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Karl Grünberg - Brennende Ruhr (1928)
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16. KAPITEL

Die Lage für die Rote Armee wurde von Tag zu Tag unhaltbarer. Zwar war ein Vorstoß der Reichswehr auf dem westlichen Flügel in Richtung Friedrichsfeld erfolgreich zurückgeschlagen worden, aber die roten Truppen litten Mangel an allem, was der Soldat im Felde gebraucht. Die Lebensmittel kamen unregelmäßig und in ungenügender Menge an. Löhnung war überhaupt nur für die ersten fünf Tage gezahlt worden. An Ersatz für die abgerissenen Kleider und Stiefel war nicht zu denken, ebenso wenig an Decken, so dass die Arbeiter in den Schützengräben in den kalten Märznächten bitterlich froren. Auch Munitionsmangel machte sich stark bemerkbar; es kam vor, dass man die Truppen mit je drei Patronen ins Gefecht schicken musste.
Die Vollzugsräte stießen bei ihren Bemühungen auf schier unüberwindliche Schwierigkeiten, vom einfachen Mangel bis zur Sabotage und zum offenen Widerstand. Nichts aber zermürbt den Kampfgeist einer Truppe mehr, als wenn zum Mangel am Nötigsten das Gefühl der Verlassenheit hinzukommt, wie es sich rasch wachsend bei der Roten Armee breit machte. Dieselbe Truppe, die so heldenhaft gekämpft, freudig zu den höchsten Anstrengungen und Opfern bereit gewesen war, begann sich zu zersetzen, als sie merkte, für eine verlorene Sache zu stehen.
Im Stabsquartier des Swertruper Bataillons, einem verwahrlosten Dorfgasthof, warteten die Kompanieführer auf die Parole. Der Kommandeur war am frühen Morgen telefonisch nach Mülheim zu einer entscheidenden Sitzung der Kampfleiter beordert worden. Jetzt war es fünf Uhr nachmittags, und noch immer blieb er aus.
Kompanieführer Schulz schlug mit seiner Maurerfaust auf den Tisch, dass es krachte. „Die Hagener sollen uns mitsamt den Bielefeldern am Arsch lecken. Wer hat sie ermächtigt, über uns zu verhandeln? Haben wir sie delegiert? Aufhängen müsste man die Halunken, die das Abkommen mit unterzeichneten, mitsamt dem Severing."
„Bis jetzt haben wir uns ja auch noch nicht darum gekümmert und den Kampf fortgesetzt", bemerkte Kleinjohann, der Matrose.
Schulz lachte markerschütternd. „Das nennt ihr kämpfen? Dabei werden sich die Kappisten sehr wohlfühlen. Wenn es nach mir ginge, bombardierten wir Wesel, dass kein Stein auf dem andern bliebe, und dann Generalangriff mit allen Kräften! Die Festung müssen wir als Stützpunkt haben! Was meint ihr wohl, was wir dort an Munition und Fressalien und Kleidung in den Magazinen finden? Und dann hinter Wesel, da gibt's auch noch richtige Landwirtschaft, wo was zu haben ist, nicht solche Hungerleiderei wie hier in den Heidedörfern. Kommt man hier bei einem Bauern rein, möchte man ihm gleich noch was schenken, so verhungert sind die." „Gestatte mal, lieber Schulz", unterbrach ihn der Lehrer Fahrenhorst, „so einfach liegen die Dinge doch nicht. Zum Bombardieren gehören Granaten und Minen, und wie es damit steht, kannst du Kamerad Lubasch fragen, - stimmt es nicht? - Wie es mit der Infanteriemunition steht, weißt du ja selber. Mit blanker Waffe und Begeisterung allein aber stürmt man heutzutage keine Festungen mehr."
„Spar doch deine Schulmeistereien; so viel verstehe ich auch vom Kriegführen, wenn ich auch bloß Vizefeldwebel war", fuhr Schulz gereizt auf. „Wir hätten eben gleich weiterstoßen und hier nicht erst so lange festliegen und warten sollen, bis die Bonzen wieder anfangen, uns zu verhandeln!"
„Hätten, hätten! Was nützt uns denn das? Wir müssen jetzt mit dem rechnen, was ist! Wie liegen denn die Dinge? Wir sind, darüber gebe ich mich keinem Zweifel mehr hin, politisch unterlegen..."
„Sag doch lieber verraten", rief der lange Einzel.
