14. KAPITEL
Stehend und mit entblößtem Haupt hörten die Männer den kurzen Nachruf des Vollzugsratsvorsitzenden für die im Kampf gefallenen Proletarier an.
„Aus unserer Mitte hat es den Genossen Kösfeld erwischt. Fehlt sonst noch jemand?"
„Nur noch Genosse Reese", rief der Straßenbahner Schmidt, dessen rechte Hand in einem unförmigen Verband steckte.
„Weiß einer was von Reese? Hat ihn jemand im Kampf wo gesehen?" fragte Jeitner.
„Der und Kampf? - Der sitzt sicher noch im Keller", rief eine Stimme, was auf den ernsten Gesichtern der Arbeitervertreter ein verständnisvolles Grinsen hervorrief.
Ein kleiner, kahlköpfiger Mann, der beide Hände auch beim Sprechen nicht aus den Taschen seines Überziehers nahm, erhob sich.
„Das ist ,Dudo'", raunte man sich gegenseitig zu. Der mysteriöse Kampfleiter mit den rotentzündeten Augenlidern machte in seinem verwahrlosten Äußern den Eindruck, als ob er seit acht Tagen nicht mehr aus den Kleidern gekommen sei.
„Genossen, es ist jetzt noch nicht Zeit, die Toten zu beklagen", begann er mit erhobener Stimme. „Es wird noch mehr Opfer geben, ehe wir unser großes Ziel erreicht haben. Damit es sowenig wie möglich werden, müssen wir wenig reden, aber schnell und entschlossen handeln! Soeben kommen drei Mülheimer sowie eine Rad fahrende Kompanie aus Styrum durch. Von Düsseldorf sind vierzehnhundert Mann unterwegs. Die Swertruper müssen sich anschließen, aber nicht wie eine regellose Hammelherde, sondern straff organisiert und diszipliniert. Ohnedem ist eine Rote Armee nicht denkbar. Vor allem müsst ihr jetzt einen militärischen Führer bestimmen."
„Nehmen wir doch unseren alten Sicherheitsausschuss", schlug einer vor. - Grothe bat ums Wort. „Genossen, wir stehen natürlich völlig zur Verfügung, haben auch schon allerlei Vorkehrungen getroffen. Aber zum eigentlichen Kommandeur soll man doch möglichst einen Mann nehmen, der größere Fachkenntnisse als unsereiner besitzt. Ich schlage dafür den Genossen Sukrow vor -einen ehemaligen Offizier - der wohl einigen von euch bekannt sein dürfte."
„Bravo, Sukrow ist der richtige - wo ist er denn", rief Oversath, froh, dass ein Sozialdemokrat vorgeschlagen wurde.
„Mit einer Autostaffel hinter den Hacketäuern her!"
Der Vorsitzende machte ein bedenkliches Gesicht.
„Ich weiß nicht, ob man jemand, den man persönlich so
wenig kennt, mit solch verantwortungsvollem Posten
betrauen kann?"
„Ich bürge für ihn", rief Ruckers.
„Was heißt bürgen? Er hat die Halde bei ,Deutsche Erde' erstürmt", rief zur Linden aufgebracht. Diese Bemerkung gab den Ausschlag für die einstimmige Wahl des in der preußischen Armee degradierten Offizierstellvertreters Sukrow zum Kommandeur des roten Swertruper Bataillons.
Die Ratinger Straße und die angrenzenden Viertel waren von dem erbitterten Straßenkampf hart mitgenommen. Aber tausend geschäftige Hände bargen die Toten und Verwundeten, sammelten Waffen und Ausrüstungsgegenstände, regten sich zur Beseitigung der Barrikadentrümmer. Währenddessen durchstreiften bewaffnete Arbeiterpatrouillen mit roter Binde am Arm die Straßen, um etwaigen Plünderungen und Aneignungen vorzubeugen.
