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Karl Grünberg - Brennende Ruhr (1928)
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3. KAPITEL

Ernst Sukrow hatte sich sein Debüt im Industriegebiet doch etwas anders vorgestellt. Aus der von Romantik und Vaterlandsliebe verklärten Bergmannsarbeit war ganz prosaische Hofarbeit hinter dem Martinofen des Stahlwerkes Flaschner geworden. Acht Stunden lang von Güterloren schmutzigen, ineinander verschlungenen Schrott abzuladen, ist kein Sport.
Es schneite und regnete abwechselnd, so dass er fortwährend nass bis auf die Haut war. Die aus Rost und Öl bestehende Kruste, mit der sich alsbald seine alte Arbeitsuniform bedeckt hatte, weichte auf und zog über Leibwäsche und Haut Schmutzbahnen, so dass er bald vor sich selbst einen Ekel bekam.
Sukrow kannte ähnlich unangenehme Lagen wohl vom Felde her, hatte aber immer geglaubt, dass es so etwas nur im Kriege gebe. Jetzt machte er die verblüffende Entdeckung, dass viele Tausende von Arbeitern mitten im Frieden, jahrein, jahraus solche Arbeit verrichteten, selber dabei aber ebenso wenig fanden, als die in Regenmänteln kontrollierenden Aufseher, und schon glücklich waren, wenn der „Schieber" den von Nässe und Kälte Zitternden zurief: "Hängt Euch mal fünf Minuten zum Trocknen auf!" Dann flitzten alle schnell unter den Generator, um sich die nassen Lumpen vom Leib abzudampfen, während ein aufgestellter Posten auf den Ingenieur spannte. Bei diesen plötzlichen Temperaturschwankungen hatte natürlich jeder in der Kolonne Husten, Schnupfen und Reißen, und auch die Grippe machte sich bemerkbar.
Den Kollegen gegenüber biss Sukrow die Zähne zusammen, um sich keine Schwäche anmerken zu lassen. Hatte er ihnen auch seinen eigentlichen Beruf verhehlt, so verriet doch seine Sprechweise und noch mehr seine Ungeschicklichkeit, dass er kein Mann vom Bau war. Sie hielten ihn daher für irgendeinen verhungerten „Heringsbändiger", womit sie ihn häufig hänselten.
Sukrow, zufrieden, sie auf falscher Fährte zu wissen, ließ sie bei ihrem Glauben.
Und noch vor einem anderen Menschen hütete er sich, seine Schwäche zu bekunden: vor Ruckers.
Ohne ihn wäre er schon nach drei Tagen auf und davon gegangen. Aber dieser „Radikale" sollte nicht Gelegenheit bekommen, über Intellektuelle und überzeugte Republikaner zu höhnen. Er hatte sich diese Suppe hier selber eingebrockt, und die wollte er nun auch bis zu Ende auslöffeln. Ruckers hatte fest versprochen, ihn bei der erstbesten sich bietenden Gelegenheit als Lehrhauer im Schacht unterzubringen. Darauf wartete er, wie auf den Tag der Erlösung, weshalb er nicht müde wurde, auch nachdem er von Ruckers fortgezogen war, Abend für Abend dort vorzusprechen.
Am Tage nach der ersten Lohnabschlagszahlung war er in das „Junggesellenheim" des Stahlwerkes übergesiedelt, da die Enge der Ruckersschen Wohnung ein längeres Bleiben taktlos erscheinen lassen musste. Auch das Schlafen in einer Kammer mit dem Schwerkriegsbeschädigten, dessen schweres Röcheln ihn oftmals am Einschlafen hinderte, war ihm unangenehm.
In seiner neuen Heimat stellten sich aber sogleich Missstände heraus, die die vorhergegangenen noch geringfügig erscheinen ließen. Das so genannte „Bullenkloster" war in einer Baracke untergebracht, die während des Krieges als Unterkunft für belgische Zivilzwangsarbeiter diente. Je acht Arbeiter wohnten hier in kleinen Verschlägen, die mit ihren kahlen, braunen Wänden, den schmalen nummerierten Wandschränken, den übereinander getürmten Bettstellagen und den dreibeinigen Holzschemeln an die Ungemütlichkeit der verhassten Kasernenstuben erinnerten. Sie hatten diesen gegenüber noch den Nachteil, dass sie nicht einmal heizbar waren. Um etwas Wärme in die Räume zu locken, musste man die Türen nach dem Mittelgang zu offen lassen, wo zwei eiserne Öfen Tag und Nacht in Rotglut standen. Dennoch fror man jämmerlich unter den dünnen Decken, so dass viele sich halbbekleidet zum Schlafen niederlegten.