„Meinetwegen auch das, die Wirkung bleibt dieselbe", fuhr Fahrenhorst unbeirrt fort. „Woran das liegt, ist eine Sache für sich. Unter diesen Umständen noch eine Offensive machen, heißt Unzählige ohne jede Aussicht auf Erfolg in den sicheren Tod hetzen. So etwas kann sich wohl ein Ludendorff leisten, aber nicht wir. Das muss man klar erkennen und auch den Mut dazu haben, es auszusprechen. Und darum sollten wir als Männer von Verantwortungsgefühl versuchen, aus dem Bielefelder Abkommen soviel wie möglich herauszuholen. So sehr schlecht, wie viele Genossen es darstellen, scheint es mir gar nicht zu sein."
„Ich weiß, ich weiß", schaltete sich jetzt Grothe ein: „Sozialisierung aller dazu reifen Betriebe - Reinigung der Reichswehr, Sipo und Behörden - Entwaffnung aller am Kapp-Putsch beteiligten Verbände - Amnestie für uns - strenge Bestrafung aller Schuldigen - und so weiter."
„Für uns ist nur ein Paragraph maßgebend, das ist der elfte, der da heißt: ,Es erfolgt sofortige Abgabe der Waffen, Munition sowie Rückgabe des requirierten und erbeuteten Heeresgerätes an die Gemeindebehörden, und die Arbeiter kehren sofort an ihre Arbeit zurück'", sagte Kleinjohann bitter.
„Das heißt zu deutsch", rief Grothe, „bei uns wird angefangen. Nachher könnt ihr euch mit eurem beschriebenen Papier den Hintern wischen, wenn nämlich die anderen wieder mit den Maschinengewehren diktieren! Wenn die Regierung ihre Versprechungen einhalten will, müsste sie von sich aus die ganze Reichswehr auflösen, denn die hielt ja samt und sonders zu Kapp. Stimmt das, oder stimmt das nicht?"
Die Männer pflichteten lebhaft bei, auch Fahrenhorst nickte.
„Bis jetzt ist noch keine einzige Kapp-Kompanie aufgelöst worden, weil die Regierung nicht die Macht dazu hat, vom Willen gar nicht zu reden. Dazu gehört, dass die Regierung über verlässliche Formationen verfügt, die sie eben nicht hat."
„Doch, doch, sind wir denn nicht da", rief Kleinjohann.
„Ja, das ist es eben", antwortete Grothe mit Nachdruck. „Wir sind die einzigen, die dazu in der Lage wären, wir, das organisierte, bewaffnete Proletariat! Aber uns will man nicht. Uns will man wieder entwaffnen, woraus doch der Dümmste erkennt, worauf das Ganze hinausläuft. Sollten wir lediglich darum gekämpft und geblutet haben, dass sich die Bonzen wieder in ihren Sesseln einrichten können?"
„Nimmermehr!" riefen alle wie aus einem Munde, nur der Lehrer drehte schweigend an einer Zigarette.
Schulz warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Wenn wir die Waffen auf dem Swertruper Rathaus abliefern sollen, können wir sie ebenso gut auch bei den Kappisten abgeben, denn die kriegen sie doch wieder in ihre Klauen."
„Lieber alles in den Rhein geschmissen, als auch nur ein Stück abgeben", knirschte Einzel.
„Und wir selber hinterdrein, denn da sind wir wenigstens sicher", lachte Schulz höhnisch.
„Unsinn", bemerkte zur Linden. „Einrücken ins Ruhrgebiet dürfen sie ja nicht,... das heißt, wenn wir die Bedingungen annehmen." Grothe sah ihn mitleidig an.
„Wer soll sie denn daran hindern, wenn wir uns ergeben haben? - Die ganze Wattersche Meute liegt drüben auf dem Sprung und sinnt nur auf Rache. Die Herren Offiziere haben doch ein viel feineres Ehrgefühl als wir Proleten. Die vergessen ihre Prügel ihr Leben lang nicht! Und solche Schmach kann nach ihrem Ehrenkodex nur mit Blut abgewaschen werden!" Fahrenhorst sprang auf.
„Solche Redereien sind unverantwortlich, Genossen! Das Abkommen ist doch nicht nur von Militär und Regierung, sondern auch von Parteien und Gewerkschaften mit unterzeichnet. Und ich habe doch noch so viel Vertrauen zu den deutschen Arbeitern, dass sie uns da nicht im Stich lassen. Wenn das eintreten würde, was Grothe an die Wand malt, würde ganz Deutschland wieder im Generalstreik aufflammen."
„Was du nicht sagst?" - Grothe maß den Lehrer, der hochroten Kopfes dastand, mit geringschätzigen Blicken.
