kampf geht deshalb doch weiter. Jede Revolution braucht, ehe sie durchdringt, Misserfolge und Niederlagen. Aber Karl Liebknecht sagte: Die Geschlagenen von heute werden die Sieger von morgen sein! Über Niederlage und Niederlage führt der Weg zum Sieg! Auch aus diesem Kampf wird man lernen. Und unser Blut düngt den Boden, auf dem die endgültige Menschheitsbefreiung, der Sozialismus erwachsen wird!"
Er lehnte sich erschöpft zurück. Eine Weile schien jeder über das Gesagte nachzudenken, dann erklang mit einem Male leise, aber rein, eine Mädchenstimme: „Es ist wunderbar, in diesem Gedanken verliert der Tod alle Schrecken!"
„Du armes Mädel hast auch noch nichts vom Leben gehabt", sagte bedauernd der alte Häuer.
„Aber jetzt habe ich doch was, und das allein lohnt schon, gelebt zu haben", rief Mary.
„Gehen wir lieber wieder nach oben an die Sonne; hier fällt uns doch die Decke auf den Kopf", schlug der Alte vor. Einer nach dem andern krabbelten sie wieder die Leiter empor. „Aber keine unnütze Knallerei", rief ihnen Grothe noch nach.
„Bleibe bei mir, Mâry", flüsterte er, als sie eine Bewegung machte, als ob sie aufstehen wolle.
„Wie ist dir jetzt, Max?" fragte sie, sich niederbeugend, seine heißen Wangen streichelnd.
„Besser, meine Gute, nur schmerzt mich der Gedanke, dass ich untätig in diesem verfluchten Loch liegen muss, uns nicht verteidigen kann, wenn die Noskehunde eindringen", antwortete er bitter.
Sie schmiegte sich eng an ihn. Plötzlich fühlte er etwas metallisch Kaltes in der Hand. „Nicht lebendig, Max!"
Er verstand und drückte sie mit dem gesunden Arm an sich, bis seine Wunde schrie.
Sie presste ihre Lippen lang auf die seinen.
„Wie gut war es doch, Liebster, dass ich dir nicht gehorchte und hier blieb. Jetzt würdest du mutterseelenallein in diesem Keller liegen."
„Und du hast keine Angst vor dem großen Nichts, das da vor uns steht?"
Eine Weile war es still,... dann fielen zwei dicke heiße Tropfen auf sein Gesicht.
Sie führte seine Hand auf ihr Herz. „Wenn es schneller schlägt, so ist es nur die Freude, Max, diese Stunde noch mit dir teilen zu dürfen, die letzten vierzehn
Tage waren doch die schönsten in meinem ganzen Leben."
Da zog er sie erschauernd zu sich nieder.
Noch ehe der Minenwerfer herangebracht werden konnte, war es einem Stoßtrupp von sechs Mann gelungen, sich an die Rückseite des Hauses heranzuarbeiten.
Der dort postierte Mann erwachte aus seinem Halbdämmer nur, um im nächsten Moment von der geballten Ladung in Stücke gerissen zu werden. Die durch alle Fenster und Türen geschleuderten Handgranaten vollendeten dann in wenigen Minuten ihr Vernichtungswerk. Wandflächen stürzten ein, Decken prasselten nieder, und was dann noch von den im Hause Befindlichen ein Lebenszeichen von sich gab, wurde von den durch schwere Verluste und reichlichen Alkoholgenuss erbitterten Söldnern mittels Kolben, Seitengewehr und Schüssen schnell zum ewigen Schweigen gebracht.
Dann schleifte man die teilweise bis zur Formlosigkeit zerrissenen Leichname auf den Hof.
Ein junger Zeitfreiwilliger stieß mit dem Absatz nach einem nur noch an Fleischfetzen baumelnden Kopf. „Ihr Hunde schießt mir meinen Hauptmann nicht noch einmal tot", knirschte er mit glasigen Augen.
„Schade", sagte gedankenvoll ein Offizier beim Anblick der Toten, „wir hätten sie doch lieber aushungern und dann zum Anschluss an uns bewegen sollen. Solche tapferen Kerle fehlen uns; daran dürft ihr euch ein Beispiel nehmen!"
Das war die einzige Leichenrede auf die namenlosen Helden von Welkum, bevor man sie in einem flüchtig aufgeworfenen Massengrab sang- und klanglos verscharrte.

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