17. KAPITEL
In Swertrup ging unterdessen - rein äußerlich betrachtet - alles seinen gewohnten Gang, und doch war es ein anderes Leben als früher. Verdrossen und mit leerem Magen trottete der Kumpel morgens zum Zechentor, denn die Lebensmittelnot wurde täglich schlimmer. Man arbeitete, nur um zu arbeiten. Wer mochte auch auf der Dreihundert-Meter-Sohle mit Eifer Kohlen picken, während oben über der Erde die Dinge der Entscheidung entgegenreiften, jeden Augenblick wieder die Alarmsirenen ertönen konnten? Jede Stunde brachte neue Hiobs- oder Hoffnungsbotschaften. Die Zeitungsnachrichten waren bei Drucklegung schon überholt.
Wo war sie geblieben, die einheitliche, glühende Kampfstimmung, die die Arbeiter vor zehn Tagen beseelte? Rechtssozialisten und Unabhängige, Kommunisten und Christliche, Hirsch-Dunckersche und syndikalistische Arbeiter zogen damals an einem Strang, und selbst viele Bürgerliche sympathisierten. Jetzt aber, unter dem zersetzenden Einfluss der Bielefelder Verhandlungen und des Hungers, klafften die alten Gegensätze erneut und schärfer auf, erhoben Mutlosigkeit, Uneinigkeit, Verrat und Verzweiflung ihr Haupt.
Noch wurden jene, die zur Unterwerfung bereit waren, von den anderen überstimmt, die ganz deutlich die Reichswehrexekution mit nachfolgender gesetzlicher Restaurierung der kappistischen Pläne kommen sahen. Nur der Appell an die proletarische Solidarität mit den Brüdern im Schützengraben bewirkte noch einigen Halt.
Die Sitzungen des Swertruper Vollzugsrates gaben ein getreues Spiegelbild dieser widerströmenden Stimmungen. Reese, Oversath, Küpper und noch ein halbes Dutzend andere forderten sofortigen Abbau der Front, Rückkehr und Auflösung der Verbände und restlose Waffenabgabe auf dem Rathause, gemäß den Bedingungen des Regierungsultimatums, das am 30. März, mittags zwölf Uhr, ablief.
Ihr schärfster Widersacher war der Syndikalist Meiring, der Kampf bis aufs Messer predigte und nicht müde wurde, die Arbeiter gegen den Verrat der Bonzen zu alarmieren. Als Folge seiner Propaganda war zu verzeichnen, dass ein Trupp bewaffneter Arbeiter vor das Gebäude des Generalanzeigers" zog, den gerade anwesenden Chefredakteur herausholte und ihn zwang, sich vor der Menge wegen eines erschienenen Artikels, der scharfe Angriffe gegen die Arbeiter enthielt, zu entschuldigen.
Peter Ruckers gehörte zu denen, die vermöge ihrer Einblicke in die Politik und in die unzulänglichen Mittel der Arbeiterschaft blutenden Herzens die Nutzlosigkeit eines weiteren Widerstandes erkannten. Entgegen seinem Impuls - der ihn an die Front trieb - hatte man ihn mit der Organisierung des Nachschubs für die Swertruper Kontingente betraut. In dieser undankbaren Aufgabe hatte er sich aufgerieben, war er um zehn Jahre gealtert. Wie hatte er gearbeitet, geredet, gebettelt, gedroht, kommandiert und gescholten - und wie wenig hatte er vermocht? Um jeden Sack Haferflocken, um jede Kiste Nudeln musste er stundenlang nicht nur mit Bürgermeister und Lieferanten, sondern auch mit den vom engsten Ressortgeist besessenen Kollegen des Vollzugsrats schachern und feilschen. Seiner Initiative war es zu danken, dass bei einem Kaufmann eine halbe Waggonladung Kunsthonig beschlagnahmt wurde, aber die anderen hinderten ihn, dieses Nahrungsmittel der Front zuzuführen, sondern beanspruchten es für Kinder, Kranke und Mütter.
Ehe aber der Streit noch beendet war, entstand nachts in dem Schuppen, wo die Sendung untergestellt war, auf unerklärliche Weise Feuer, und der ganze Vorrat verbrannte.
Für Löhnung der Truppen hatte Bürgermeister Livenkuhl einmal 120 000 Mark ausgezahlt. Das war gleich zu Anfang unter dem Eindruck der Arbeitersiege gewesen. Dann erklärte er, es seien keine Zahlungsmittel mehr vorhanden, und schließlich weigerte er sich ganz entschieden, ohne Genehmigung seines Vorgesetzten, des Regierungspräsidenten, noch Gelder herzugeben. Die Unternehmer, die man zur Zahlung verpflichtete, fanden sich unter Druck schließlich zur Ausstellung von großen Schecks bereit, aber niemand löste sie ein, weil auch die Banken plötzlich keine Zahlungsmittel mehr besaßen. Ruckers fühlte dumpf, dass hinter diesem unerklärlichen Mangel an Barmitteln irgendein schwarzes Komplott steckte, zermarterte sich aber vergeblich den Kopf, wie dem beizukommen sei. Die Ausgabe von Notgeld - das sah er wohl ein - konnte hier nicht helfen, da niemand ein so unsicheres Papier als vollwertiges Zahlungsmittel anerkennen würde.