In der „Tonhalle" hatte man für die Gefangenen, die einen bejammernswerten Eindruck machten, eine Sammelstelle eingerichtet. Die meisten von ihnen, vor allem aber die Offiziere, erwarteten nichts anderes, als dass man sie auf den Hof führen und reihenweise erschießen würde. Sie glaubten ihren Ohren nicht zu trauen, als gegen sieben Uhr abends das Kommando erscholl: „Zu zweien antreten zum Kaffee- und Brotempfang!" Was sich aber von den Swertruper Arbeitern jung und frisch fühlte, das drängte auf dem Hof des Cäcilienlyzeums zu den Freiwilligenlisten. Neben blutjungen, kaum der Schule entwachsenen Burschen kamen Kumpels mit gebeugtem Rücken und eisgrauem Haar, ja selbst Invalide, und es gab viel Verdruss, wenn offenkundig Ungeeignete mit Vertröstung auf später zurückgewiesen wurden.
Auf dem Hof standen die Eingetragenen Kopf an Kopf. Von einer Bank herunter bemühte sich Grothe, Ordnung in das Chaos zu bringen.
„Ruhe und mal herhören!" brüllte er. „Alles, was nicht an der Waffe ausgebildet ist, auf dem hinteren Hof in zwei Gliedern antreten."
„Sollen wir denn keine Flinten kriegen?" fragten mehrere argwöhnisch.
„Gewiss, Alterchen, aber man wird euch mit Kollegen zusammenstellen, die euch Bescheid zeigen, damit ihr keine Löcher in die Luft schießt", antwortete Grothe gutgelaunt. Annähernd die Hälfte strömte nach hinten.
„Alle ehemaligen Chargierten vom Gefreiten aufwärts bis zum Generalfeldmarschall nach dem Konferenzzimmer im ersten Stock!" Wieder verschwand ein Teil.
„Artilleristen und Minenwerfer rüber zur Turnhalle, desgleichen alle Matrosen", kommandierte Grothe, dem es Spaß machte zu sehen, wie eifrig man seinen Anordnungen nachkam.
„Willst du mit den Kulis eine reitende Gebirgsmarine einrichten?" fragte Ruckers.
„Nee, aber für den Fall, dass nicht genügend Artilleristen vorhanden sind, greifen wir auf die Matrosen zurück. Die wissen vom Schiff her am besten, wo bei den Kanonen vorn und hinten ist."
„Maschinengewehrschützen sammeln sich drüben in der Ecke; die Spezialisten: Pioniere, Flammenwerfer und dergleichen nach der Aula. Alles Übrige in zwei Gliedern antreten, aber ein bisschen marsch, marsch!"
„Wo bleiben die Kavalleristen?" fragte eine Stimme.
„Vorläufig reitet ihr auf Schusters Rappen mit der Infanterie."
„Mensch, das Kommandieren hast du weg, wie mein früherer Hauptmann", bemerkte Ruckers bewundernd.
„Wie das Kommando, so die Ausführung! - Jetzt teilst du hier von den Infanteristen immer Gruppen zu fünf Mann ab, die sich aus ihrer Mitte einen stellvertretenden Gruppenführer wählen. Von zur Linden lässt du dir zu jeder Gruppe vier Unausgebildete hinzugeben, Der Stellvertreter schreibt dann sofort Name, Adresse, Alter, Beruf und Organisation der Leute auf. Ich werde mir jetzt oben die Chargierten ansehen. Jeder Gruppen - und Zugführer, den ich dir schicke, kriegt einen Zettel." „Zu Befehl, Exzellenz!" lachte Ruckers, „aber wenn die Chargierten nun nicht ausreichen?"
„Dann befördern wir welche kraft unserer Vollmacht", antwortete Grothe und eilte die Treppen empor. Hier kam ihm schon der Lehrer Fahrenhorst mit einer Liste entgegen.
„Neunundzwanzig Gefreite, dreiundzwanzig Obergefreite und Unteroffiziere, fünf Feldwebel und je ein Offizierstellvertreter, Leutnant und Oberleutnant", meldete er.
„Der Leutnant sind Sie; aber wo haben Sie den Oberleutnant her?" fragte Grothe überrascht.