„Generalstreik gegen einen neuen Putsch? Dann wären wir ungefähr wieder da, wo wir am 13. März waren, bloß mit dem Unterschied, dass wir diesmal auch noch die Regierung gegen uns haben. Generalstreik? - Hat uns denn der bloße Streik vor den Angriffen der Kappisten schützen können? Mussten wir nicht selber zu den Waffen greifen, uns wehren?" Fahrenhorst machte eine unwillige Geste, antwortete aber nichts.
„Ja, nun bist du platt?" höhnte Schulz.
„Sukrow kommt", rief Kleinjohann, dessen feines Ohr trotz des lauten Wortwechsels die Hupe des Stabsautos erkannt hatte. Aller Augen forschten gespannt in den Gesichtszügen des jungen Kommandeurs, aber der finstere Ausdruck seiner tief in den Höhlen liegenden Augen verriet nichts Gutes. Schwerfällig ließ er sich auf seinem Platz nieder und klatschte die Aktentasche auf den Tisch.
„Genossen", begann er mit klangloser Stimme, die vor innerer Erregung stockte, „was ich gefürchtet habe... ist Wahrheit geworden... wir sind verraten!"
Mehrere Minuten lang hörte man neben dem Ticken der Schwarzwälder Uhr nur das schwere Atmen der Männer, die düster vor sich hin starrten. Nur Schulz sah den Bataillonskommandeur mit fiebrigen Augen an, als wollte er von dessen Gesicht noch irgendeinen Trost ablesen. Dann aber stützte er den verwetterten Kopf in die mächtigen Hände und begann plötzlich zu schluchzen.
„Was soll nun werden?" fragte. Grothe tonlos.
Sukrow riss sich zusammen, nahm einen tiefen Schluck aus einer dargereichten Bierflasche und begann:
„Am Freitag nahm unser Zentralrat mit großer Mehrheit eine Resolution an, dass wir auf die papiernen Versprechungen der Regierung hin kein Gewehr niederlegen.
Es wurden aber neue Verhandlungen beschlossen. Sollten auch diese nicht die für uns notwendigen Garantien ergeben, so sollte die Parole ausgegeben werden, lieber kämpfend unterzugehen, als sich zu ergeben! In diesem Falle wollte man selbst vor Zerstörung der Schachtanlagen nicht Halt machen."
„Das war doch wenigstens ein "Wort", polterte Schulz dazwischen.
„Aber am Sonnabend", fuhr Sukrow fort, „tagte der Hagener Zentralrat mit Vertretern aller politischen Parteien. Lehrer Stemmer legte ihnen das ,Unhaltbare' der militärischen Situation dar, worauf sie beschlossen, uns aufzufordern, sofort den Kampf einzustellen und unsere Front drei Kilometer auf die Linie Dinslaken-Hünxe-Dorsten zurückzunehmen. Der Unabhängige Ernst kam selber nach Mülheim, um in der Konferenz unserer Kampfleiter seine Resolution durchzudrücken. Er sagte, dass ihm Watters und Severings Ehrenwort als Sicherheit vollkommen genüge."
„Habt ihr ihm nicht auf die feige Schnauze gehauen?" fragte Kleinjohann.
„Er sollte ja auch als Verräter verhaftet werden; es kam aber nicht mehr dazu, seine Freunde halfen ihm, zu entkommen."
Fahrenhorst schüttelte missbilligend den Kopf. „Und was wurde beschlossen?"
„Neue Verhandlungen mit dem Ziel: alle Waffen in die Hände der organisierten Arbeiterschaft! Bis dahin aber Fortführung der militärischen Aktion. Sollte aber die Regierung die Offensive anordnen, dann Aufruf zu neuem Generalstreik!"
„Richtig!" „Bravo!" erscholl es. Fahrenhorst rutschte nervös auf seinem Sitz hin und her.
„Ich habe euch noch nicht alles gesagt, Genossen", sprach Sukrow, „das Schönste kommt erst noch. -Ernst hatte, als er nach Hagen zurückkam, nichts Eiligeres zu tun, als an den Regierungskommissar Mehlich folgendes Telegramm zu schicken:
,Gegen Mülheim und Wesel muss im Notfall nach Verständigung einwandfreie Truppe unter Aufsicht eingesetzt werden'."(Anm: historisch)
„Das ist nicht wahr, das ist gelogen", schrie Fahrenhorst aufgebracht.
„Willst du mich als Lügner hinstellen?" fuhr Sukrow empört auf.
„Nicht dich, aber man hat dich falsch informiert", rief der Lehrer erregt.