Mit Kleidung und Stiefeln war es ähnlich. In den Geschäften fand sich nichts dergleichen vor. Schließlich fiel ihm ein einfaches Mittel ein, das er aus der Geschichte der Großen Französischen Revolution kannte. Jeder Bürger der Stadt sollte durch Dekret gezwungen werden, ein Paar Stiefel oder Schuhe für die Front zu opfern; aber dagegen erhoben nicht nur Reese und seine Getreuen, sondern sogar sein eigener Parteigenosse Jeitner Einspruch. - „Wir sind doch keine Räuber!" - Ebenso wenig gelang es ihm, die noch auf der „Gewerkschaft Deutsche Erde" vorhandene Anlage zur Granatenfabrikation in Gang zu setzen. Man hatte zwar zugesagt, aber dann fehlte es doch an diesem oder jenem.
So war er auch schließlich gezwungenerweise zu jeder friedlichen Verständigung bereit. Der in seiner großen Mehrheit ebenso gestimmte Vollzugsrat traf bereits Vorkehrungen für den Rücktransport der Truppen, als, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die durch Funkspruch bekannt gegebene Ausführungsbestimmung des Generals Watter zur Waffenabgabe bekannt wurde.
Bis zum 31. März, mittags zwölf Uhr, sollten vier schwere Geschütze, sechzehn Minenwerfer, zweihundert Maschinengewehre, zwanzigtausend Infanteriegewehre, vierhundert Schuss Artilleriemunition, hunderttausend Infanteriepatronen abgeliefert werden. Erfolgte das nicht, so sollten die Bedingungen des Waffenstillstandes als nicht erfüllt gelten, desgleichen, wenn noch irgendwelche Teile der Roten Armee oder einer sonstigen Wehr unter Waffen stünden, noch ein Vollzugsrat existierte oder ein Gefangener nicht freigelassen sei.(Anm.:Historisch)
Jetzt war es ganz klar, dass man durch die ganzen Verhandlungen in eine Falle geraten war. Das Militär pfiff auf alle Vereinbarungen, schuf sich seine eigenen Bestimmungen. Selbst wenn die Arbeiterschaft einmütig des unterwürfigsten Geistes gewesen wäre, konnten diese Bedingungen nicht erfüllt werden, weil es schon rein technisch gar nicht möglich war. Das Militär stellte absichtlich solche wahnsinnigen Forderungen, um mit ihrer Nichterfüllung Vorwand zu gewaltsamem Einmarsch und blutiger Rache zu haben.
Wieder heulten die Alarmsirenen durch die gequälte Stadt. Auf öffentlichen Plätzen gab man die Bedingungen des Generals bekannt. Ein vieltausendstimmiger Aufschrei der Empörung erhob sich! Selbst Leute, die noch am Vormittag für Kapitulation gestimmt hatten, verlangten jetzt einen neuen Generalstreik. „Lieber die Senegalneger als die Reichswehr", rief man einander zu, als mitgeteilt wurde, dass der Essener Zentralrat eine Kommision nach Köln gesandt habe, um die Entente auf die frevelhafte Einmarschprovokation in die verbotene 50-Kilometer-Zone aufmerksam zu machen.
Die am Hindenburgmarkt aufgefahrenen Lastautos zum Zurücktransport der roten Truppen wurden von Bewaffneten und Unbewaffneten gestürmt, die an die Front befördert zu werden verlangten. Ganz aus eigenem Antrieb bildeten sich Kommandos, um gegebenenfalls die Schächte in die Luft zu sprengen.
Wieder hielten die Werke ihren Betrieb an. Durch Rad fahrende Sonderkuriere hatte Jeitner die Vollzugsratsmitglieder nach dem Volkshaus zusammengetrommelt. Als man beginnen wollte, wurde ein Brief des Gewerkschaftssekretärs Reese abgegeben, in dem dieser kurz und bündig seinen Austritt aus dem Vollzugsrat erklärte. Diese Mitteilung löste weniger Empörung als Niedergeschlagenheit aus.
„Die Ratten verlassen das Schiff", bemerkte Ruckers mit grimmigem Humor. Dann verlas der Vorsitzende ein neues Telegramm, wonach die Regierung den Termin für die Waffenabgabe unwiderruflich auf Sonnabend, den 2. April, mittags zwölf Uhr, verlängerte. Bis dahin hatte die Reichswehr den strengen Befehl, nicht vorzurücken. Severing selbst erhielt Vollmacht, das etwaige Eingreifen zu regeln und zu überwachen.
Die Regierung baute also goldene Brücken, um es nicht zum Ärgsten kommen zu lassen; General Watter mit seiner offensichtlichen Provokation wurde nicht anerkannt. Niemand im Saal fühlte mehr den Mut, in dieser Lage gegen dieses Angebot zu sprechen. Nur ein alter Bergmann sagte halblaut: „Das sieht Karl Severing ähnlich!"
Oversath verlangte das Wort, wurde aber mit hämischen Bemerkungen empfangen. „Du bist auch noch hier? - Geh doch gleich zu deinem Freund Reese!"
