2. KAPITEL
Bei der fast zweistündigen, von mehrmaligem Umsteigen unterbrochenen Fahrt bekam Sukrow einen Vorgeschmack von dem gewaltigen Ausmaß dieser Industriestädte, die kein Ende nehmen wollten. Überall rauchende Schlote und Hochöfen, Fördertürme mit knarrenden Seilscheiben, funkensprühende Essen! Unter grellleuchtenden Glasdächern stampften und rollten die Walzen, dröhnten die Hämmer, schrillte und läutete der gepresste Stahl. In halboffenen Gusshallen hantierten schwarze Zyklopen an sternensprühenden Gießpfannen.
Schienenstränge mit endlosen Güterzügen kreuzten die Straßen, während hoch in der Luft, an schwankenden Seilen, Kohlenkarren pendelten, die irgendwoher aus dem Dunkel der Nacht kamen und irgendwohin verschwanden. Dann fuhr man über schwarze Wasserläufe, auf denen die Lichter eingefrorener Kohlenkähne blinkten.
Mit großem Interesse betrachtete er die ein- und aussteigenden Fahrgäste. Solche eigenartigen, ja verwegenen Arbeitertypen hatte er noch nirgends gesehen. Meist untersetzte, harte Gestalten mit oft geschwärzten Händen und ebensolchen Gesichtern, aus denen das Weiße der Augen unheimlich herausleuchtete. Durchweg in abgerissener Arbeitskleidung, den verbeulten Schlapphut tief im Gesicht oder die Schiebermütze verwegen auf einem Ohr. In der Hand den emaillierten „Henkelmann" oder den Proviantkorb mit der Tageszehrung über die Schulter geworfen. Fast jeder rauchte nach der schweren Tagesfron seine Stummelpfeife oder Zigarette, so dass die Luft im Wageninnern zum Schneiden war. Es roch nach schlechtem Knaster, Menschenausdünstungen, abgestandenem Essen und schlechtem Fusel, so dass dem jungen Studenten selbst auf der geschlossenen Plattform übel wurde.
Da die Wagen überfüllt waren, klammerten die Zurückgebliebenen sich an Griffe und Vorsprünge, machten die lebensgefährliche Fahrt auf Trittbrettern und Kuppelungen mit.
„Zugabe zum Siebenstundentag", bemerkte Ruckers trocken.
Lärmende Unterhaltung, meist auf Rheinplatt oder "Westfälisch geführt, machte die Fahrt nicht angenehmer. Daneben hörte man auch sächsische und schlesische Mundarten sowie das polnische „Psiakrew".
„Das ist noch gar nichts", erklärte Ruckers. „Vor dem Kriege hatten die Polen in manchen Städten bei den Wahlen mehr Stimmen als alle anderen Parteien zusammen. Dazu kamen noch die nicht wahlberechtigten Ausländer: Russen, Ruthenen, Slowaken, Tschechen, Italiener; ein richtiges Babel, wie es schlimmer kaum in Amerika ist. Diese Leute werden durch Unternehmeragenten unter Vorspiegelung hoher Löhne hierher gelockt. Nicht nur, dass sie billiger arbeiten, sie sind auch für die Organisation schwer zu kriegen. Bei allen Kämpfen sind sie für uns schwere Hemmschuhe."
Aber jetzt haben wir doch Tarife", warf Sukrow ein.
Ja, das ist es ja eben", antwortete Ruckers. „Die Ausländer und Neuzugereisten lassen sich durch die ,hohen Löhne' verblüffen. Sie werden auch noch merken, wie teuer das Leben hier ist. Da bleibt für unsereins letzten Endes wenig übrig. Aber solch polnischer Kamerad spart fast allemal Geld. Die Leute sind ebenso zähe wie anspruchslos. Überstunden können sie gar nicht genug schieben. Ein Stück trocken Brot und eine Flasche Kaffee tagsüber, als Abendbrot Kartoffeln mit Quark oder Leinöl, oder wenn es hoch kommt, einen Hering, dazu einen Schluck Fusel und eine Pfeife Rippenstrang -mehr brauchen sie kaum. Miete zahlen sie auch nicht viel. Fast jede polnische Familie hat ihre Kostgänger. Häufig kraucht der von der Nachtschicht in das von der Tagschicht angewärmte Bett."