Sukrow lächelte mutlos. „Genossen, es sind noch andere Dinge passiert. ,Im Notfall' und ,Nach Verständigung!' - Wisst ihr, was das bedeutet? Hör zu, Kompanieführer Fahrenhorst! Die Hagener sind im Begriff, gegen uns eine Arbeitertruppe in Marsch zu setzen, die uns durch Abschneiden der Etappen zum Rückzug zwingen soll. Ob sie genügend Schufte dafür finden werden, ist ihnen wohl selber noch zweifelhaft, deshalb soll ,im Notfall', ,nach Verständigung' - das heißt mit den Hagener Verrätern - die Reichswehr vordringen. Das ist authentisch, Genossen, ich kann's sogar schwarz auf weiß zeigen!"
„Teufel, das sind Arbeiterführer?" keuchte Schulz, der, an allen Gliedern bebend, einen furchtbaren Anblick bot.
„Usepeter sind es, Waschlappen, Jammerweiber, die sich wohl einen Namen machen wollen, aber uns konsequent verraten und verkaufen", brüllte Einzel.
So viel steht fest, Genossen, dass wir ohne die westfälische Front uns nicht mehr halten können, da wir sonst von der rechten Flanke her aufgerollt werden. Hinzu kommt, dass das übrige Deutschland uns völlig im Stich lässt. In Berlin hat eine unsichtbare Kampfleitung der Unabhängigen die Massen acht Tage lang an der Nase herumgeführt und auf die Hilfe angeblicher republikanischer Reichswehrverbände vertröstet, bis es zu spät war. Diese Kampfleitung war so tüchtig, nichts davon zu wissen, dass die Arbeiterschaft der Vororte in weitem Umkreis sich genauso wie wir hier bewaffnet hatte und nur auf das Losschlagezeichen wartete. So kam es zu isolierten Kämpfen in Hennigsdorf und Köpenick, wo die Kappisten hinterher blutige Rache
nahmen.
Ähnlich liegen die Dinge in Mecklenburg, Sachsen und Thüringen! Im Vogtland hält sich zwar noch Max Hölz mit einigen hundert Mann, aber das übrige Deutschland ist schon wieder ruhig, arbeitet und hat nur den einen Wunsch, dass wir es ihm nachmachen. Die ,Freiheit' in Berlin schreibt uns schon täglich zweimal tot: ,Es gibt keine Rote Armee', und ,Nur Verhandeln kann uns retten!' Jetzt rollen schon aus Norden, Osten und Süden die Züge mit Militär und Munition gegen uns heran. Die Entente wird sicher die Einmarscherlaubnis geben, und dann kann ja die große Treibjagd beginnen. Wir dürfen jetzt aber nicht die Nerven verlieren. Keine planlose Auflösung, keine Panikstimmung! Im Notfalle bleibt uns ja immer noch der Rückzug ins englische Besatzungsgebiet. Wenn wir zurückgehen, dann nur einheitlich und geschlossen, um dem Zentralrat nicht den letzten Verhandlungsfaktor aus der Hand zu schlagen."
Fahrenhorst räusperte sich: „Das ist sehr gut gesagt. Bei mir fehlten heute früh beim Appell wieder sechs Mann. Die Leute sind kaum noch zu halten."
„Alles eine Folge der verdammten Bielefelder Verhandlungen. Vorher dachte kein Mensch ans Desertieren", schimpfte Schulz, und Grothe setzte anzüglich hinzu: Es kommt auch viel auf das Verhalten der unmittelbaren Führer an!" Fahrenhorst schluckte, als wollte er etwas Scharfes erwidern. Sukrow entfaltete ein Blatt Papier mit folgendem Tagesbefehl:
„Auf Grund der mir übertragenen Gewalt durch die Zentralleitung befehle ich hiermit folgendes:
Sämtliche auf Grund des verräterischen Waffenstillstandsbeschlusses der in dieser Sache nicht kompetenten Konferenz von den Formationen der Roten Armee entfernten Mannschaften werden aufgefordert, sich innerhalb sechs Stunden nach Herausgabe dieses Befehls wieder bei ihrer Dienststelle zu melden. Auf Nichterfüllung steht Todesstrafe.
Die Kampfhandlungen werden nicht abgebrochen, bis die nötigen Garantien für Innehaltung der Regierungsversprechen gegeben sind. Die so genannten Bielefelder Beschlüsse sind für uns in keiner Weise vorhanden.
Gegeben zu Gelsenkirchen, den 27. März 1920.
Der Oberkommandierende des Abschnitts West
der Roten Armee, gez. Gottfried Karuseit.(Anm.:Historisch)
Dieser Befehl wird in allen Etappenorten angeschlagen und ist den Truppen durch Vorlesung bekanntzugeben", setzte Sukrow hinzu, indem er die Durchschläge an die Führer verteilte.