Ein etwa vierzig Jahre alter Mann mit rötlichem Vollbart und Kneifer stellte sich mit unverkennbarem österreichischem Dialekt vor: „Alois Lubasch - Buchhalter bei Kaltenborn und Opler - vom 16. k. u. k. Artillerieregiment!"
Grothe kämpfte mit einem unbehaglichen Gefühl. „Und Sie wollen zur Roten Armee? Haben Sie sich das auch reiflich überlegt?"
„Ich war anderthalb Jahre in Russland gefangen und kommandierte bei Kasan eine rote tschechische Kompanie. Das kann ich Ihnen natürlich im Moment nicht beweisen. Ich verstehe Ihr Misstrauen vollkommen, lege auch keinen besonderen Wert auf ein Kommando. Am liebsten hätte ich einen Stoßtrupp; dann könnten
Sie sehen, wer ich bin", antwortete der Österreicher einfach.
„Wir sprechen später über die Artillerie. Gehen Sie einstweilen nach unten und sehen Sie sich die Leute an", sagte Grothe kurz entschlossen und wandte sich den anderen zu. In einer knappen halben Stunde hatte er die provisorischen Gruppen- und Zugführer bestallt.
Bei den technischen Truppen sah es noch recht unordentlich aus. „Ich habe", sagte Felgentreu, „sieben Pioniere zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Die drei Sanitäter und den Feldunterarzt werden wir auch gebrauchen können. Einen Büchsenmacher habe ich gleich nach unten zur Waffensammelstelle geschickt. Aber was machen wir mit den anderen? Da sind Flieger, Blinker, Flammenwerfer, Schallmessleute und sonstiges Gesocks."
„Das ist ja fein, die werden in ihrer Waffenart registriert und in Gruppen zur besonderen Verwendung bereitgehalten", sagte Grothe.
Unterdessen waltete in den abgesperrten Parterreräumen Ruckers mit einer Anzahl Arbeiter der schwierigen Aufgabe des Sortierens, Registrierens und Nachsehens der Beutewaffen. Da gab es ganze Haufen von Gewehren und Karabinern, die sich zum Teil infolge unkundigen Gebrauchs in einem trostlosen Zustand befanden. Dazu Koppel mit Seitengewehren, Schanzzeug und Brotbeuteln, ferner Handfeuerwaffen, Maschinenpistolen und Handgranaten. Auf dem Gang standen in langer Reihe leichte und schwere Maschinengewehre sowie ein Granatwerfer. In einem anderen Zimmer gab es Tornister, Zeltbahnen, Stahlhelme; in einem dritten Feldstecher, Leuchtpistolen und Kartenmaterial. In einer Hofecke waren vier erbeutete Feldgeschütze und fünf Minenwerfer sowie eine Anzahl Feldküchen aufgefahren. Und noch immer brachten Leute einzeln oder mit Handwagen allerlei Waffen, Munition und Ausrüstungsstücke. Vergeblich versuchte Ruckers, dessen Nerven eine bedenkliche Spannung erreicht hatten, Ordnung zu schaffen, kommandierte hierhin und dorthin, traf Anordnungen, die er im nächsten Moment widerrief, und schimpfte, bis ihn ein Kumpel mit sanfter Gewalt auf eine Handgranatenkiste niederdrückte:
„So, lieber Pidder, nun hole erst mal tief Luft und rege dich etwas ab; wir werden schon unterdessen allein weiterkommen."
Grothe hatte gehofft, bis elf Uhr abends mit allem fertig zu werden, um sich dann einige Stunden Ruhe zu gönnen. Aber es wurde drei Uhr, ehe er sich auf einer Bank im Physikzimmer zu einem unerquicklichen Schlaf niederstrecken konnte. Der Bataillonsarzt, Dr.Dirschauer, hatte es sich auf drei Stühlen bequem gemacht. Auf dem Tisch schliefen dicht an dicht Konsumlagerhalter Bähnisch und Krankenkassenbeamter Plötz, die mit den wichtigen Funktionen des Proviant- bzw. Zahlmeisters betraut waren, während der Mechaniker Hofrichter, den man zum Waffenmeister bestimmt hatte, einfach in einer Ecke auf der Erde schnarchte. Am Fenster aber saß, zusammengekauert in einem Armsessel, Hans Küpper, der kleine flinke Spüljunge des Flaschnerlaboratoriums, der, seitdem ihn Grothe beim Bau einer Barrikade mitten im Feuer angetroffen hatte, zur Würde einer Bataillonsordonnanz avanciert war. - In Aula, Turnhalle und den Klassenzimmern hockten und lagen die Arbeitersoldaten in den unmöglichsten Stellungen umher. Aber wenig Schlaf kam in ihre Augen. Um fünf Uhr früh weckte eine helle Feldtrompete die Schläfer, und alles rüstete sich zum Abmarsch.