Die Stubenkollegen selbst trugen noch dazu bei, den Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu machen. Alle Barackeninsassen waren ortsfremd. Sukrow forschte unter ihnen vergeblich nach irgendwelchen geistigen Berührungspunkten. Ihre Gespräche, die häufig in Zänkereien ausarteten, drehten sich fast nur um Arbeit und Tanzvergnügen, Kriegserinnerungen und Weibergeschichten, Essen und Saufen, sofern sie nicht Karten droschen.
Dazu kam noch ein anderer Umstand, der ihm den Aufenthalt in diesem „Heim" bald zur Hölle machte. Die Stuben wimmelten von Flöhen. Wenn er morgens sechs Uhr mit seinem „Henkelmann" zum Werk kam, begab er sich regelmäßig erst zum Abtritt, um die lästigen Peiniger aus den Strümpfen zu schütteln. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln hatte er bereits die ganze Familie Ruckers mit diesen hüpfenden Gesellen versehen. Frau Ruckers, die die Sauberkeit selbst war, konnte sich diese Einquartierung gar nicht erklären, und wischte nun täglich mit Lysolwasser auf.
Sukrow war das besonders peinlich, da er in der Öde seines jetzigen Lebens den Umgang mit dieser Familie nicht aufgeben mochte. Als er eines Abends ausgeblieben war, begrüßte ihn Frau Ruckers mit einem gelinden Vorwurf.
„Unser Hannes sagte schon, der Ernst wird wohl eine bessere Gesellschaft gefunden haben!"
„Bessere Gesellschaft? Wo sollte man die in diesem Rußpott wohl finden?" antwortete Sukrow verdrießlich. Er dachte an die gemütlichen Abende, da er mit Hannes und Mâry gemeinsam Bücher gelesen oder diskutiert hatte; Vater Ruckers war meist in Versammlungen und Sitzungen. Hatte man sich müde diskutiert, so ergriff er wohl die Laute, die sich Hannes seit kurzem zugelegt hatte. Sukrow war ein vollendeter Spieler, hatte auch eine annehmbare Gesangsstimme, und es schmeichelte ihm ein wenig, wenn er immer wieder zum Singen aufgefordert wurde.
Besonders war das der Fall, wenn die Aufforderung von Mary ausging. Sie hatte dunkelgraue Augen und glänzendes, braunes Haar, war aber nichts weniger als schön. Dazu war ihre vom Vater ererbte Stirn zu eckig und die Nase zu groß. War es nun ihr schnell begreifender Geist, war es die melodisch klingende, rheinische Mundart oder dieser eigenartige Zug von Melancholie, der wie bei so vielen Grubenangehörigen auch in ihrem Gesicht die Tragödie dieses Berufes und dieser ewig trauernden Landschaft widerspiegelte?
Sukrow, der im Innern noch immer die Idealgestalt der schönen Fabrikantentochter bewahrte, versuchte vergeblich sich darüber Klarheit zu verschaffen, warum sie ihm gefiel!
Gestern war er nur studienhalber einer Einladung seiner Stubenkollegen gefolgt. Wüste Bilder in schmutzigen Branntweinschenken, wo man den „Chabau" aus Biergläsern trank, hatte er mit ansehen müssen, ehe er unter einem Vorwand entweichen konnte. Die erst spät heimkehrenden Kumpane hatten ihn dann in ihrer Trunkenheit mit den unflätigsten Schimpfworten bedacht, was seinen Wunsch nach einer baldigen Wohnungsveränderung nur noch größer machte.
Eigene Wohnungen waren in Swertrup selten und kostspielig. Seufzend gestand er sich an Hand seiner Lohntüte, dass er vorläufig daran überhaupt nicht denken konnte. Ein Stundenlohn von 3,50 Mark hörte sich wohl großartig an, zerrann aber unter der Hand in ein Nichts. Nach Abzug der Beiträge sowie der Miete und des Kostgeldes, die von der Zechenverwaltung vorsichtigerweise gleich für eine Woche im voraus einbehalten wurden, verblieb nur ein schäbiger Rest für Wäsche, ein paar Zigaretten und etwas Zubrot, das man hintenherum zu Wucherpreisen als Ergänzung zu dem fettarmen Heimessen kaufen musste.