In Sukrows Brust rangen zwei widersprechende Gefühle miteinander. Ein beglückendes, in dieser gewaltigen Schmiede deutscher Arbeit als tätiges Glied mitzuwirken - und ein beklemmendes, geboren aus einer gewissen Abscheu vor der offenen Unkultur dieser Leute, die morgen seine Kollegen sein sollten.
Diese Beklommenheit steigerte sich, als sie endlich am Ziel der zur Zeche „Hasdrubal I" gehörenden Bergarbeiterkolonie angelangt waren, wo Peter Ruckers seine Wohnung hatte. Zu beiden Seiten der aus festgewalzter Schlacke bestehenden Straßen niedrige, aus unverputzten Ziegeln erbaute Häuschen. Jedes links zwei Fenster, rechts zwei Fenster, in der Mitte eine schmale Tür, obendrauf ein Schornstein, hinter dem Hause ein Schuppen oder Stall! Eines glich in seiner Anspruchlosigkeit dem anderen, nur durch Nummern vor Verwechslung geschützt.
Frau Ruckers machte ein erstauntes Gesicht, als ihr Mann noch in so später Stunde mit einem Logiergast erschien. Sukrow wollte, das im voraus empfindend, sich in einem billigen Gasthaus einquartieren, aber sein Begleiter hatte diesen Einwand mit den Worten: „Das ist meine Alte schon gewöhnt", abgeschnitten. Ebenso wenig konnte er sein Anerbieten, das aufgehobene Essen mit ihm zu teilen, ausschlagen. „Wenn's nicht reicht, essen wir eben noch eine Schnitte", sagte der Gastgeber und teilte den Topfinhalt, weiße Bohnen in Brühe, in zwei gleiche Portionen.
„Ich bringe Ihnen noch gleich ein Paar warme Pantoffeln", sagte Frau Ruckers und ging, um in der Nebenkammer die Vorkehrungen für die Nacht zu treffen.
„Das sind unsre Jüngsten", sagte Ruckers, als draußen Schritte vernehmbar wurden und ein etwa siebzehnjähriger Bursche und ein nur wenige Jahre älteres, brünettes Mädchen das Zimmer betraten. „Hans und Mary heißen sie."
„Die Mary soll gleich mal helfen kommen", ertönte Frau Ruckers' Stimme aus dem Nebenraum, die Vorstellung unterbrechend. Das Mädchen verschwand geräuschlos, der Junge setzte sich ohne weitere Umstände an den Tisch. Sukrow empfand ein unangenehmes Würgen in der Kehle, die Augen, mit denen der junge Mensch den Essenden zuschaute, bekundeten kaum verhaltene Gier.
Der Vater ließ sich nicht stören. „Die Jugendversammlung schon aus?" fragte er, ohne das Löffeln zu unterbrechen.
„Der Referent hat uns wieder mal im Stich gelassen, da machten wir nach Erledigung des Organisatorischen für die Märzfeier Schluss", entgegnete der Junge.
Ist das nun Ihre ganze Familie?" fragte Sukrow.
„Der Hannes ist unser Jüngster", antwortete Ruckers, sich den Bart abwischend. „Er lernt Buchdrucker, denn ich will nicht, dass er auch solch Bergsklave wie sein Vater wird. Die Mary, meine Zweitälteste, haben Sie ja eben gesehen. Die ist Verkäuferin in einem Schuhgeschäft. Zwei sind als kleine Kinder gestorben. Der Älteste aber..."
Sukrow folgte einer Bewegung, die sein Quartierwirt mit dem Kopf nach dem Ofen hin machte und erschrak. Was er nämlich dort auf dem Lehnstuhl für ein Bündel Kleider gehalten, bewegte sich jetzt, und ein fauchendes Geräusch, wie bei einem Ventil, drang an sein Ohr.