Wohl läuteten an diesem Sonntagmorgen die Swertruper Kirchen zu Frühmesse und Gottesdienst. Aber alles strömte nach dem Hindenburgmarkt, um dem Auf - und Abmarsch der Roten Armee beizuwohnen In Viererreihen und straffer Haltung, das Gewehr auf der Schulter, marschierten die Kompanien auf und schwenkten zu einem Karree. Polternd auf dem Kopfsteinpflaster folgten die Geschütze, Sanitäts- und Bagagewagen.
Ein an militärischen Gamaschendienst gewöhntes Auge mochte an dieser buntscheckigen Schar wenig Wohlgefallen finden. Die meisten trugen ihre Arbeiterkleidung, schmutzig, zerrissen und geflickt, so wie sie auf Schacht und Hütte gingen. Nicht wenige hatten allerdings alte Uniformstücke an, die oft wunderlich mit der übrigen Zivilkleidung in Gegensatz standen. Die erbeuteten Stahlhelme anzunehmen, wie es die militärischen Fachleute geraten, hatten sie aus ihrem instinktiven Hass gegen dieses Symbol der Noskiten abgelehnt.
Von allen Seiten herzu drängten sich Frauen, Kinder und andere Verwandte und Freunde der roten Soldaten, um sie noch einmal zu sprechen, ihnen ein Paketchen mit Liebesgaben zuzustecken, und die aufgebotenen Ordner hatten alle Hände voll zu tun, um das Aufmarschterrain freizuhalten. Um halb acht Uhr erschien der Vollzugsrat, um Abschied von den Truppen zu nehmen. Plötzlich hörte man laute „Ah!"-Rufe.
„Reese ist wieder von den Toten auferstanden." „Wie war es denn im Kohlenkaschott, Reese?" „Komm man mit, Emil, wir haben bei der Feldküche für dich einen Platz reserviert!"
Stürmisches Gelächter rollte über den Platz.
Der, dem diese Sticheleien galten, wurde krebsrot, wäre gern in diesem Moment zum unscheinbaren Mäuslein geworden. Da ein Umkehren unmöglich erschien, tat er, als ginge ihn das alles nichts an, und markierte eine emsige Unterhaltung mit seinem Nachbarn. Der Vollzugsrat hatte Reese zum Sprecher bestimmt. Jetzt weigerte er sich aber entschieden. Jeitner war vollkommen heiser, Ruckers mit seinen Nerven fertig, und alle anderen erklärten, nicht genügend vorbereitet zu sein. So blieb Grothe nichts weiter übrig, als sich selber die „Leichenrede" zu halten, wie er sich ironisch ausdrückte.
Als er die als Tribüne dienende Munitionskarre bestieg, wusste er noch gar nicht, was er sagen sollte, hatte nur das eine Gefühl: Jetzt werde ich bestimmt Unsinn verzapfen. Als er aber dann in die vertrauensvoll zu ihm aufblitzenden Augen der Kameraden blickte, überkam ihn naturhaft eine Begeisterung, die ihm Worte, besser als nach sorgsamster Rededisposition, verlieh.