Melancholisch betrachtete er seine zerschundenen Hände. Er brauchte dringend ein Paar lederne Handschützer, denn die grantigen Schrotteile schnitten ihm trotz der von Frau Ruckers genähten Fausthandschuhe immer wieder tief ins Fleisch. Seine wunden Finger waren schon nicht mehr imstande, die Saiten der Laute rein abzugreifen. Nicht minder nötig waren ein Paar feste Stiefel. Auch sein Arbeitszeug begann, ungeachtet aller Flickversuche, sich in seine Bestandteile aufzulösen.
Bis jetzt, hatte er seine Arbeit immer noch als eine Art Sport, als ein interessantes soziales Experiment angesehen - oder es sich selbst suggeriert. Man war doch Werkstudent, wenn auch „inkognito", man stand geistig und sozial immerhin über diesen Umständen, die alles in allem doch nur einen „Übergang" bildeten.
Als er aber eines schönen Tages in seinen Sonntagsstiefeln zwei große Löcher in den Sohlen entdeckte, ohne Geld für die Ausbesserung zu besitzen, da dämmerte auch in ihm das für den ersten Augenblick erschreckende Gefühl der völligen Zugehörigkeit zu seiner trostlosen Umgebung auf. Er hatte keinerlei Möglichkeit, sich das fehlende Geld anders als durch Vorschuss, genauso wie die „Kollegen", zu besorgen; ebenso wenig vermochte er sich aus dieser Lage durch eigene Kraft herauszuheben.
Das auf den ersten Eindruck so überaus interessante, ja romantisch erscheinende Industriegebiet war ihm bereits gründlich über, ja sogar verhasst. Er hasste diese Sirenen, die mit herrischem Geheul hier das ganze Leben regelten. Hatte er anfangs einen gewissen Reiz empfunden, so morgens in Reih und Glied mit der tausendköpfigen Arbeiterarmee an seinen Posten zu eilen, ein winziges Rädchen in dieser gewaltigen Arbeitsmaschine zu bilden, so kam er sich jetzt hierin doch schon abgelaufen vor.
Die große verräucherte Stadt mit ihren unschönen, lediglich auf Nutzeffekt erbauten Häusern, die himmelbeherrschenden Schornsteine mit den ewig aushängenden Rauchfahnen, die krasse Unkultur, die sich hier täglich bis ins Bizarre verzerrt darbot, flößte ihm bereits einen physischen Ekel ein.
Eines Abends, es war der dritte Sonnabend nach seinem Arbeitsbeginn bei Flaschner, sah er in einem Zimmer des Junggesellenheims ein Buch liegen: „Das Feuer", von Henri Barbusse. Da er hier noch nie etwas anderes als Schundromane erblickt hatte, interessierte ihn um so mehr der Besitzer des Buches, der, in seine Zeitung vertieft, es neben sich liegen hatte.
„Kollege, willst du mir nicht mal ,Das Feuer' borgen?" wandte er sich an den Arbeiter.
Der Angeredete warf seine ihm in die Stirn gefallenen Haare zurück.
„Wenn du es nicht dreckig machst, und es nicht weiter verborgst, warum nicht? Was liest du denn sonst, etwa ,Krieg und Liebe´?"
Sukrow lachte hellauf. „Dann dürfte mir wohl Barbusse wenig Freude machen!" Und er begann den Inhalt seiner Bücherkiste aufzuzählen, die noch immer bei Ruckers in der Kammer stand. Der andere riss die Augen auf.
„Mensch, was willst du denn mit Marx' ,Kapital´, das versteht in dieser Form unsereiner, der weiter keine Vorbildung hat, doch nicht. Da gibt's doch populärere Schriften."
Sukrow sah sich erst prüfend um, ehe er lächelnd -es sollte gleichgültig klingen - antwortete:
„Nun, so'n bisschen Vorbildung habe ich zufällig auch!"
Der junge Arbeiter pfiff durch die Zähne.
„Aha, wohl so ein Stück Werkstudio, was? Und jetzt gehst du Kohlenschippen! Davon haben wir schon eine ganze Menge hier gehabt, lauter solche arme Hungerleider, die sich ein paar Kröten verdienen wollten, weil sie vom Studieren allein nicht satt werden. Aber ausgehalten hat keiner lange. Wie lange bist du denn schon hier, und wie gefällt dir das Flaschner-Sanatorium?"