Fahrenhorst nahm den seinigen mit gleichgültigem Lächeln. „Den Stil haben sie wenigstens Ludendorff abgeguckt, nur wird sich damit keine Fliege aus der Bratröhre locken lassen."
„Kompanieführer Fahrenhorst!"
Der Lehrer zuckte bei dem scharfen Ton des Kommandeurs unwillkürlich zusammen. Sukrow blickte ihn eine Weile an, als wolle er ihn im nächsten Augenblick zerreißen, - dann aber siegte seine Selbstbeherrschung, und er sprach ruhig, jedes einzelne Wort abgrenzend: „Solange ich hier noch etwas zu sagen habe, verbitte ich mir derartige Randbemerkungen! Ich bin - und das bitte ich ebenfalls bekannt zu geben, damit sich niemand im Irrtum befindet, - fest entschlossen, dem Befehl mit allen Mitteln Nachdruck zu verschaffen. Der Genosse Fahrenhorst als ehemaliger Offizier müsste am besten wissen, dass derartige defaitistische Bemerkungen nicht geduldet werden dürfen."
„Bei Kaiser und Reich haben sie die Schnauze niemals aufzumachen gewagt", rief Schulz erbost.
„Wir sind hier Gott sei Dank doch nicht bei der kaiserlichen Armee mit ihrem Kadavergehorsam", antwortete der Angegriffene nicht minder laut.
Jetzt sprang alles auf und drang mit heftigen Reden auf ihn ein. Schimpfworte flogen, und Schulz stellte sich mit geballten Fäusten vor den Lehrer hin: „Wenn du feige kapitulieren willst, dann gehe doch zu deinem Kollegen Stemmer, das ist auch so eine Kreatur! Wir halten dich nicht! Wir brauchen die ganzen Intellektuellen nicht! Ihr tut euch bloß immer wichtig, und wenn es darauf ankommt, kneift ihr aus!"
„Genosse Sukrow, ich werde hier beleidigt, das lasse ich mir nicht gefallen", empörte sich Fahrenhorst.
Fordere ihn doch auf warme Würste oder ist er dir nicht satisfaktionsfähig", stichelte Einzel.
Mühsam nur gelang es Sukrow, den Sturm zu beschwichtigen. „Über Beleidigungen kannst du dich nur beschweren, wenn du keinen Anlass dazu gibst, Genosse Fahrenhorst. Ich weise deine Bemerkungen nochmals mit allem Nachdruck zurück und werde, wenn du dir noch einmal Ähnliches erlaubst, sofort disziplinarische Maßnahmen ergreifen."
Fahrenhorst putzte an seiner Hornbrille herum; man sah, wie er mit sich rang, dann sagte er schließlich leise: „Ich sehe, dass hier alles gegen mich ist. Das ist der Dank dafür, dass ich mich zur Verfügung stellte. Nun, das schadet auch nichts! Aber so kann ich meinen Posten nicht länger behalten. Ich lege ihn hiermit nieder."
Ruhig zog er sich die schmalen roten Bänder vom linken Unterärmel seiner Lederjoppe und stand auf. „Halt mal!"
Sukrow fasste ihn an die Schulter. „Du bist im Irrtum, lieber Fahrenhorst, von Niederlegen ist hier keine Rede. Oder verwechselst du eine Kompanieführerstelle in der Roten Armee mit einem Schriftführerposten im Swertruper Kegelklub? Der Befehl, den ich bekannt gegeben, gilt für alle, auch für dich. Ich frage dich zum letzten Male: Willst du dich der Disziplin fügen oder nicht?"
Ton und Gesichtsausdruck des jungen Führers ließen es Fahrenhorst doch geratener erscheinen, den Konflikt nicht auf die Spitze zu treiben. „Dann musst du mich aber auch vor Beleidigungen schützen", knurrte er ausweichend. „Das tue ich, sofern du nicht Disziplin und Moral untergräbst, aber..."
Der Selbstdegradierte wollte die Abzeichen wieder anlegen, jetzt aber hinderte ihn der Kommandeur daran.
„Dein Verhalten, Genosse Fahrenhorst, hat bewiesen, dass du nicht die moralische Qualifikation besitzt, um in schwierigen Situationen anderen leuchtendes Beispiel und Führer zu sein. Hättest du auf deiner Weigerung verharrt, hätte ich dich sofort hinten auf dem Hof an die Wand stellen lassen, nötigenfalls dich mit dieser Pistole niedergeschossen! Wir haben dich geschätzt als umsichtigen, sachkundigen und tapferen Kampfgenossen. Aber jetzt trennen sich unsere Wege, denn du hast den Glauben an unsere gute und gerechte Sache verloren. Du kannst jetzt gehen, wohin du willst, nur nicht mehr zu deiner Kompanie zurück! Die übernimmt, bis auf weiteres, Grothe. Der kleine Küpper wird sofort deine Sachen holen. Das Stabsauto steht dir bis Buldingrath zur Verfügung."