„Kampfgenossen!" rief er mit heller Stimme, dass es von den Häuserfronten widerhallte, „der große Augenblick ist gekommen, wo wir als Rote Armee hinausziehen, um für die heilige Sache des Proletariats zu kämpfen. Viele von uns haben es oft genug erlebt, hinaus auf die Schlachtfelder des Imperialismus geschickt zu werden, dafür, dass die Reichen noch reicher und übermütiger und die Armen noch ärmer und noch mehr unterdrückt werden. Wir aber, Genossen, ziehen freiwillig aus, folgend unserer eigenen politischen Einsicht und dem Grundsatz berechtigter Notwehr. Ihr alle wisst, dass weder die Arbeiter Swertrups noch sonst irgendeiner Stadt Deutschlands aus Übermut die Waffen ergriffen haben. Die Reichswehr, geführt von reaktionären Offizieren, ist der unfähigen Regierung völlig aus der Hand geglitten. Wenn man angefallen wird, fragt man nicht lange nach Gesetzesparagraphen, dann verteidigt man sich eben. Überdies hat die Regierung zum Generalstreik und zum Kampf gegen die Kappisten ,mit allen Mitteln' aufgerufen.
Wir geloben, die Waffen nicht eher aus der Hand zu lassen, bis wir endgültige Garantie dafür haben, dass man uns nicht wieder meuchelmörderisch überfällt.
Der Vollzugsrat ist erschienen und hat mich beauftragt, euch seinen Dank und die besten Wünsche für neue Siege mitzugeben. Jeder Frontkämpfer erhält neben freier Verpflegung täglich fünfzig Mark. Man wird den nötigen Nachschub organisieren und für die Angehörigen der Verwundeten und Gefallenen sorgen. Verlangt wird dafür aber strenge Ordnung und Disziplin. Plündern und Feigheit vor dem Feind sowie Gehorsamsverweigerung werden durch revolutionäre Standgerichte mit Erschießen bestraft. Noch ist niemand gebunden, und es steht jedem frei, zurückzutreten. Mir ist zu Ohren gekommen, dass sich Kameraden beschweren, weil sie die Nacht ohne Stroh kampieren mussten oder heute früh keinen Kaffee erhielten. Ich nehme an, dass diese Kameraden bei der Firma ,Preuß und Österreich' jeden Morgen ihren Kaffee ans Bett bekamen. Bei uns klappt das leider noch nicht! Wir werden daher Lüttwitz bitten, den nächsten Putsch so zeitig voranzumelden, dass wir alles bereithalten können, vom Kopfkissen bis zu Wärmflasche und Regenschirm."
Jetzt ging das Grinsen der Arbeiter in laut schallendes Gelächter über.
„Genossen", brüllte Grothe mit einer Stärke, die ihm der Zorn verlieh, und augenblicklich wurde alles wieder mäuschenstill. „Hier gibt's nichts zu lachen. Die Sache ist zu ernst. Für den wilhelminischen Größenwahn habt ihr euch jahrelang in Schlamm und Dreck gesielt, euch aushungern, betrügen, quälen und treten lassen. Da hat kein Aas auch nur gemuckt. Aber wenn es um eure eigene Sache geht, um eure Frauen und Kinder, dann geht von vornherein das Räsonieren los. Das dulden wir nicht! Wer für unsere große Sache nicht Not und Entbehrungen auf sich nehmen kann, der kann noch viel weniger sein Leben in die Schanze schlagen. Auf solche Elemente verzichten wir!"
„Die sollen zur Reichswehr gehen", rief ein grauhaariger Hüttenarbeiter.
„Jawohl, Grothe hat Recht! Ran an den Speck! Hoch Genosse Grothe!"
Alle Disziplin vergessend, drängten die Nächststehenden vor, schüttelten ihm die Hände, und ein pockennarbiger Pole umarmte und küsste ihn stürmisch auf die Wange.
Ein Kommandoruf ordnete wieder die Reihen. Die Kompanieführer traten vor ihre Formationen.
„Kompanie Rosa: Im Gleichschritt, marsch!"
„Kompanie Deutsche Erde: Im Gleichschritt, marsch -anhängen!"
„Kompanie Liebknecht: Im Gleichschritt, marsch -anhängen!"
„Kompanie Zeche Beate: Im Gleichschritt, marsch -anhängen!"
„Kanoniere und Bagage: Aufgesessen!" - „Batterie: Marsch - anhängen!"