Die drastische Art des andern, die Dinge gleich beim rechten Namen zu nennen, stieß Sukrow ebenso ab, wie sie ihn anzog. Immerhin froh, auch hier einen Menschen von einem gewissen Niveau gefunden zu haben, gab er die nötigsten Auskünfte, wobei er es aber nicht unterließ, anzudeuten, dass er eigentlich das Geldverdienen gar nicht so nötig habe. Auf den Arbeiter schien diese Bemerkung nicht den geringsten Eindruck zu machen.
„Schrott abladen? Na, dann haben sie dir man auch die ekelhafteste Mistarbeit gegeben. Musst zusehen, dass du, wie ich, an die Walze kommst, da bist du im Trockenen und kannst die Stunde sechs Mark schreiben. Aber dafür suchen sie dir auch einen ab", setzte er hinzu. Als er hörte, dass jener auf Bergarbeit reflektierte, lachte er laut auf.
„Da lass die Finger davon. Ich war acht Wochen mal Schlepper im 300-Meter-Stollen. Hauer willst du gar werden? Was ihr Studenten euch alles austüftelt! Wie lange willst du denn das machen? So acht Tage, was, und nachher dicke Artikel über den Segen des Zwölfstundentages schreiben, he? Du, da sieh dich vor, dass dir die Kumpels nicht das Kreuz dabei einschlagen, die haben hier damit ihre Erfahrungen gemacht und sind höllisch geladen."
Als Sukrow nach zwei Tagen das berühmte Buch des französischen Schriftstellers zurückgab, war natürlich ein längeres Gespräch über das Kriegsproblem nicht zu umgehen. Er machte dabei dieselbe Erfahrung wie bei Ruckers, dass sein ganzes intellektuelles Wissen vor der praktischen Logik des einfachen Arbeiters nicht bestand. Max Grothe war, obwohl nur zwei Jahre älter als Sukrow, schon weit in der Welt herumgekommen. Aus Bremen gebürtig, entlief er mit sechzehn Jahren einem rohen Meister. Durchwanderte teils zu Fuß, teils mit erarbeitetem Geld kürzere Strecken fahrend, ganz Deutschland, Holland, Belgien und Frankreich bis zu den Pyrenäen. Hier und dort jede Arbeit mitnehmend, diente sie ihm doch nur immer als Mittel, um weiterzukommen. Inniger Kontakt mit der gewerkschaftlichen Organisation hinderte sein Hinabgleiten auf das gewöhnliche Kundenniveau". Was ihm noch an Weltkenntnissen fehlte, das holte zum guten Teil der Weltkrieg nach, der ihn bis nach Palästina und schließlich als Kriegsgefangenen nach Malta führte.
Grothe war, das merkte Sukrow sehr bald, Kommunist und hatte daher zu allen Problemen eine gerade entgegengesetzte Einstellung. Glaubte Sukrow an die Evolution, so begründete Grothe die Weitertreibung der Revolution, die in eine Weltrevolution ausmünden müsse. Pries er den Segen der Demokratie und Verfassung, so höhnte jener über Belagerungszustand, Schutzhaftschande, Presseknebelung und Säbelregiment und machte sich über die längst überständige Nationalversammlung, die noch immer nicht sterben und einem neuen Reichstag Platz machen wollte, lustig.
So geht's nicht weiter!" Wie oft war ihm das seit jenem ersten Male in der Eisenbahn nicht schon zu Gehör gekommen. Leute jeder sozialen und politischen Färbung führten es im Mund.
Beim Friseur schlossen die Schimpfkanonaden der kleinen Geschäftsleute über die Zwangswirtschaft regelmäßig mit diesem Ausruf. Und gestern sprang es ihm sogar aus einem Brief von seiner Mutter aus Berlin entgegen. Als Abschluss ihrer Klage, dass die Brikettpreise abermals um fünf Mark pro Zentner erhöht waren.
Solche Schlagworte sind mit einem Male da. Niemand hat sie geprägt, sie liegen förmlich in der Luft wie die Grippebazillen und verbreiten sich auch demgemäß. So war es im Kriege mit der Redensart vom „Totsiegen", die den Tatsachen bereits Jahre vorausgeeilt war.