„Erschrecken Sie nicht, das ist mein Ältester, der Ludwig, oder vielmehr das, was noch von ihm übrig ist", sagte Ruckers mit schwerer Stimme und lüftete den grünen Lampenschirm. Das Licht fiel auf ein menschliches Wrack, dem beide Füße fehlten und dessen Gesicht ebenfalls furchtbar verstümmelt war.
„Eine Handgranate", sagte Ruckers und setzte das Wrack zurecht. „Sehen kann er bloß noch auf einem Auge, an der linken Hand fehlen drei Finger, und außerdem hat ihm das Giftgas Lungen und Stimmbänder zerfressen."
„Dann lieber gleich tot", flüsterte der junge Mann schaudernd.
Er empfand es taktvoller, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, wozu ihm das Bücherbrett über dem Sofa den geeigneten Anlass bot. Neben Marx, Engels, Lassalle und Bebel, Heine, Freiligrath, Herwegh, Goethes Faust, Bellamis Rückblick aus dem Jahre Zweitausend, auch Gedichte von Klara Müller-Jahnke und Heinrich Kämpchen, Liebknechts Verteidigung vor dem Kriegsgericht, ein technisches Lexikon sowie Romane von Ernst, Nexö, Viebig und anderes mehr.
„Meine guten Freunde von früher her, aber heute kommt man ja vor lauter Arbeit kaum noch zum Zeitungslesen; da besorgen der Junge und das Mädel die Literatur", sagte Ruckers achselzuckend.
„Ich sehe da einiges, was mich interessiert. Wenn ich hier erst festen Fuß habe, möchte ich mir erlauben, einiges zu leihen. Meine Bücherkiste ist hierher unterwegs", sagte Sukrow.
„Haben Sie viele schöne Bücher?" fragte Hannes gespannt.
„Mehr als Sie in einem Vierteljahr auslesen können", antwortete der junge Student mit einem Anflug von Stolz. War er doch in Berlin niemals an einem Bücherkarren vorübergegangen, ohne seinen Inhalt zu durchstöbern, wobei manchmal seine letzten Groschen dran glauben mussten.
„Na Mâry, da haben wir ja wieder Land!" frohlockte der Junge.
„Lesen Sie auch viel?" wandte sich Sukrow an die Schwester, die einen Korb mit Strümpfen zur Hand genommen hatte.
Das junge Mädchen schlug einen Augenblick ihre dunklen, etwas scheuen Augen auf:
„Wenn ich abends um acht Uhr nach Hause komme, wartet gewöhnlich das hier auf mich, dafür sorgt schon unser Hannes", sagte sie, wehmütig auf den Stopfkorb deutend. „Höchstens, dass man mal Sonntag nachmittags zu etwas kommt."
„Kennen Sie Bebeis ,Frau und Sozialismus'?"
„Das habe ich mal angefangen, musste es aber ungelesen wieder abgeben, und seitdem ist es vergriffen."
Das werde ich Ihnen als erstes leihen", sagte Sukrow eifrig. - Frau Ruckers kehrte mit dem Kaffeegeschirr in die
Stube zurück, und bei dem heißen Getränk beriet die ganze Familie mit dem Gast über dessen ferneres Schicksal. Gern nahm der junge Mann das Anerbieten an bis zum Erhalt einer Stellung hier miteinzuwohnen. Im Stillen freute er sich, dass er so gefällige Leute fand, bot sich doch hier zugleich die geeignete Grundlage, von der aus er die beabsichtigten sozialen Studien betreiben konnte.
Ü ber dem Bücherbord hing ein vergilbter Hausspruch mit dem Bild Wilhelm Liebknechts:
„Wir wollen den Frieden, Freiheit und Recht, Dass niemand sei des andern Knecht, Dass Arbeit aller Menschen Pflicht Und niemals es an Brot gebricht."