Wieder hörte man im Zimmer das Ticken der Wanduhr. - Fahrenhorst saß noch einen Augenblick wie betäubt auf seinem Stuhl, ehe er den Sinn des Ganzen begriff. Wohl war ihm das Loskommen von der Roten Armee sehr erwünscht, aber diese Abhalfterung ging ihm doch an die Ehre. Müde stand er auf, und Sukrow reichte ihm herzlicher, als eigentlich beabsichtigt, die Hand. Als Fahrenhorst aber dem nächststehenden Einzel ebenfalls die Hand reichen wollte, drehte sich dieser herum und sagte: „Einem Menschen, der in der Stunde der Gefahr die Genossen im Stich lässt, gebe ich nicht die Hand."
Da ging er mit müden Schritten aus dem Zimmer. -
Die Verwundeten aus dem Feldlazarett des Swertruper Abschnitts waren sämtlich - bis auf den wegen seines Bauchschusses Transportunfähigen - nach dem Swertruper Knappschaftskrankenhaus abtransportiert worden. Aber dieser eine machte der jungen Krankenschwester mehr Sorge als alle anderen zusammen. Bereits den dritten Tag lag er hier, war bei voller Besinnung - sprach aber kein Wort, obwohl man ihm ansah, dass er furchtbare Schmerzen litt. Kein Stöhnen entrang sich seinen fest zusammengepressten Lippen, die er nur öffnete, wenn Schwester Mary kam, mit dem Schwamm seine Durstqualen zu lindern.
Mit rührender Sorgfalt tat Mâry Ruckers alles, um seine Lage zu erleichtern. Jetzt, da sie wieder Luft hatte, betreute sie ihn, ohne müde zu werden, und stellte Sträuße mit den ersten Frühlingsblumen an sein Lager. Welches Grauen mochten diese stummen, groß aufgerissenen Kinderaugen gesehen haben, ehe sie jenen qualvollen Ausdruck angenommen hatten, der an den eines todwunden Rehs erinnerte?
Mit gemischten Gefühlen beobachtete Walter Peikchen die liebevolle Sorgfalt der roten Krankenschwester, wusste er doch, dass diese nur dem vermeintlichen Kampf- und Gesinnungsgenossen galt. In dem Augenblick, in dem sie in ihm den Feind erkennen würde, würde sie sich voller Abscheu von ihm abwenden, ihn wohl gar einem grausamen Tod ausliefern. Darum schwieg er beharrlich zu allen Fragen nach Namen und Herkunft. Sein Leben war zertreten, wie seine Liebe und seine Ideale!
In den frühen Morgenstunden hatte man einen württembergischen Unteroffizier eingeliefert, der bei einem nächtlichen Patrouillengefecht zwei Knieschüsse erhalten hatte und gefangen genommen worden war. Mit gespannter Aufmerksamkeit sah Peikchen, wie Sanitäter, Schwester und Arzt mit dem verwundeten Feind so sorgsam umgingen, als sei das die selbstverständlichste Sache von der Welt. Man verband ihn, gab ihm Morphium zur Linderung der Schmerzen. Die Schwester wusch ihn, brachte ihm zwei frische Eier und auch Schreibmaterial, damit er seine Angehörigen benachrichtigen konnte. Am Nachmittag fuhr draußen das Krankenauto vor. Man bettete den Verwundeten auf die Trage, und Mary gab ihm noch Blumen mit auf den Weg.
Sie war freudig überrascht, als sie, in das Zimmer zurückkehrend, sich von ihrem schweigsamen Patienten beim Namen gerufen hörte.
„Nun, Genosse, geht es schon besser?" Freundlich lächelnd ließ sie sich an seinem Lager auf der Fußbank nieder.
Der Verwundete griff nach ihrer Hand. „Sind Sie denn immer so zu den Noskiten?"
Mâry strich ihm sanft das Haar aus der Stirn. „Sprich nicht so hässlich, Genosse! Das war kein Noskit, sondern ein Hilfloser, der eine Reichswehruniform anhatte. Aber das ist doch ganz gleich. Wir wissen zwar, dass die da drüben mit gefangenen Arbeitern anders umgehen. Maßlose Verhetzung verleitet sie zu allerlei Grausamkeiten, das hast du ja wohl selber erfahren. Aber wir, Genosse, wir dürfen deshalb nicht Gleiches mit Gleichem vergelten."