„So geht's nicht weiter" - damit war doch das ganze politische und wirtschaftliche System gemeint. Was jener Industrielle in der Eisenbahn damit sagen wollte, war ja ganz klar. Dem passte die ganze Richtung nicht.
Den Radikalen, den Kommunisten, wie Grothe, und Unabhängigen, wie Ruckers, denen passte die Richtung auch nicht. Sie waren wenigstens ehrlich und sagten, dass sie einen neuen Umsturz mit Diktatur und Bolschewismus wollten.
Und die Mittelständler, die kleinen Krauter und dergleichen, die konnten eben nicht einsehen, dass man nach vier Jahren Kriegführen wieder neu anfangen muss. Schwer war das ja zu begreifen! Er dachte an seinen alten Vater, der nach einem Leben voller Arbeit und Entbehrungen sich völlig um den Ertrag seines Fleißes betrogen sah und wieder als kleiner Markthändler von vorne anfangen musste.
Und er selber? Ihm war es auch nicht auf der Bank im Lessing-Gymnasium gesungen worden, dass er trotz Abitur und Immatrikulation mit der „Schippe in der Hand", Schulter an Schulter mit Proleten arbeiten werde. Dazu gehörte schon allerlei Selbstverleugnung. Hier hatte er überhaupt noch niemand getroffen, der als entschiedener Republikaner anzusprechen war. Es gab, bei Licht besehen, eigentlich überhaupt keinen Stand oder Klasse, auf die sich die junge deutsche Republik so stützen konnte, wie sich zum Beispiel die Monarchie auf ihre Offiziere, Beamten, Junker und so weiter stützte. Umso notwendiger erschien es, für den republikanischen Gedanken zu werben.
Bei den Arbeitern siegte ja - langsam zwar, aber sicher - die „bessere Einsicht". Die Kumpels fuhren wöchentlich zwei halbe Überschichten. Glatt war es natürlich nicht überall abgegangen. In Essen streikten noch jetzt die Zechen „Amalie", „Helene" und „Prosper 1 und 2". In Swertrup hatte es wesentliche Schwierigkeiten nur auf Zeche „Beate" gegeben, wo die radikale Bergarbeiter-Union stark vertreten war. Als der Sekretär Reese vom Bergarbeiterverband die Notwendigkeit der Überstunden nachzuweisen versuchte, schrie man ihn nieder. Dann kam eigens der Vorsitzende Husemann, und es ergab sich schließlich eine geringe Mehrheit für Überschichten. Aber schon in den ersten Tagen trat ein Mangel an Transportmitteln ein, so dass man die geförderten Kohlen auf Halden schütten musste. Über diese Wendung der Dinge kam es zwischen Sukrow und Grothe zu lebhaften Auseinandersetzungen. Grothe versuchte die Planlosigkeit der Kohlenbeschaffungskampagne nachzuweisen. Zur Reparatur der Waggons und Lokomotiven fehlten angeblich die Gelder, während man sich anderseits erst von der Entente zur fünfzigprozentigen Herabsetzung der Vierhunderttausend-Mann-Armee zwingen lässt. Sukrow begegnete dem mit dem Hinweis auf die Rote Armee Russlands, aber da kam er schön an.
„Dort", rief Grothe, „sind es bewaffnete Arbeiter und Bauern, die ihre Freiheit gegen kaiserliche Offiziere, Großfürsten und Kapitalisten verteidigen. Koltschak haben sie vernichtet, Denikin in die Krim gejagt, und gestern erst kam die Nachricht, dass General Judenitsch, der erst noch kürzlich vor Petersburg stand, nach Estland getürmt ist. Dieselben Russen, die im Weltkriege bataillonsweise überliefen, jagen jetzt Tschechen, Japaner, Engländer und Amerikaner zum Teufel. Woher kommt das wohl? Nun, weil sie wissen, wofür sie kämpfen. Willst du damit unsere famosen Freikorps vergleichen? Die kämpfen nicht gegen unsere Koltschaks und Denikins, denn die sind ja da mittendrin, stehen sogar an der Spitze. Aber wenn's gegen Arbeiter geht, dann sind sie in ihrem Element. Eines Tages werden sie auch eurer SPD in den Arsch treten."