Der sozialdemokratische Parteivorsitzende wurde kreideweiß.
„Ich danke für euren guten Rat, weiß aber selber, was ich zu tun habe. Wenn ich auch in vielen Dingen anderer Auffassung bin, deshalb verlasse ich im Augenblick der Gefahr doch nicht meinen Posten. Jedenfalls stehe ich für das, was ich sage, auch gerade und überlasse das Kneifen anderen Leuten."
Jeder verstand, wer mit den „anderen Leuten" gemeint sei. Mehrere riefen „Bravo", Oversath aber fuhr fort: „Diese neuerliche Verlängerung des Ultimatums und die anderen Maßnahmen der Regierung zeigen, dass von einem Ausliefern an die Generale kein Gedanke ist. Jetzt liegt es an uns, Genossen, jeden Vorwand zum Einmarsch illusorisch zu machen. Das neue Angebot
macht uns das leicht. Darum bin ich dafür, dass sofort die Arbeit wiederaufgenommen und alle Lastkraftwagen mobilisiert werden, um im Laufe des morgigen Vormittags alle Genossen von der Front zurückzuholen."
„Und wer bürgt dafür, dass die Reichswehr nicht marschiert?" fragte Meiring höhnisch.
„Unser Genosse Severing, der alle Vollmachten besitzt", antwortete Oversath unerschütterlich.
Meiring schlug ein markerschütterndes Lachen an. „Euer Severing? Gesetzt selbst den Fall, er wolle das Beste. Aber die Generale pfeifen auf alle seine Vollmachten! Ein Gewehr ist in solcher Situation mehr wert als zehntausend Quadratschnauzen!"
Jeitner läutete mit der Schelle. „Es ist jetzt nicht Zeit, mit Worten zu streiten. Kannst du einen praktischen Vorschlag machen, dann heraus damit, Genosse Meiring!"
„Ich verzichte darauf, ihr habt die Arbeiter gerufen, und jetzt gebt ihr sie preis! Eure ganzen Kuhhandeleien haben schuld an dem Schlamassel! Ihr kriegt uns nie wieder zu einer Aktion!"
Mit einem gewaltigen Fußtritt schleuderte der ehrliche Revolutionär den ihm im Wege stehenden Stuhl beiseite und verließ, ohne jemand eines Blickes zu würdigen, den Raum.
„Er hat leider nur zu Recht, aber jetzt ist es zu spät", sagte Ruckers tonlos. „Ich glaube also, unser aller Einvernehmen feststellen zu können, dass wir sofort unsere Truppen zurücknehmen. Es ist jetzt zwei Uhr mittags. Wer erledigt die Geschichte mit den Kraftwagen?"
Oversath meldete sich freiwillig.
„Gut! - Genosse Jeitner setzt sich sofort mit Livenkuhl in Verbindung, um die Waffenabgabe im Rathaus zu regeln. Nach dem Wortlaut der Regierungsvereinbarungen haben wir das Recht, eine Arbeiterwehr, drei Mann pro tausend Einwohner, zu behalten. Das muss einer von euch übernehmen."
„Warum nicht du, du verstehst das doch am besten", rief Pontow.
„Weil ich sofort mit unserem Auto zu unseren Leuten fahren will, um sie auf den Rücktransport vorzubereiten, denn ich vermute, dass es dabei noch allerhand Schwierigkeiten geben wird", antwortete Ruckers.
Die Notwendigkeit dieser Maßnahme sah jeder ein, und so wurde, weil kein anderer sich meldete, der christliche Vollzugsrat Küpper mit dem Kommando der neuen „Nachtwächtergarde", wie sie Meiring genannt hatte, betraut.
Hinter Niederwerth, wo die Zechen und Häuser mehr und mehr zurückblieben, gab der Chauffeur Vollgas, und der Wagen sauste mit sechzig Kilometer Geschwindigkeit dahin. Unterwegs begegneten sie mehrfach kleineren Trupps von auf eigene Faust heimwärts ziehenden Arbeitersoldaten. Ruckers erkannte daran, wie notwendig es sei, unverzüglich die zerbröckelte Front abzubauen, da unter solchen Umständen ein gewaltsamer Vorstoß der Reichswehr die schlimmste Niederlage der Arbeiter zur Folge haben musste. Aber Gott sei Dank blieben ja noch fünfundvierzig Stunden Zeit bis zum Ablauf der Frist!