„Und warum denn nicht?"
„Weil wir, Genosse, wenn auch gezwungenerweise, nicht ohne das Rüstzeug der Barbaren, so doch ohne die tierischen Methoden der Barbarei kämpfen! Wenn wir die Träger einer neuen, besseren Kultur sind, müssen wir das auch durch Taten beweisen. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich einem verwundeten Feind helfen kann. Der Württemberger, wenn der in seine Heimat oder zu seiner Truppe zurückkehrt, wird ganz gewiss nicht mehr verächtlich von den ,Bolschewisten' sprechen."
Peikchen starrte sie feuchtglänzenden Auges an und schien Mühe zu haben, das Gehörte zu begreifen. Dann lispelte er halblaut: „Denken hier denn alle so?"
Die junge Schwester lächelte verzeihlich: „Alle wohl gerade nicht, so zum Beispiel du! Aber bis jetzt sind die einzelnen Stimmen, die zur Wiedervergeltung aufforderten, jedes Mal und ohne Mühe von der großen Masse der Besserdenkenden erstickt worden. Das kämpfende Proletariat war immer großmütiger als seine Feinde! Das war schon zur Zeit der Sklavenaufstände unter Spartakus so, das war ebenso auch in den Bauernkriegen."
Der Verwundete hatte die Augen geschlossen, seine Brust atmete schwer. Unter den geschlossenen Lidern rollten zwei dicke Tränen über das abgezehrte Gesicht, und plötzlich begann er wild aufzuschluchzen.
„Um Gottes willen, was ist dir, Genosse, nicht aufregen! Denk doch an deinen Bauchschuss", rief Mâry erschrocken, denn der Körper des Verwundeten flog und zitterte wie unter elektrischen Schlägen. Morphium wird ihn beruhigen, dachte sie und stürzte aus dem Zimmer.
Als sie nach zwei knappen Minuten zurückkehrte, lag die Decke wild zusammengeknüllt neben dem Lager, und unter dem Verband sickerte es schwärzlichrot hervor. Schnell brachte sie sein Lager wieder in Ordnung, sprach ihm gut zu. Er lag jetzt ganz ruhig mit geschlossenen Augen da, aber der verfallende Gesichtsausdruck deutete auf die nahe Auflösung.
„Hübsch ruhig liegen und vernünftig sein, ich werde sehen, dass ich Doktor Dirschauer mit dem Feldtelefon erreiche", sagte Mary und wollte aufstehen und hinausgehen, aber ein schwacher Ruf des Sterbenden hielt sie zurück.
„Mir kann kein Arzt mehr helfen, Schwester Mary, lassen Sie mich nicht allein, bleiben Sie bei mir", bettelte er mit schwacher Stimme.
Mâry stürzten die Tränen aus den Augen, aber sie bezwang sich, rückte ihm das Kopfpolster zurecht und griff nach dem Schwamm. Da sie aber seine bittenden Augen sah, nahm sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, das ganze Glas. Der Verwundete trank in langen, gurgelnden Zügen und blickte sie dankbar an.
„Nun ist mir etwas besser, und jetzt, Schwester Mâry, kommen Sie einmal ganz dicht heran, ich habe Ihnen noch viel zu sagen."
Er hatte mit seinen kalten Händen ihre feste, warme Rechte umspannt und begann mit leiser Stimme zu erzählen:
„Mein Name ist Walter Peikchen, ich bin auch aus Swertrup, aber ich bin keiner der Eurigen gewesen. Sukrow, euer Kommandant, kennt mich, wir waren Kollegen bei Flaschner. Gern hätte ich ihn nochmals gesprochen, aber dazu ist es jetzt zu spät. Wir haben früher oft miteinander gestritten. Ich war für Schwarzweißrot, schwärmte für Kaisertreue, Hindenburg, Militär und gute alte Zeit! Ich hatte ja von Hause aus nichts anderes gelernt. Ich hasste, verabscheute und bekämpfte die Arbeiter, wie und wo ich nur konnte. Oh, man hat uns so geschickt reingelegt und verhetzt! Ich war beim ,Rugard', einem nationalen Kampfbund, der die Wiederaufrichtung der Monarchie zum Ziel hat. Wir mussten alle einen furchtbaren Eid schwören und uns selber für den Fall eines Verrates den Tod wünschen. Ich habe diesen Eid gehalten... bis heute!