„Schon zur Zeit des Sozialistengesetzes war ich in der Partei", sagte der Eigentümer stolz. Heute war er radikaler „Unabhängiger", las die Düsseldorfer „Freiheit" und schimpfte auf Mehrheitssozialisten, Republik und Regierung.
Sukrow hütete sich wohlweislich, ihm zu widersprechen, da er sich sagen musste, dass er mit seinen bescheidenen Erfahrungen diesen alten Kämpen, der den Industriellen so spielend auf den Sand gesetzt hatte, nicht zu widerlegen vermochte.
So brachte er das Gespräch wieder auf die schöne Literatur, woran sich aber nur die Jungen beteiligten. Die Frau hörte zu, während sie eine Hose ihres Mannes mit neuem Unterboden versah. Vater Ruckers hatte sich in seine Zeitung vertieft, wobei er die Stummelpfeife kalt im Munde hielt, da wegen des Krüppels im Zimmer nicht geraucht werden durfte. Dieser selbst aber kündete ab und zu durch sein Schnaufen an, dass er jedes gesprochene Wort verstand.
Draußen warf der Wind harten Graupelschnee gegen die Fenster. Als der Freischwinger die zehnte Stunde verkündete, ging man zu Bett, da hier, wie bei allen Bergarbeiterfamilien, der neue Tag bereits um fünf Uhr begann.
Auf Ruckers' Rat machte sich Ernst Sukrow bei Beginn der Dämmerung auf den Weg, um sich die Swertruper Werke bei Tageslicht erst mal von außen zu besehen. Der Alte hatte versprochen, sich für seine „Kohlenkandidatur" einzusetzen. Nachtsüber gefallener Schnee ließ die verräucherten Häuser und die rauchenden Fabrikanlagen in gemildertem Licht fast malerisch erscheinen. Eine ganze Weile sah der junge Mann vor dem Zechenportal von „Hasdrubal I" dem sich emsig drehenden Förderrad und den zur Kokerei schwebenden Kohlenkarren zu.
Schließlich konnte er doch nicht umhin, den am Markenbrett hantierenden Pförtner nach den Arbeitsaussichten zu fragen. Er wurde nach einer mit „Arbeiterannahme" bezeichneten Baracke verwiesen. Auf einer schwarzen Holztafel, die die Überschrift „Eingestellt werden" trug, hing ein weißes Pappschild:
Arbeiter werden nicht eingestellt!
Das gleiche Schild bemerkte er auch auf anderen Zechen und Werken, die er nacheinander in Augenschein nahm. Die Zinkraffinerie, das Blechwalzwerk, das Stahlwerk Flaschner, die chemische Fabrik Kaltenborn und Oppler, keines von diesen Unternehmen benötigte zurzeit Arbeitskräfte.
Vor den Riesenanlagen der „Berg- und Hüttengesellschaft Deutsche Erde" erfuhr er, dass an diesem Morgen zwanzig Transportarbeiter für das Stahlwerk eingestellt worden waren. Aber was sollte ihm das? Erstbeste Kuliarbeit hätte er auch wohl in Berlin erhalten. Er wollte unter die Erde, regelrechte Bergmannsarbeit leisten. In der Arbeiterannahme von „Beate" zuckte man die Achseln. Ja, wenn er Hauer oder wenigstens Zimmermann wäre.
„Lehrhauer? Nein, damit geben wir uns jetzt nicht
ab!"
Also hatte Ruckers doch recht gehabt. Zwischen dem, was in der Zeitung regierungsoffiziös propagiert wurde, und der Wirklichkeit bestand ein großer Unterschied. Seine einzige Hoffnung war noch der Alte. Vielleicht, dass es diesem durch seine Verbindungen gelang, etwas ausfindig zu machen.