Müde lehnte er sich in dem offenen Wagen zurück. Der scharfe Fahrtwind massierte wohltätig seine summenden Schläfen. Er schloss die Augen, versuchte etwas zu schlafen. Aber der Versuch scheiterte' an einer rätselhaften Unruhe, die - vom Herzen her kommend – seinen ganzen Körper bis zum äußersten Nerv unter schwingender Spannung hielt. Jetzt erst merkte er richtig, wie schlecht die letzten vierzehn Tage seinen Nerven bekommen waren. Zu gründlich hatte er sich in seine undankbare Aufgabe hineingekniet, zu ausschließlich hatte er all seine Kräfte auf Biegen oder Brechen eingesetzt. Aber das Missverhältnis zwischen seinem Sollen und Können war doch zu groß; der Ärger darüber fraß ihn fast auf. Warum konnte das nicht anders sein? Warum mussten immer und immer wieder die Arbeiter geschlagen werden? Warum waren die anderen auch diesmal wieder die Stärkeren? -
Da kroch es wieder heran, dieses ekelhafte, schleimige Untier mit den boshaft phosphoreszierenden Augen und den unzähligen Polypenarmen. Diese Fangarme schlängelten sich überall heran an alle fortschrittlichen Kräfte, banden sie, saugten ihnen die Lebenssäfte aus. Wie höhnisch-überlegen diese Fresse grinste! Bald stand darin etwas von der höflichen Korrektheit des Bürgermeisters Livenkuhl, bald etwas von der verbindlichen Liebenswürdigkeit des Generaldirektors Buchterkirchner. Dann spielte es mehr hinüber in die hasserfüllte Freundlichkeit der Geschäftsleute, um schließlich in das Grienen überzugehen, das ständig um den Mund des Gewerkschaftssekretärs Reese lag. Endlich aber zerfloss es zu jenem hilflosen Lächeln, das ihn in den letzten Wochen oftmals zum Rasen gebracht hatte, jenes hilflose Lächeln vieler Genossen, wenn sie wieder einmal vor den einfachsten selbständigen Aufgaben versagten...
Ein scharfer Ruck in einer Kurve ließ ihn aus seinem dumpfen Dahinbrüten auffahren. Sie hatten den Bereich der Zechen, Kohlenhalden und Arbeiterkolonien hinter sich gelassen. Rechts und links träumten behäbige Bauernhöfe unter uralten Eichen von jenen Zeiten, da noch nicht jener rauchende Schornsteinwald dahinter den Horizont verfinsterte. Auf den Ackern spross die Wintersaat. Schwerfällige rotbraune Ochsengespanne gingen vor blinkenden Pflugscharen. Aus klaffenden Furchen trug der Wind würzigen Erdgeruch bis zur Chaussee. Wie wohl das tat; in tiefen Zügen atmete der müde Arbeiter diesen kräftigen Duft ein.
Allmählich wurde die Gegend hügeliger und ärmlicher. Sanddünen mit Ginster, Wacholder und Kiefernkuscheln schoben sich vor. Nur die tief hängenden Birken zu beiden Seiten der Straße brachten mit ihren zartgrünen Schleiern etwas Farbe in die trostlose Gegend. Die Straße war zum holperpflasterigen Fahrweg geworden, der dem Auto nur halbe Geschwindigkeit erlaubte. Strohgedeckte Heidekaten tauchten ab und zu auf, und der Hebebaum eines Ziehbrunnens stand gleich einem Haltesignal schräg gegen den regenverheißenden Nachmittagshimmel.
Vorn in einer Senkung tauchte jetzt ein viereckiger Kirchturm auf, „Buldingrath".
Der Chauffeur zog plötzlich mit aller Kraft die Bremse. In einer Wegbiegung lag ein Hindernis. Ein Lastkraftwagen hatte auf der abschüssigen Straße einen der zweirädrigen Bauernkarren umgestoßen und die hier sehr schmale Fahrbahn völlig versperrt. Man war dabei, mit Stricken und Winden die Fahrzeuge wieder flottzumachen, doch sah Ruckers sofort, dass bis dahin geraume Zeit vergehen würde. So machte er sich, von Unruhe getrieben, zu Fuß auf den Weg. Holte ihn der Chauffeur ein, umso besser.
In den Straßen des Städtchens stieß er bald auf die ersten Arbeitersoldaten mit der roten Binde am linken Unterarm. Ruckers musste sich eingestehen, dass sie, zerlumpt und verwildert aussehend, guten Stoff für bürgerliche Hetzartikel hergaben.
Aus einem Gasthof am Marktplatz ertönte Klavierspiel und grölendes Singen. Er schaute von draußen durchs Fenster und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Das Gastzimmer war gefüllt mit lärmenden, zum Teil betrunkenen Rotarmisten. Einige tanzten mit Weibspersonen, deren Schwesternhaube ihren eigentlichen Beruf nur schlecht bemäntelte.
„Ist das unsere rote Front, die so unentwegt weiterkämpfen will?" fragte er grimmig.
Nein, das ist Etappe, Genosse, und die da haben es aufgegeben", antwortete ein Mann neben ihm.
In Ruckers drehte sich etwas um. „Da soll doch aber der Deubel... ist denn hier in der Stadt keine Kommandantur?"
„Seit heute mittag nicht mehr. Die da haben sie weggejagt, weil man ihnen keine Verpflegung gab", antwortete der andere.
„Sollte man das wohl glauben? Und warum gab man ihnen keine Verpflegung, war denn nichts mehr da?" forschte er weiter.
„Weil sie ihre Stellung ohne Befehl verlassen haben."
„Was? Ohne Befehl? Und das läuft noch mit der roten Binde herum?"