„Ganz so schwarz wie du sehe ich nicht, aber - viel Schuld haben natürlich die Arbeiter selber, weil sie Reichs- und Sicherheitswehr boykottieren. Darum hat ja Noske erst in diesen Tagen bei seiner Rede in Hamburg aufgefordert, dass sich fünfzehntausend Arbeiter freiwillig melden sollen."
Grothe lachte auf. „Und warum meldest du dich da nicht? Dass Noske in jener Rede auch drohte, allen Streikenden die Knochen kaputt zu schlagen, das hat der ,Vorwärts' natürlich unterschlagen. Nun, was sagst du dazu?"
„Dass wir beide doch nicht einig werden. Du hast deine Ansicht, ich habe die meinige. Wenn du Lust hast, kannst du mit zu Ruckers kommen und dir meine Bibliothek ansehen", antwortete Sukrow verdrießlich. Grothe, der ebenfalls die Fruchtlosigkeit der Debatte empfand, willigte ein.
Als sie auf der Ratinger Straße am hellerleuchteten Portal der „Tonhalle" vorbeikamen, erfuhren sie, dass heute abend eine von der SPD einberufene Volksversammlung zur Überschichtenfrage Stellung nehmen werde. Da treffen wir bestimmt auch Ruckers, lass uns mit hineingehen", schlug Grothe vor.
In dem riesigen Saal schob man bereits Tische und Stühle zusammen, und noch immer neue Massen strömten herein.
Nach der herrschenden Stimmung schien eine bewegte Versammlung bevorzustehen. Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, mit rötlichem Spitzbart, goldenem Kneifer und ziemlicher Glatze eröffnete die Versammlung.
„Das ist Reese vom Bergarbeiterverband. Wenn der leitet, dann herrscht immer dicke Luft", raunte Grothe seinem Nachbar zu. Das Wort zum Referat erhielt der Nationalversammlungsdelegierte Vollmann, der die Notwendigkeit des Überschichtenabkommens mit Beispielen über Kohlenmangel und statistischem Material zu belegen versuchte. Aber schon nach dem fünften Satz setzten Zwischenrufe ein, die sich bis zu lärmenden Unterbrechungen steigerten.
„Ich weiß wohl", fuhr er fort, „dass sich auch in Swertrup und auch in dieser Versammlung Elemente befinden, denen jeder Schritt zum Wiederaufbau und zur Ordnung in Deutschland ein Gräuel ist, die bewusst darauf ausgehen, Unfrieden und Verdruss in unseren Reihen zu säen, um darin ihre schäbige Parteisuppe zu kochen." Seine weiteren Ausführungen gingen in tosendem Lärm unter. Vergeblich suchte der Vorsitzende durch Schwingen der Glocke dem Redner weiteres Gehör zu verschaffen. Sooft dieser wieder zum Reden ansetzte, machte ihn der erneut einsetzende Tumult unverständlich, so dass er sich schließlich erschöpft auf seinen Stuhl niedersetzen musste. Nachdem wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt war, nahm Reese selbst das Wort: „Kollegen und Genossen, mich kennt ihr ja!" Ob wir dich vießen Mopp nicht kennen?" antwortete schlagfertig eine Stimme von der Galerie. Stürmisches Gelächter folgte. Reese tat, als habe er nichts gehört.
" Also Kollegen, in einem, glaube ich, sind wir uns alle ohne Unterschied der Partei einig. So wie bis jetzt geht es nicht mehr weiter! Wir haben Hunger! Unsere Familien hungern, weil die Lebensmittelzufuhren stocken. Und woher kommt das? Der Verkehr liegt brach, weil es wiederum an Kohle mangelt. Das muss jeder einsehen, der in der Schule gelernt hat, dass die Eisenbahnen nicht mit Wind, auch nicht mit Phrasen, sondern mit Steinkohlen betrieben werden. Wir wissen ganz genau, Kollegen, dass mechanische Verlängerung der Arbeitszeit kein Allheilmittel zur Produktionsvermehrung ist. Die wirkliche Ursache der Kalamität ist in den veralteten Schachtanlagen zu suchen!" Stürmisches „Sehr richtig" und Rufe „Na also" brausten durch den Saal. „Wir verlangen, dass sofort Neuabteufungen vorgenommen werden, dass die alten Maschinen durch neue ersetzt, dass ordnungsmäßige Verzimmerungen vorgenommen und überhaupt, kurz gesagt, der ganze technische Apparat neu instand gesetzt wird. Dann werden wir auch wieder die Kohle fördern, die unsere Wirtschaft braucht, und zwar ohne Überschichten!"