Die Tambours der Arbeiterturner ließen ihre Trommeln wirbeln. Der fünfundsechzigjährige Bergarbeiter Simoweid hob das rote Banner. Die Menge schwenkte Hüte und Tücher. -
„Hoch unsere Rote Armee!"
„Nieder mit den Kappbanditen!"
„Nieder!"... „Nieder!"... „Nieder!"
Und dann setzte plötzlich schmetternd die Bergarbeiterkapelle ein: „Die Internationale", und mit entblößtem Haupt sangen die Massen begeistert mit:
„Völker, hört die Signale, Auf zum letzten Gefecht. Die Internationale Erkämpft das Menschenrecht!"
An der Spitze gab ihnen der Vollzugsrat das Geleit bis zum Eisenbahnübergang. Reese hatte sich spurlos verkrümelt.
Mit einem furchtbaren Schlag seiner stahlharten Faust hatte sich der Titan Proletarier im Ruhrgebiet Luft gemacht. Über Nacht schossen, wie Pilze nach einem warmen Regen, die Kampfformationen der Arbeiter, die „Rote Armee", aus der Erde.
Ein Wunder war geschehen! Die durch politische, gewerkschaftliche und konfessionelle Strömungen zerrissene Arbeiterschaft hatte sich zu einer Aktionseinheit zusammengefunden. Den Einheitskitt bildete der gemeinsame Hass gegen das Noskesystem.
Im gewöhnlichen Leben kommt es öfter vor, dass jemand, der sich in den Streit zweier Straßenpassanten einmischt, von diesen zum Schluss nun gemeinsam verprügelt wird. So ging es auch den Ruhrarbeitern im März 1920, die sich urplötzlich einer geschlossenen Front gegenübersahen, die von den Kappisten über die republikanischen Parteien bis zu den Sozialdemokraten reichte.
Schlotternde Angst vor den bewaffneten Proletariermassen schmiedete sie zusammen. Kapp und einige seiner Mitkämpfer begaben sich ins Ausland. Ihre bewaffneten Verbände aber stellten sich - genau wie 1919 -der „rechtmäßigen Regierung" zur Verfügung... gegen die Arbeiterschaft!
Während die putschistischen Brigaden sich hinter der Lippe sammelten, ließ die Regierung durch ihre Kommissare alle Minen springen, die Arbeiter zur Waffenabgabe zu veranlassen. Konferenzen über Konferenzen fanden statt, Aufrufe wurden verbreitet - Gerüchte kolportiert - alles in der bewussten Absicht, die Arbeitereinheitsfront zu zersetzen.
Andererseits fuhren deutsche Militärbevollmächtigte nach Paris, um die Einkreisung der Roten Armee zu vollenden. Am 23. März bettelte ein deutscher Offizier, Herr von Michaelis, beim „Erbfeind" um die Erlaubnis, mit achtundvierzig Bataillonen, vierzehn Schwadronen und vierzig Batterien in das Ruhrgebiet einmarschieren zu dürfen; eine Forderung, die drei Tage später der deutsche Geschäftsträger, Mayer, wiederholte. Schamlos erinnerte er dabei an die Bütteldienste, die Bismarck fünfzig Jahre vorher gegen die Pariser Kommunarden geleistet hatte.
Außerdem erstand der Reaktion im Lager der Arbeiter noch ein furchtbarer Verbündeter: der Hunger! Der Inhalt der Lager verausgabte sich oder verschwand in unterirdischen Kanälen. Da alle Zufuhren abgedrosselt waren, sahen sich die Vollzugsräte alsbald zu einschneidenden Rationalisierungen gezwungen. Die Lieferungen für die Rote Front stockten, so dass sich die Arbeitertruppen zu Requirierungen gezwungen sahen, was neuen Anlass zu Geschrei über Plünderungen und roten Terror gab. Ende März konnten in vielen Orten an die Zivilbevölkerung nur noch pro Woche und Kopf zwei Pfund Brot und vier Pfund Kartoffeln abgegeben werden.