Missmutig kehrte Sukrow gegen Mittag nach der eigentlichen Stadt zurück. Seine Illusionen waren weg wie das blendende Weiß des Schnees, der sich mit einer hässlichen Rußschicht überzogen hatte. Dazu verspürte er jetzt einen gewaltigen Hunger. Bis drei Uhr, wo bei Ruckers gegessen wurde, war es noch lange hin. Kurz entschlossen folgte er seiner Nase, die ihn, einem scharfen Sauerkrautgeruch nachgehend, in ein „Speisehaus" führte. An ungedeckten, schmierigen Tischen saßen bereits eine Anzahl Arbeiter, mit Essen beschäftigt. Niemand nahm von dem jungen Menschen in der abgeschabten Militärmontur Notiz, der sich bescheiden an einen freien Tisch setzte.
Endlich begab er sich selbst zur Theke, wo er dem fetten Mann, der in aufgekrempelten Hemdsärmeln mit Tellern und Bestecken hantierte, seinen Wunsch nach Essen vortrug.
„Ja, haben Sie Fleisch- und Kartoffelmarken?"
Sukrow hatte keine, weshalb er die Portion sauren „Kappes", in der sich ein Stück gepökelte Schwarte befand, statt mit drei mit vier Mark bezahlen musste. Da erst fiel ihm ein, dass er, um überhaupt Boden zu fassen, sich erst amtlich anmelden müsste. Fast gleichzeitig mit Ruckers kehrte er nach Hause zurück.
„Ich habe schon was in der Stadt gegessen", wehrte Sukrow die Aufforderung der Frau, mit zu essen, ab; aber er aß doch ohne Mühe seinen Teller voll gelber Rüben leer.
Frau Ruckers lachte: „Das, was die in den Kosthäusern zusammenkochen, hält ja nicht vor."
„Nun, wie gefällt Ihnen denn unser geliebtes Swertrup bei Tage?" fragte Ruckers lauernd.
„Mächtig verräuchert", antwortete Sukrow, der für die in ihm durcheinander quirlenden Gefühle keinen rechten Ausdruck fand.
„Sagen Sie ruhig: dreckig. Sie haben sicher gestaunt, wo der Schnee geblieben ist."
Frau Ruckers fiel ihm ins Wort: „Ich bin hier auch nicht zu Hause. Als ich hier herkam, dachte ich gleich: Was ist das für ein schwarzes Loch? Wenn man mal zu den Feiertagen reine Gardinen aufgesteckt hat, darf man die Fenster gar nicht aufmachen, sonst hat man gleich wieder dicke Rußflocken drauf."
„Was die Grubenarbeit anbetrifft", sagte Ruckers, „da sieht's für Sie augenblicklich mies aus. Ich habe heute den ganzen Vormittag verhandelt; als freigestellter Arbeiterrat habe ich ja Zeit dazu, aber unser Obersteiger will nicht. Dann habe ich alle umliegenden Zechen antelefoniert. Vielleicht denken Sie sogar, ich mache Ihnen was vor, um Sie abzuhalten, aber Sie können sich ja selbst erkundigen."
" Das habe ich bereits getan", gab Sukrow kleinlaut zu.
„Na, da wissen Sie ja Bescheid. Bei uns arbeiten auch noch russische Kriegsgefangene. Der Krieg mit Russland ist zwar schon drei Jahre beendet, aber man hält diese armen Teufel unter irgendwelchem Vorwand hier noch immer fest. Wenn die weg sind, dann gibt es ja etwas Luft, dann wird man wohl auch wieder Lehrhauer einstellen. Aber ob Sie so lange warten können..." Sukrow wurde rot; offenbar hatte Ruckers seine finanzielle Bedrängnis erraten. Dieser aber fuhr in demselben Ton fort: „Auf den Hüttenwerken wird ja bald mal was verlangt. Vielleicht auch in der Chemischen. Wenn Sie also bis zur passenden Gelegenheit eine Beschäftigung suchen, dann lassen Sie sich nur morgen gleich beim Arbeitsamt vormerken."
Sukrow erklärte, dass er sich schon selber mit dem Gedanken getragen habe. Den andern immer wieder aufsteigenden Gedanken, nämlich gleich zurückzufahren, gestand er nicht einmal vor sich selber ein, geschweige denn vor dem Bergarbeiter, der ihm das schon gestern geraten hatte. Außerdem musste er sich ja auch erst das Reisegeld verdienen.