Abermals unterbrach wachsender Beifall, den Reese benutzte, einen Schluck aus dem Glase zu tun und einen triumphierenden Blick zu Vollmann hinüberzuwerfen.
„Diesen Standpunkt", fuhr er fort, „haben wir bei den Verhandlungen auch der Regierung unterbreitet. Die Zechenvertreter hatten natürlich Einwendungen."
Zuruf: „Wie immer!"
„Natürlich, Kollegen, wie immer, aber es wird ihnen nichts helfen; denn die Regierungsvertreter, Reichsarbeitsminister Genosse Schlicke und Reichskommissar Genosse Severing, haben uns bei den Essener Verhandlungen volle Unterstützung zugesagt. Jetzt fragt sich nur, was hat im Augenblick zu geschehen? Einen neuen Schacht bis zur Kohlensohle niederzubringen dauert viele Monate. Auch die anderen Schäden lassen sich nicht so schnell ausmerzen. Sollen wir nun derweil ruhig mit ansehen, wie Industrie, Verkehr und Landwirtschaft nach Kohle hungern? Genossen, es sieht böse aus! Fragt nur dort nach, wo die Kohlen nicht, so wie bei uns, vorder Türe liegen. Wer leidet denn da am meisten? Unsere Klassengenossen! Denn die Reichen finden immer noch Möglichkeiten, dass sie nicht zu frieren brauchen. Die große Fabrik von Ludwig Löwe in Berlin hat in diesem Jahre bereits zum zweiten Mal ihren Betrieb wegen Kohlenmangel schließen müssen. Genossen, so reißt man die Arbeiterschaft auseinander, spielt einen Teil gegen den anderen aus, das sollten sich jene Kollegen merken, die gerade immer von sich aus die Einigkeit des Proletariats so sehr im Munde führen. Daraus folgert, dass uns, ob wir wollen oder nicht, vorläufig gar nichts anderes übrig bleibt, als in den sauren Apfel der Überschichten zu beißen."
Mäßiger Beifall erscholl. Sukrow stieß Grothe triumphierend in die Seite. Dieser reckte sich über seine Vordermänner hinweg. „Weißt du denn nicht, dass bereits wieder Kohlen auf Halden geschüttet werden?" rief er, die Hand als Schalltrichter benutzend.
„Aber natürlich weiß ich das", fuhr Reese unbeirrt fort. „Sogar jeder Kumpel weiß, dass man Kohlen nicht nur immer vom Sortierband in die Versandwaggons schüttet. Dass man Reserve haben muss. Bald setzt auch der Wassertransport wieder ein. Kollegen, für uns ist das doch die beste Quittung, dass wir unsere Pflicht voll erfüllen. Wir werden auch nicht versäumen, diese Rechnung bei den Tarifverhandlungen zu präsentieren. Jetzt ist es an den anderen, ihre Schuldigkeit zu tun. (Zuruf: ,Thyssen soll zahlen!') Jawohl, Kollegen, das auch. Aber Kohlen ohne Verkehrsmittel nützen uns auch nichts. Alles für den Wiederaufbau unserer Wirtschaft in unserem neu eroberten, republikanischen, deutschen Vaterlande!"
Es mochte vielleicht an den letzten ungeschickten Formulierungen liegen, dass sich in das Händeklatschen unverständliche Zurufe mischten und sich im Saal zahlreiche erregte Diskussionsgruppen bildeten.
„Du meintest doch vorhin selber, dass man die Transportmittel instand setzen müsste", sagte Sukrow zu Grothe.
„Aber nicht so; hast du denn nicht verstanden, wo der hinauswill; die Eisenbahner sollen auch Überstunden machen", schrie Grothe aufgebracht.
„Ruhe da hinten!" tönte die Stimme eines anderen Versammlungsleiters durch den Saal.