Wir wurden im geheimen militärisch ausgebildet, und ich tat, was ich konnte. Herr Sukrow sollte auch ge-
worben werden, und ich gab mir selber die größte Mühe, ihn zu werben, aber er ging doch nach der anderen Seite,... das war sein Glück! Als man es mir befahl, ging ich stehenden Fußes von meiner schwerkranken Mutter dorthin, wohin man mich haben wollte, um mich umzulegen ! Ich weiß nicht, wie es kam, dass man mich plötzlich für einen Verräter hielt. Nur wenige Stunden war ich da drüben, aber was ich sah, hörte und erlebte, war nur Gemeinheit und Brutalität. Die Gefangenen werden kaltblütig, auf der Flucht' erschossen. Mich aber schickte man an die Front. Meuchlings wurde ich niedergeschlagen, gefesselt und geknebelt! Ohne Verhör und Verteidigung banden sie mich an einen Baum, damit ihr selbst mich totschießen solltet. Eure Kugel hat nur zu gut getroffen... Meine arme Mutter..."
Der Sterbende schwieg erschöpft einige Minuten, ohne seine Hände von der Rechten der Schwester zu lösen. Dann fuhr er fort:
„Ich war aber kein Verräter, nein, bei Gott, das war ich nicht! Aber jede Stunde reut mich, die ich den anderen da drüben geopfert habe. Es war ein großer Irrtum, den ich mit dem Tode büßen muss. Jetzt merke ich erst, wie ich getäuscht wurde und mit mir so viele andere, die auch noch an diese alten Götter glauben. Sie, Schwester Mary, haben mich sehend gemacht! Für mich ist es zu spät, noch umzulernen und gutzumachen. Ich verstehe euch nicht, aber ich fühle es, ihr müsst für eine große, gute und gerechte Sache kämpfen, sonst könntet ihr nicht so human sein. Grüßen Sie... den Genossen Sukrow. Und wenn Sie meinen Eltern schreiben... dann sagen Sie nicht... später erst... Haben Sie vielen vielen Dank, liebe, liebe Genossin... Sukrow... Verräter war ich aber nicht... Feierabend!"
Er stieß das letzte Wort aus wie ein Handwerker, der nach schwerer Arbeit sein Werkzeug hinlegt, streckte sich in seiner ganzen Länge — und war tot.
Mâry Ruckers beobachtete tränenden Auges, wie seine Züge sich glätteten, dann drückte sie ihm die Lider zu, legte, ehe sich die Finger in Todesstarre schlossen, den kleinen Strauß aus Veilchen und weißen Anemonen hinein und verließ auf den Zehenspitzen das Zimmer. -
„Armer Junge", sagte Sukrow tief erschüttert, als er mit Grothe und Mâry eine Viertelstunde später an der Leiche seines Kollegen stand.
„Hätte ich eine Ahnung gehabt, aber er sprach ja kein Wort", sagte Mary.
„Hatte er denn keine Papiere bei sich?"
„Nichts, keine Brieftasche, kein Geld, keine Uhr, als ob man ihn ausgeplündert hätte, nur in der Westentasche fand ich diesen Zettel, aber daraus ging auch nichts hervor." Sukrow ergriff den zerknüllten Zettel und las:
„Lieber Freund! Sei nicht böse, dass ich dich so lange warten lasse. Es geht nicht eher. Der Kapitän muss noch eine Unterschrift einholen. Sei pünktlich am Bahnhof zu 10 Uhr 20 Minuten.
Gisela."
„Verstehen Sie das?" fragte Mâry, die seinen veränderten Gesichtsausdruck bemerkte.
„Ja", sagte er, schwer atmend, „ich verstehe jetzt alles." Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner Brust, er schämte sich nicht seiner Bewegung. „Armer Junge, er fiel als dreifaches Opfer! Seine nationalistische Verhetzung, ein dämonisches Weib und unsere Strategie zusammen haben ihn gefällt! Durch absichtlich falsche Gerüchte, die wir dem Gegner zutrugen, um ihn zu zersetzen, erweckten wir den Verdacht, der Anlass zu diesem fürchterlichen Fememord gab. Aber das haben wir nicht gewollt!"
„Wieso denn das?" fragte Grothe hart. „Wenn der Erfolg der ganzen Komödie nur in diesem einen besteht, der jetzt weniger gegen uns steht, tut es mir nicht leid. Sonst stände der sicher noch drüben, würde Arbeiter niederschießen. So starb er - wenigstens noch sehend geworden - das ist für ihn wie für uns besser, als wenn er auf dem berühmten ,Feld der Ehre' gefallen wäre!"

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