„Ich verstehe nicht", sagte er, „wie man solche Kampagnen für Steigerung der Kohlenproduktion führen kann, während man hier am Ort wenig davon merkt."
" Ich will Ihnen mal was sagen", begann Ruckers, mit der Gabel auf dem Teller trommelnd: „Was die Regierung will, ist den Zechenbesitzern ganz schnurz. Diese Herren sind dank der in die Weite marschierenden Sozialisierung heute schon obenauf und sogar mächtiger als unter der Kaiserzeit. Denen kommt es gar nicht auf Vermehrung der Produktion, sondern auf Erhöhung der Preise an. Und Sie wissen doch, je knapper was ist, umso höher lässt sich der Preis schrauben. Außerdem will man aus den Kumpels mehr herauspumpen. Darum das Geschrei nach Längerarbeit. Hundert Prozent Aufschlag kriegen wir für Überschichten, aber tausend verdienen die Zechenbarone. Vom 1. März an wird der Preis für die Tonne Steinkohle schon wieder um achtzehn Mark erhöht... Wenn es wirklich nur auf Mehrförderung von Kohle ankäme? Wir haben dazu genug praktische Vorschläge gemacht. Im Krieg ist der ganze technische Apparat verludert. Immer hieß es: es ist Krieg, es muss eben gehen! Jetzt haben wir über zwei Jahre schon Frieden, aber gemacht wird da nichts. Neue Schächte könnten niedergebracht werden, umfangreiche Verzimmerungen sind nötig! Die Unfälle durch Steinschlag aus dem Hangenden nehmen überhand. Die Entlüftung ist miserabel, die Berieselung wird nicht weitergeleitet. Der Kohlenstaub liegt stellenweise fußhoch. Jeden Augenblick kann eine furchtbare Kohlenstaubexplosion einsetzen. Dann heißt es natürlich wieder: Der Kumpel hat schuld... Vorige Woche riss auf ,Beate' das Seil, drei Tote und elf Schwerverletzte! Die Bergbehörden sind noch beim Untersuchen. Das dauert allemal so lange, bis ein neuer Unfall eintritt. Die wahren Schuldigen sind nie zu ermitteln. In Wirklichkeit ist nur die schrankenlose Profitsucht die Ursache. Für Neuanschaffungen ist angeblich kein Geld da. Wo haben die Herren die fetten Profite der Kriegsjahre gelassen? Und was verdienen sie jetzt allein an der Reparationskohle? Wovon kauft Hugo Stinnes die Zechen und Betriebe auf? Von was weiter als von unserem Schweiß und Blut?"
Der sonst so bedächtige Mann hatte sich in immer größere Erregung geredet. Schwer sauste seine Faust auf den Tisch, dass die geleerten Teller hochsprangen.
„Ich begreife nur eines nicht", sagte Sukrow, „dass die Verbände nichts dagegen unternehmen."
Ruckers schlug ein bitter-höhnisches Lachen an. „Die Verbände? Wissen Sie noch, was Sie mir gestern aus dem ,Vorwärts´ vorlasen? Das war auch nichts weiter als solch eine niederträchtige Stimmungsmache gegen uns. Diese Leute kennen unsere Lage sehr gut. Die Gewerkschaftsbeamten sind doch durchweg eingefleischte SPD-Bonzen. Deren soziale Frage ist gelöst mit der schwarzrotgoldenen Republik! Da gibt es aussichtsreiche Posten für sie."
Sukrow musste erst ein paarmal schlucken; dann fragte er:
„Wenn Ihr schon die Kapitalisten bekämpft, warum aber auch die Republik?"
„Weil das ein und dasselbe ist! Diese Republik ist nichts weiter als der geschäftsführende Ausschuss der Kapitalistenklasse, genau so, wie die wilhelminische Regierung es früher gewesen."
„Oha!" rief der Student und setzte sich nun doch in Kampfpositur.
„Nun also bitte, sagen Sie, was sich in Deutschland zugunsten der Arbeiter gebessert hat, abgesehen von Regierungsform und Reichsflagge, wovon niemand satt wird."