„Das ist gar nicht so verwunderlich, Genosse. Man hört an deinen Fragen, dass du den Betrieb hier noch nicht kennst. Das da sind Düsseldorfer, sonst ganz gute Kerle, ich habe sie bei Westhofen angreifen sehen! Aber frage sie, was sie bis jetzt an Löhnung und Verpflegung kriegten? Lass dir ihre Stiefel zeigen. Aus Düsseldorf war eine Ladung Stiefel für sie unterwegs, ich habe das Auto selber gesteuert. Aber hinter Walsum wurden wir von einem Marodeurhaufen, ebenso abgerissen wie der hier, angehalten und ausgeplündert. Als ich mit leeren Händen kam, riss ihnen die Geduld."
„Und was sind das für Krankenschwestern?" fragte Ruckers, den ein förmliches Gliederzittern überfallen
hatte.
Der Düsseldorfer zuckte die Achseln. „Das Gesocks findest du überall! Die da mit den fuchsigen Haaren kenne ich zufällig, mit der habe ich während des Krieges auf der ,Rheinmetall' an einer Bank ,Möbbelche' geschrubbt. Seit einem halben Jahre stricht sie auf der Graf-Adolf- Straße."
In einem Nebenzimmer erhob sich eine schrille Gesangstimme:
„Mit schwachen Armen, bleichen Wangen, Ein Kindlein steht vorm Bergmannshaus. Da tritt, das Herz voll heißem Bangen, Sein Mütterlein zu ihm hinaus. Die Locken streichelt sie dem Kinde, Das traurig fragt beim Abendschein: ,Ach, Mutter, gelt, die Glocken läuten, Kehrt denn mein Vater noch nicht heim? Ach, Mutter, gelt, die Glocken läuten, Kehrt denn mein Vater noch nicht heim?'"
Von einer Ahnung getrieben, trat Ruckers näher. Richtig, da saß die dicke Änne - anscheinend auch nicht mehr ganz nüchtern - auf dem Ledersofa, jeden ihrer vollen Arme um einen Burschen geschlungen, und sang eines ihrer steinerweichenden Lieblingslieder.
Der Bergmann spuckte aus. Er hatte genug gesehen und nur den einen Wunsch: so schnell wie möglich zu seinen Swertrupern! Zum Glück kam gerade das Auto. Die breite Dorfstraße, auf der die Hühner gackerten, lag wie ausgestorben. Nur ein altes Mütterchen, das an einer Schultertrage zwei Eimer balancierte, schaute dem rotbewimpelten Auto verwundert nach.
Am Türpfosten eines niedrigen Backsteinhauses wehte die Rote-Kreuz-Flagge. Ehe noch der Chauffeur den Wagen zum Halten gebracht hatte, stürzte eine weißbeschürzte Gestalt heraus. „Vater!"
„Ich habe gerade heute so viel an euch gedacht", sagte Mary, mit feuchtschimmernden Augen.
Etwas unbeholfen küsste der Arbeiter sein Kind auf die Stirn. Sein Blick fiel auf Grothe, der langsam, um die Wiedersehensszene nicht zu stören, näher trat.
„Bringst du denn wenigstens gute Nachrichten mit? Auf Geld und Stiefel zu hoffen haben wir uns schon abgewöhnt", sagte er, dem alten Kameraden die Hand reichend.
„Weder eines noch das andere, wir sind verraten und verkauft und bauen ab; ich komme, um euch das mitzuteilen, ihr werdet von Mülheim noch nähere Anweisungen erhalten", antwortete Ruckers düster. „Aber sag' mal", fuhr er, die Stirn runzelnd, fort, „bist du auch Sanitäter geworden? Ich glaube gehört zu haben, dass du in den letzten Tagen eine Kompanie übernommen hast?"
„Stimmt schon, Peter. Meine Kompanie liegt augenblicklich hier beim Stab in Reserve. Gleich hinter der Kirche haben wir drei Scheunen in Beschlag. Die Leute sind gerade beim Abendessen, und da bin ich schnell einmal herübergespritzt, um mir ein paar Hoffmannstropfen zu holen", antwortete Grothe, während Mâry über und über rot wurde.
So, so, Hoffmannstropfen hast du dir geholt? Hast jedenfalls Bauchschmerzen, na, das kommt ja im Krieg vor! Ich dachte schon, die Kompanieführer lassen sich hier gleich im Feldlazarett nieder! Nach dem, was ich soeben in Buldingrath gesehen, sind hier ja überhaupt merkwürdige Zustände eingerissen." Und dann polterte er alles heraus, was an Zorn und Empörung in ihm rumorte.
„Was willst du machen?" fragte er, als Grothe auf einer Torpedopfeife mehrere schrille Signale abgab, die alsbald irgendwo beantwortet wurden.
„Entwaffnen tu ich die Kerle, ihnen die rote Binde abnehmen, die sie entehrt haben, und dann bringe ich sie auf das laufende, dass sie die Hacken verlieren. Solche Schweinereien greifen um sich wie ein Flugfeuer, zum Vergnügen des Herrn Watter! Vorgestern erst haben wir einen Marodeurhaufen entwaffnet. Die Kerls wollten sogar schießen. Wenn die ganze Geschichte nicht sowieso zu Ende ginge, hätte ich alle vierzehn an die Wand gestellt. Ohne Disziplin ist eben nichts zu machen, aber die Verhältnisse werden stärker, und Not bricht Eisen." Sie waren weitergehend auf dem Dorfanger angelangt, wo die Rotarmisten bereits im Antreten begriffen waren.