Ein lang und hager gewachsener Mann betrat die Tribüne und begann mit schmetternder Stimme: „Deutsche Volksgenossen und Genossinnen! Wohin geht denn der größte Teil der Kohle, die der Bergmann dem dunklen Schoß der deutschen Erde abringt? - Nach dem Versailler Schmachfrieden haben wir allmonatlich 1680000 Tonnen Reparationskohle an unsere Feinde zu liefern. Eure Minister begaunern euch vorn und hinten, füllen sich nur die Taschen, wie dieser Erzberger, der jetzt in Berlin von einem deutschen Gericht enthüllt wird. Das ist derselbe Erzberger, der mit dem berüchtigten Scheidemann 1918, als unsere heldenhafte Armee kurz vor ihrem Endsieg stand, uns den Dolch in den Rücken stieß. Nur so, meine Damen und Herren, war es möglich, uns dieses Friedensdiktat aufzuzwingen! Nur so sind unsere Feinde in der Lage, uns bis aufs Hemd auszuplündern, ihren Übermut so weit zu treiben, dass sie sogar die Auslieferung deutscher Männer, die nichts weiter als ihre vaterländische Pflicht getan haben, an ihre Rachegerichte fordern."
Jetzt kam die sich immer mehr bemerkbar machende Unruhe zu hellem Aufruhr.
„Man immer los, weg mit dem ganzen Kroppzeug!" „Aus der Luke pfeifst du?" „Runter mit dem Hakenkreuzler!" „Schluss! Schluss!"
Stolz erhobenen Teutonenhauptes kehrte der völkische Propagandaredner auf seinen Platz zurück. Sukrow, der ihm mit den Augen folgte, durchfuhr ein freudiger Schreck. An demselben Tisch, wo sich der Diskussionsredner niederließ, saß die interessante Reisebekanntschaft von damals, als er hier herfuhr. Obwohl sie ungefähr zehn Stuhlreihen entfernt saß und heute nur ein einfaches blaues Kostüm trug, erkannte er sie sofort wieder. So war also ihr beim flüchtigen Abschied auf dem Bahnhof ausgesprochener Wunsch, der ja auch der seinige war, doch in Erfüllung gegangen. Sie trafen sich wieder! Wenn das ein kleiner Fingerzeig des Schicksals war?
Zu weiteren Kombinationen aber kam er nicht mehr, da Peter Ruckers begonnen hatte, mit dem völkischen Provokateur abzurechnen.
„Mit dieser dummen Hetzmethode", sagte er in seiner bedächtigen, aber von unterdrückter Erregung zitternden Stimme, „mögen diese Herrschaften wohl in Oberbayern und Hinterpommern Glück haben. Aber die Ruhrkumpels spannt ihr nicht zum zweiten Male vor euern schwarzweißroten Dreckkarren!"
Lauter Beifall und Händeklatschen unterbrach hier seine Ausführungen.
„Ich will", sprach Ruckers weiter, „nicht zum soundsovielten Male die blöde Dolchstoßlegende widerlegen. Aber setzen wir doch mal den Fall, wir hätten so glänzend gesiegt, wie es nach Ansicht des Vorredners möglich gewesen wäre. Glaubt ihr, wir hätten dann in Deutschland eitel Milch- und Honiglecken? Die Jüngeren von uns hätten dann das Vergnügen, als Besatzungstruppen im besetzten feindlichen Gebiet zu stehen. Und wir anderen? Wir müssten uns zu Hause mit unseren Unternehmern herumschlagen, wie jetzt wieder die französischen Eisenbahner und die Dockarbeiter in England. In diesem Krieg gab es nur einen Sieger, das ist der Kapitalist, der hüben und drüben sein Schaf lein ins Trockene brachte! Glaubt jemand im Ernst, unsere Thyssen, Haniel, Klöckner, Krupp, Stinnes würden uns im Falle des Sieges um ein Haar humaner behandeln? Nein Kollegen, der Proletarier hat noch kein Vaterland, aber er wird es sich noch erobern. Jawohl, wie unsere russischen Brüder! Darum sollen auch die nationalen Söldlinge ihr schwarzweißrotes Stroh woanders dreschen. Der Proletarier hat nur einen Feind: das ist die internationale Kapitalistenklasse ... " Er wollte noch weitersprechen, aber der stürmische Beifallsjubel hinderte ihn daran. Und plötzlich schwang sich aus der dichten Menschenmenge der Gesang der Internationale empor.
„Die Versammlung ist geschlossen", brüllte Reese in den Saal, wohl einsehend, dass nichts mehr herauszuholen war. Unter brausendem Gesang leerte sich der Riesensaal nur langsam.
Als Sukrow sich nach dem völkischen Helden und dessen Begleiterin umsah, waren diese in dem Menschengewühl spurlos verschwunden.

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