„Nun, vor allem haben wir doch jetzt Demokratie mit Freiheit und gleichem Wahlrecht und..."
Ruckers lachte böse. „Demokratie und Freiheit mit dem Belagerungszustand in Permanenz! Freiheit? Wo Ernst Däumig, Paul Levi und Tausende andere schon seit Monaten ohne Urteil und ohne Anklage in Schutzhaft sitzen. Wo die Meuchelmörder an Liebknecht, Luxemburg und Dorrenbach frei herumspazieren? Gleiches Recht? Dazu gehört ja wohl auch das elementarste Recht des Arbeiters, das Streikrecht. Aber machen Sie nur davon Gebrauch! Vergangenes Jahr war Noske mit seinen Garden hier und gab den Kumpels Aufschluss darüber, wie er das auffasst. Fragen Sie hier herum, wen Sie wollen, nach dem Osterfest von 1919. Sie werden herrliche Tatsachen über angewandte Demokratie erfahren. Und für dieses Staatswesen sollen wir uns begeistern?" „Nu ja, es ist ja noch vieles faul im Staate Dänemark", gab Sukrow. zu. „Aber Rom wurde auch nicht an einem Tage erbaut. Es ist ja auch zu viel alter Schutt zu beseitigen. Mit der Monarchie wurde der Anfang gemacht. Und so wird man eben Schritt für Schritt..."
... Den alten kapitalistischen Hörigkeitsstaat wieder aufbauen", fiel Ruckers ihm grimmig ins Wort. „Mit dem skandalösen Betriebsrätegesetz ist ja ein Anfang gemacht worden! Das halbe Hundert Tote, das sie in Berlin vor dem Reichstag aufs Pflaster streckten, ist kein schlechtes Siegel darunter. Unsere Revolutionserrungenschaften baut man so peu à peu wieder ab. Jetzt maßregelt man sogar schon wieder unsere Vertrauensleute. Drüben in Mörs streikt seit gestern wegen eines solchen Falles die Belegschaft der Zeche ,Rheinpreußen'."
Sukrow gestand sich im Stillen, dass er noch viel weniger als der gestrige Redner, Ruckers Argumenten gewachsen war, weshalb er es für klüger hielt, die Diskussion abzubrechen.
„Nun, es soll denn doch mal erst ein anderer kommen, der es besser macht. Übrigens irren Sie sich, wenn Sie vielleicht annehmen, dass ich Mehrheitssozialdemokrat bin. Ich habe mich absichtlich noch an keine Partei gebunden, aber die politische Linie, die Scheidemann gezogen, halte ich doch für die richtige - bis man mich eines Besseren belehrt", setzte er hinzu.
Nun, dazu würde Ihnen gerade praktische Grubenarbeit sehr gut tun", lachte Ruckers, „aber Hüttenarbeit tut's zur Not auch." Sukrow war beleidigt.
„Bei Ihnen gilt scheinbar auch nur die rohe physische Kraft. Warum soll man nicht auch als Intellektueller die sozialistischen Probleme erfassen? Karl Marx war doch auch kein Hüttenarbeiter."
„Nichts für ungut, lieber Freund", beschwichtigte Ruckers. „Warum das nicht gehen soll? Die Ansichten darüber sind auch bei uns geteilt, und zahlreiche Intellektuelle auf unserer Seite scheinen meine Ansicht nicht zu billigen. Ich aber bin der Ansicht, dass man alles theoretisch erfassen kann, bis auf den Hunger. Sie müssen mal so in Arbeiterkleidung einer solchen feinen Dame, wie der von gestern, in der Straßenbahn begegnen. Wie die die Nase rümpft, von Ihnen abrückt und Ihren Schweißgeruch mit Kölnischwasser vertreibt. Oder mal mit anhören, wie sich solch bornierter Pöbel geringschätzig über die Arbeiter unterhält. Sehen Sie, das alles kann keiner aus Büchern lernen. Auch Sie nicht!" |
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