„Wirst gleich mal sehen, dass wir doch noch Zug und Disziplin haben. Fahrenhorst hatte die Kompanie ja mächtig verludert. Das kam daher, weil ihm jede innere Gemeinschaft mit den Arbeitern fehlte. Sie gehorchten ihm nur, soweit sie ihn sahen."
„Und wie macht sich denn der Herr Kommandeur? Übrigens, wo steckt er eigentlich?" fragte Ruckers.
„Augenblicklich ist er vorne in Stellung. In Sukrow hat sich mancher geirrt. Ein Dutzend solcher Leute noch in führender Stellung, ich glaube, wir stünden anders da. Die Mannschaften haben vor ihm den größten Respekt, da er von keinem mehr als von sich selbst verlangt", war die Antwort.
In wenigen Minuten war die Kompanie in zwei Gliedern angetreten. „Hallo, ist das nicht Ruckers? -Glück auf, Pidderche, was gibt's Neues? - Wo hast du unsere Stiefel?" - rief es ihm entgegen.
„Kompanie stillgestanden!" schnitt der Führer jede Unterhaltung ab. „Kameraden! Wieder einmal müssen wir eine Bande von Marodeuren unschädlich machen. In Buldingrath geht es drunter und drüber. Man hat sogar die Kommandantur weggejagt. Das dürfen wir nicht dulden. Anarchie im Rücken ist schlimmer als der Feind vor uns, denn sie zieht uns den Boden unter den Füßen weg, nimmt uns den letzten Halt. - Abzählen zu vieren!"
„Willst du uns begleiten?" wandte er sich an Ruckers. „Ich muss erst Sukrow sprechen, kannst du mir nicht jemand mitgeben, denn allein werde ich ihn wohl schwer finden", gab dieser zurück.
„In Gruppen rechtsschwenkt, marsch,... Halt! - Das geht schlecht, Alterchen, wir werden jeden Mann gebrauchen. - Gewehr umhängen! - Aber Mary könnte dich begleiten, sie weiß den Weg. -Ohne Tritt, marsch! -Sage bitte gleich Sukrow Bescheid, was ich unternommen habe, er soll mir nach Buldingrath weitere Befehle zukommen lassen, ich schicke einen Befehlsempfänger, sowie ich dort aufgeräumt habe."
„Mâry soll mich begleiten? Und wer bleibt solange bei ihren Patienten?" fragte der Alte verwundert.
Grothe machte ein spitzbübisches Gesicht. „Ich bin augenblicklich ihr einziger Patient!" Er sprang – den Finger an die Mütze legend - seinen Leuten in großen Sätzen hinterdrein.
„Na, dann zieh dir man wenigstens deinen Mantel über", sagte Ruckers und zündete sich währenddessen ein neues Pfeifchen an.
„Da hinten, wo die Pappeln stehen, ist schon die Lippe, aber wir müssen bei Tage einen Umweg machen, weil die Noskes die Chausseen manchmal mit Schrapnells bestreuen", erklärte Mary, als sie fünfhundert Meter hinter dem Dorf von der Straße abbogen. Durch Kiefernkuscheln hindurch führte ein schmaler Zickzackweg. Während sie dahinschritten, erzählte sie von dem Leben hier, von dem Bruder, der bei einem benachbarten Abschnitt als Krankenträger Dienst tat, fragte nach der Mutter, nach Ludwig und allem möglichen in Swertrup. „Da ist nicht viel zu erzählen, denen geht es, wie es jetzt eben gehen kann", schnitt der Vater verdrießlich das Gespräch ab. „Aber nun erzähle mal auch von dir. Was hast du mit Grothe?"
Sie war hochrot geworden, buchstabierte in dem abgestorbenen Heidekraut zu ihren Füßen, als suche sie da eine Antwort. Ihr Schweigen sagte dem Vater genug.
Eine Weile schritten sie wortlos Seite an Seite dahin, dann begann der Alte wieder: „Du bist jetzt einundzwanzig, ich glaubte, ich könnte dir vertrauen, als ich dich mitziehen ließ. Ich hätte es doch nicht tun sollen!" „Dann sperre mich doch gleich ein. Soll ich denn mein Leben lang wie ein kleines Kind behandelt werden?" begehrte das Mädchen auf.
Ruckers blickte erstaunt auf. So leidenschaftlich hatte er seine Älteste noch nie gesehen. „Nun, nun, so war's ja nicht gemeint. Ich weiß, dass ich dich ein bisschen kurz gehalten habe, manchmal vielleicht sogar etwas zu streng. Vielleicht war es nicht ganz richtig von mir, aber ich meinte es gut. Und eben darum möchte ich nicht, dass du dich mit jedem Windhund..."
„Max ist kein Windhund, Vater! Frage hier herum, wen du willst, ob er nicht der Tüchtigste und Opferwilligste im ganzen Abschnitt ist!"
Aber deshalb brauchst du dich doch nicht ihm zu opfern. Ich habe meine Gründe, ihn in Weibergeschichten für einen Windhund zu halten."