So war die Lage auch in Swertrup, als am Dienstagnachmittag nach dem roten Sonnabend sich auf der Düsseldorfer Chaussee ein einspänniges Wägelchen der Stadt näherte. Auf dem Rücksitz lehnte, den Rosenkranz zwischen den Fingern, eine Ordensschwester in der grauen Tracht der Ursulinerinnen. Sie hatte den Schleier weit über das Gesicht gezogen, so dass nur die Augen und ein weißer Nasenverband zu sehen waren. Bei der Bahnüberführung waren die Schranken herabgelassen. Einige Mitglieder der Arbeitersicherheitswehr ließen sich vor dem Wärterhäuschen kartenspielend die warme Märzsonne auf den Rücken brennen.
„Wie komme ich zum Sankt Ursula-Hospital?" fragte das Bäuerlein, das pfeifeschmauchend den Wagen lenkte. „Hast du einen Ausweis?" - Der Bauer reichte umständlich einen zusammengefalteten Zettel.
Der Posten schüttelte den Kopf. „Das ist ja ganz schön und gut. Da schreibt der hochwürdige Pater Benedikt aus Düsseldorf eine Überweisung der Schwester Veronika, die sich bei der Krankenpflege in Palästina den Lupus zugezogen hat, ins Ursula-Hospital. Aber ohne Ausweis des Düsseldorfer Vollzugsrats darf ich dich nicht passieren lassen."
Der Kutscher zuckte blöde mit den Schultern. Die Wachleute warfen halb neugierige, halb mitleidige Blicke auf die vermummte Gestalt.
„Lupus ist ja etwas furchtbar Ansteckendes, so wie Lepra", sagte einer, sich schüttelnd. - „Gott, eine Kranke - da braucht man es doch nicht so genau zu nehmen", bemerkte ein anderer.
„Man weiß nie, wie man es recht macht", sagte der Wachhabende. „Einmal sollen wir jeden ohne Ausweis zur Kommandantur schicken, andererseits aber auch den christlichen Gefühlen der Arbeiter Rechnung tragen! Also macht schon die Schranke hoch und zeigt ihnen den Weg!"
Langsam ratterte das Wägelchen nach dem Ursula-Hospital, wo die Insassin mit Hilfe der Pförtnerin zu dem im ersten Stock gelegenen Zimmer des Anstaltsgeistlichen emporstieg.
Der alte Herr sprach den Willkommenssegen, rückte der Kranken einen Stuhl hin und öffnete, nachdem sich die Pförtnerin entfernt hatte, das überreichte Schreiben.
Als er, hinter seinem Rücken ein Geräusch hörend, sich umsah, entfiel der Brief vor Schreck seinen zittrigen Händen. An Stelle der kranken Nonne stand vor ihm der leibhaftige Satan in Gestalt eines schönen jungen Weibes in grauem Reisekostüm.
„Sie brauchen kein Kreuzlein zu schlagen, hochwürdiger Herr", lachte Gisela Zenk, sich am Entsetzen des alten Seelsorgers weidend.-„Ich bin-wie Sie aus dem Schreiben ersehen - gezwungen, für einige Stunden Ihre Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Ich verspreche Ihnen, wenn Sie mir diese Briefe hier gleich durch einen zuverlässigen Boten besorgen lassen, dass ich Sie noch vor Anbruch der Nacht von meiner Anwesenheit befreien werde. Da aber in Klöstern und Pfarrhäusern die Türen häufig Augen und Ohren haben, habe ich mir erlaubt, einstweilen meinen Mantel vor das Schlüsselloch zu hängen." —
„Sie haben viel gewagt, gnädiges Fräulein", sagte Assessor Kuhlenkamp bewundernd, indem er Gisela wiederholt die Hand küsste.
„Nicht der Rede wert, mein Lieber", lachte sie übermütig und schlug ihrer Gewohnheit gemäß die Beine übereinander. „Mir macht Mummenschanz von jeher Spaß, und dieser hier umso mehr, da er unserer guten Sache dient. Tatsächlich war er nicht ganz ohne Gefahr, denn wenn die Herren Räte mich und meine Post erwischt hätten, wären sie wohl wenig zärtlich mit mir verfahren. Aber das Aufregende und Prickelnde ist mein Lebenselement! Ich verstehe nicht, wie es die Leute in der langweiligen Zeit vor dem Kriege überhaupt aushielten? Wenn ich ein Mann wäre, würde ich Soldat werden. Leider gibt es noch keine Walkürenregimenter, wo man die Kugeln pfeifen hören kann."