„Lass doch das, Vater", bat Mary mit abgewandtem Gesicht. „Max ist kein schlechter Kerl, und wir haben uns sehr gern. Übers Heiraten zu sprechen ist immer noch Zeit, wenn das hier vorüber ist."
„Das ist es ja eben", sagte Ruckers weich; dabei tastete er nach der Hand seines Kindes. „Ich bin kein Spießer! Meinethalben liebt euch, du bist ja jetzt in dem Alter, obwohl mir manchmal noch ist, als seiest du noch mein kleines dummes Küken. Aber wie die Dinge hier jetzt stehen? Wir müssen mit allem rechnen, auch mit dem Einmarsch der Reichswehr. Dann muss ich flüchten und Max desgleichen. Ich weiß nicht, ob und wann wir mal zurückkommen. Ich würde leichter in die Fremde gehen, wenn ich mein Mädel unbeschwert zurücklassen könnte."
Mary sah ihn groß und ernst an. „Wenn Max flüchten muss, gehe ich mit ihm, Vater!"
Die Kiefernkuscheln wurden jetzt lichter und gestatteten Durchblicke auf das breite Wiesental, durch das sich der Fluss in einer Breite von fünfzig bis sechzig Metern hinschlängelte. Ein Teil der Wiesen stand deutlich sichtbar noch unter Wasser.
Im Zuge der Landstraße wölbte sich eine steinerne Brücke über den Fluss, aber der mittelste Brückenbogen war gesprengt. Dort, wo die noch stehenden Bogen die Ufer berührten, befand sich beiderseitig ein dichtes Stacheldrahtgewirr. Auf dem diesseitigen Ufer zog sich, ungefähr achtzig Meter vom Fluss entfernt, dem Kamm einer Bodenerhebung folgend, ein etwa zweihundert Meter langer Zickzackgraben hin.
„Ist denn das die ganze Stellung?" fragte Ruckers, der hinter einem Wacholderstrauch stehend Ausschau
hielt.
„Zwei Kilometer flussabwärts bei der Schleuse liegt unser nächster Posten. Nach rechts hin bei der Einmündung eines Baches befindet sich ein starker, flankierender Maschinengewehrposten; von hier aus kannst du ihn noch nicht sehen. Zwischendurch sind nur einige Schützenlöcher, die aber nur nachts besetzt werden", erläuterte Mâry.
Ruckers lächelte. „Man merkt doch gleich, dass du einen guten Lehrmeister gehabt hast. Aber wo stehen unsere Geschütze?"
„In einem anderen Abschnitt weiter flussabwärts bei Dinslaken! Hier haben wir nur einen leichten Minenwerfer, aber nur noch zwei Schuss dazu. Er steht drüben in der Mulde versteckt", antwortete das Mädchen unbeirrt weiter.
„Und wo sind die Noskes?"
„Sie liegen drüben über den Fluss weg am Waldrand. Nachts kommen sie bis da unten an die Heuschober. Seit unserem letzten Angriff haben sie auch bei Tage einen Posten an dem Brückenrand. Wir müssen jetzt durch den Laufgraben."
In gebückter Stellung gelangte man durch den anderthalb Meter tiefen Graben in den Schutz der Höhe, auf der sich die roten Soldaten eingegraben hatten.
An der rückwärtigen Seite des Hügels hatten sie sich aus Brettern, Zweigen, Rasen und Zeltbahnen primitive Unterstände in den Erdrücken hineingebaut. Phantastische Gestalten hockten um kleine Feuerchen herum. Als die Soldaten der „Kompanie Liebknecht" Ruckers erkannten, liefen sie sofort herzu, ihn mit Fragen überhäufend. Er blickte in wettergebräunte, unrasierte Gesichter und tiefliegende Augen. „Ist Sukrow bei euch?" fragte er, ohne auf ihre Fragen einzugehen.
„Gerade beim Telefonisten." Man wies auf einen halboffenen Verschlag, der, durch Zweige gegen Fliegersicht gedeckt, einer Sommerlaube glich.
„Was, Telefon habt ihr hier auch?" wunderte sich Ruckers.
„Ja, aber nur bis zu unserem Stab. Alle Gespräche, die von weiter her kommen, müssen übertragen werden", antwortete Mary, die auch hier Bescheid wusste.
Sukrow saß an einer Kiste, die Hörer am Kopf, und trommelte mit dem Bleistift auf seinem Notizblock. Als er die Besucher erblickte, hellten sich seine finsteren Züge um einen Schein auf. „Einen Augenblick, eben wird ein Gespräch vom Zentralrat in Essen übertragen."
„Rückzug, was?" fragte Ruckers leise. Der junge Kommandeur nickte nur und begann wieder zu schreiben.
„Also, wir können einpacken!" Die Hörer flogen mit lautem Krach zu Boden. „Bei Hamm und Lünen sind die Stellungen schon heute früh geräumt worden. Wir gehen noch heute abend auf Buldingrath zurück!"
„Grothe ist schon dort", sagte Ruckers und richtete seine Bestellung aus.
Sukrow machte ein gefasstes Gesicht. „Seit vier Tagen kämpfen wir vorn gegen die Reichswehr, hinten gegen die Marodeure. Ihr habt uns aber auch mit allem im Stich gelassen, und das zersetzt unsere Front."