„Dazu hätten Sie vergangenen Sonnabend auch hier in Swertrup reichlich Gelegenheit gehabt. So etwas von beiderseitiger Erbitterung habe ich kaum in Frankreich erlebt", sagte Kuhlenkamp. „Übrigens, wenn Sie rauf zur Lippe kommen, können Sie es noch genug knallen hören. Die Roten haben sogar Geschütze und Minenwerfer."
„Also, Sie begleiten mich über den Rhein und helfen mir, den Peikchen an die richtige Adresse abzuliefern", sprang Gisela auf ein anderes Thema über.
„Ich fürchte, er wird Schwierigkeiten machen, da seine Mutter schwer krank an der Grippe liegt", bemerkte Kuhlenkamp.
„Das lassen Sie meine Sorge sein. Ich habe mir geschworen..."
Sie brach jäh ab; aber ihr Gegenüber bekam vor dem funkelnden Hass dieser schönen Augen ein Grauen. -
An der Haltestelle des Postautos trafen sie sich mit Peikchen.
„Es freut mich, dass Sie mich nicht im Stich lassen", sagte Gisela, während er, gewohnheitsgemäß die Hacken zusammenschlagend, ihre Fingerspitzen an die Lippen führte. - Kuhlenkamp, der sich mit einem abgetragenen Joppenanzug und einem Pflaster über seinen verräterischen Schmiss unkenntlich gemacht hatte, ging in einiger Entfernung auf und ab. - Peikchen machte ein klägliches Gesicht. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie unglücklich ich bin, dass gerade jetzt meine Mutter schwerkrank und ich..."
Gisela zog finster die Brauen zusammen. „Wie, Sie wollen nicht mit?" - Der junge Mann sah sie bittend an. „Leider hängt das nicht von meinem Willen ab."
„Ach, entschuldigen Sie, ich vergaß ja Ihre kranke Frau Mutter! Wir haben zwar im Rugard eine Eidesformel, die da lautet: ,Zu Lande, zu Wasser und in der Luft, zu jeder Jahres-, Tag- und Nachtzeit - ohne Rücksicht auf eigene Vor- oder Nachteile!' Man wird in der Zukunft auch noch einfügen müssen: auch bei Krankheitsfällen in der Familie!"
Der so mit eisigem Hohn Begossene wurde kreideweiß: „Wenn Gnädige befehlen..."
„Bemühen Sie sich nicht, Herr Peikchen! Ich werde auch ohne Ihren Schutz bei den Roten und Belgiern durchkommen. Herr Kuhlenkamp kann mich leider nur bis zum Rhein begleiten, da er eine andere Mission zu erfüllen hat. Befehlen lassen sich solche ritterlichen Dienste nicht!"
Peikchen straffte sich wie unter einem Peitschenhieb.
„Verzeihen Sie, dass ich wankte, ich bin ganz der Ihre", rief er mit fast weinerlicher Stimme.
„Schreien Sie nicht so, sonst müssen wir Sie doch noch hier lassen", sagte Gisela; ein triumphierender Seitenblick begegnete Kuhlenkamps spöttischen Augen.
„Also hören Sie zu: Sie haben sich unterwegs jeder eigenen Äußerung zu enthalten, auch das ,Gnädige Fräulein' und dergleichen beiseite zu lassen. Wenn Sie gefragt werden, verweisen Sie an mich, wir reisen unter der Flagge von Genossen. Ich bin Frau Gisela Krüger, Kuhlenkamp heißt Ewald Schumann, und Sie sind Walter Steinbock! Auch müssen wir uns von jetzt ab duzen — hast du verstanden?------"
„Zu Bef... Jawohl, Genossin Gisela", antwortete Peikchen. |
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