„Ich tat, was ich konnte, aber wenn du wüsstest..."
„Ich weiß es; dir persönlich mache ich auch keinen Vorwurf. Die ganze Geschichte, die so hoffnungsvoll begann, ist gründlich verfahren worden."
„Hoffentlich bist du dir auch über die Ursachen im klaren."
„Da kannst du Gift drauf nehmen. Glaube mir, Peter, diese zehn Tage Bürgerkrieg waren mir lehrsamer als alle Vorträge, die du und Max mir gehalten habt und noch halten könntet. Heute vormittag noch schickte die, Kompanie Zeche Beate' eine Deputation mit der Forderung, die Lippe überschreiten zu dürfen. Und das, obwohl die ,Kompanie Dudo' gestern nacht bei einem Sturmangriff zwischen Dinslaken und Friedrichsfeld mit furchtbaren Verlusten zurückgeschlagen wurde. Die Reichswehr bombardierte heute früh Dorsten und nahm uns die Lippebrücke. Wir hatten an achtzig Tote. Und all dieser Heroismus ist nun umsonst gewesen? ... Aber lass mich jetzt einen Augenblick allein, damit ich meine Anordnungen treffe. Es dämmert gleich, und vor Einbruch der Dunkelheit möchte ich geräumt haben, damit es nicht noch zu irgendwelchen Zusammenstößen kommt. Der Zentralrat legt darauf ganz besonderen Wert, und er hat ja auch Recht, nicht noch zu guter Letzt Vorwände für die Reichswehr zum Nachrücken zu geben."
„Und glaubst du wirklich, dass sie sich genieren werden?" fragte Ruckers in lauerndem Ton.
„Aber das wäre ja dann doch gegen Treu und Glauben", rief Sukrow entrüstet.
Der Bergmann pfiff durch die Zähne. „Eines hast du immer noch nicht gelernt, mein lieber Ernst, nämlich, dass Politik nicht mit. Treu und Glauben gemacht wird. Hat die Regierung das Militär in der Hand, oder das Militär die Regierung? Glaubst du, dass die Watter und Kabisch über einen dieser Schwindelparagraphen stolpern werden? Wenn wir die Waffen abgegeben haben werden, finden sie schon einen Vorwand zur Offensive. Ich weiß schon vorher, was unsere unabhängige Presse nachher wieder schreiben wird: ,Sofortige Untersuchung, strenge Bestrafung aller Schuldigen, volle Entschädigung der Hinterbliebenen usw.' Aber ich werde mich rechtzeitig verduften und empfehle jedem, dasselbe zu tun."
„Aber es sollen doch Zivilkommissare den Truppen zugeteilt sein und Severing selber..."
„Beschwer dich nachher bei diesen politischen Küchenkommissaren, wenn man dich totgeschossen hat", sagte Ruckers, sich kurz umdrehend, und ging nach vorn, um wenigstens einmal auch einen Blick zum Graben hinauszuwerfen.
Die Kumpels packten bereits schweigend ihre armselige Habe zusammen.
Früher als sonst setzte die Dämmerung ein, denn der Himmel hatte sich mit schweren Regenwolken verhangen, nur fern im Westen leuchteten noch einige Wolken in einem kalten Abendrot. Ein heftiger Wind war aufgesprungen, peitschte über die Grabenböschung, dass der Sand stiebte.
Die Stellung lag bereits wie ausgestorben, bis Rukkers, hinter aufgelegten Sandsäcken an einen Querbalken gelehnt, noch einen einsamen Posten fand. Der Mann starrte hinter dem schussfertig aufgelegten Gewehr unverwandt ins Tal hinaus. Als der Besucher näher trat, wandte er den von einem schmutzigen Filz bedeckten Kopf. Eine Sekunde blickte Ruckers in ein zerfurchtes Proletariergesicht mit buschig-grauweißem Backenbart. Der Mann musste wohl Sand in die Augen bekommen haben, denn das helle Wasser lief ihm über die Wangen.- Bei einem geräumten Beobachterstand machte der Besucher halt. Lange schweifte sein Blick nach drüben, wo die Abenddämmerung schon schwarze Schleier über dem Walde webte. Dort lag der Feind, der weiße Feind! Aber hier war noch rote Erde, freie Erde, beschirmt von stählernen Waffen in stählernen Proletarierfäusten! Seine harten Finger krallten sich in den feuchten Sand. Hier diese Erde hatte sich das Proletariat im harten Kampf Schritt um Schritt erobert, mit seinem Blute getränkt! Aber Uneinigkeit und Verrat hinderten es am Festhalten. Zum letzten Mal ging die Sonne über der roten Ruhr unter.
Ihn fröstelte. Stimmen und schwere Schritte kamen den Graben herauf. Er musste sich hart an die Wand drücken, damit die Leute mit dem schweren Maschinengewehr vorüber konnten.
„Wenn die sich denken, mein gutes MG so zu kriegen, dass sie damit nochmals auf uns schießen können, haben sie sich eklig geschnitten", hörte er noch einen der sich entfernenden Männer sagen. |
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