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Georges Navel - Werktage (1945)
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VACHERON

Das Stück Brot, den Teller Linsen oder Bohnen, die ich in der Werksküche aß, meine Kleider, mein Zimmer, das alles bezahlte ich mit der Freiheit. Was für ein graues Leben! Jeden Tag das gleiche. Der Frühzug, beim Aussteigen das Wogen der Rücken im Dämmerlicht, immer derselbe Geruch im Umkleideraum, ein wenig muffig, nach nassen Handtüchern, schwarzer Seife und Arbeitskitteln, das gleiche Geräusch der kleinen eisernen Türen, wenn die Kollegen ihr Spind wieder zuschlossen. Die ausgemergelte Gestalt des alten Hilfsarbeiters, der ausfegte. Die Halle, der Schraubstock, die Schublade, ein mechanisch getauschter Händedruck: „Tag, wie geht's?" — „Danke, gut." Die Motoren laufen an. Man ist im gleichen Tageslauf wie gestern und morgen. Ich winkte den Kumpels von der Lehrenabteilung, die durch ein Gitter abgesondert war, einen Gruß hinüber. Sie alle waren Feinmechaniker und rieben das Metall und die Lehren aus gehärtetem Stahl mit einem kleinen Stein, den sie in Petroleum tauchten, wenn er Schmutz angesetzt hatte. Ihre Hände machten nur eine winzige Radierbewegung. Ihre Arbeit verlangte äußerste Präzision. Die Lehren waren für die Dreher und Nachschleifer bestimmt, die mit ihnen die serienweise hergestellten Stücke kontrollierten.
Auch ich würde später hinter diesem Gitter stehen und ihnen gleichen, wie sie einander glichen, große und kleine. Alle Gesichter waren intelligent, aber die Körper waren leblos und durch die schlaffe Arbeit aufgeschwemmt. Sie schienen gesund, aber traurig. Die Dicken hatten einen Bauch, die Wangen der Mageren waren von dem gleichen fahlen Fett gedunsen. In allen ihren Bewegungen — denn seit langem forderte die Arbeit keine Anspannung von ihnen — lag etwas Verdrießliches, aber ein hingenommener, ein überwundener Verdruss. Keiner von ihnen hatte Lust, Erdarbeiter zu werden, um seinen Körper neu zu beleben.
Ich sah es ihnen an. Im gewöhnlichen Leben ist man mit Zutraulichkeiten zurückhaltend. Wer redet über sein Leben? Niemand. Man sagt: „Es geht gut", selbst wenn es nicht gut geht. „Es geht gut" kommt nach „Guten Tag". Ich sah ziemlich oft zu den Leuten von der Lehrenabteilung hinüber: Der eine oder andere erwiderte meinen Blick mit einem Lächeln der Sympathie. Ohne es zu wollen, lächelte man sich so zwanzig- oder fünfzigmal am Tage an, ganz flüchtig, mitten im Schaffen.
Im Laufe des Vormittags aßen die Kollegen verstohlen einen Bissen, den sie aus der Schublade nahmen, ohne die Arbeit zu unterbrechen. Dazu tranken sie einen Schluck Wein. Der Rauchsüchtige ging zu den Aborten, drehte sich dort eine Zigarette und las die Lokalnachrichten in seiner Zeitung, um Gedanken zu finden, mit denen er sich beschäftigen könnte.
Ich konnte mich nicht so leicht mit dem Stumpfsinn
abfinden. Im allgemeinen waren die Arbeiter der Werkzeugmacherei, ausgenommen die von der Lehrenabteilung, einigermaßen durch das wechselnde Interesse ihrer Aufgabe in Anspruch genommen; aber auch sie brauchten die heimliche Zigarette, die Lektüre ihrer Zeitung und ein paar Minuten Unterhaltung auf dem Abort.
In der Glashalle hörte man den Lärm der Fabrik nicht so stark. Ohne es zu merken, kam man dort wieder zu sich nach dem betäubenden Surren. Der Lärm macht trunken und stumpfsinnig; ganz dem äußeren Leben ausgeliefert, ohne sich selbst und ohne die Hilfe seiner Träume kann der Mensch nicht leben. Außerdem ist er auch ein Tier, er muss herumgehen, muss sich von Zeit zu Zeit von dem reglosen Stillstehen vor Schraubstock oder Maschine befreien, muss die Beine bewegen, den Klang seiner eigenen Stimme oder der eines anderen hören, muss sprechen, selbst wenn er nichts zu sagen hat; aber er muss das Spinngewebe seines eigenen Schweigens zerreißen.
Die gebräuchlichen Hilfsmittel befreiten mich nicht, im Gegenteil: Ich hätte rauchen sollen wie alle. Gewisse Gifte braucht man im zivilisierten Leben. Ich war Nichtraucher. Ich hätte Wein trinken oder ein Beefsteak essen sollen. Aber ich war Vegetarier und trank nur Wasser wie mein Freund Vacheron. Ihn hinderte das aber nicht, sich in der Fabrik wohlzufühlen.
Sogar Vacheron konnte ich mich nicht anvertrauen. Zu sagen, was mit mir los war, schien mir zu schwierig, mir selbst zu verwirrt. Schlimmstenfalls hätte ich sagen können: „Das Leben ist mir zu dreckig, ich habe keine Lust zu leben." Ich bewunderte ihn, weil er sich immer gleich blieb, weil er durch und durch anständig war und kein Schwätzer, eher ernst als heiter. Wenn ich einmal nicht in der Fabrik gewesen war und Vacheron wieder sah — er war mein Führer und auch mein Richter —, schämte ich mich. „Na, bist nicht gekommen. Bist nicht ernst zu nehmen."
Kein weiterer Vorwurf. Ihm war es ein Glaubensartikel, dass jeder tun könne, was ihm gefiele. Wie vorher Bouboule, antwortete ich auch ihm: „Es ging nicht."
Ich wäre ihm gern ähnlich gewesen und war mir selbst gram, dass das nicht ging; ich verachtete mich.
Von seiner Jugend wusste ich nur wenig. Ohne Zweifel war sie friedlicher gewesen. Eines Tages hatte er zu mir gesagt:
„Deine Eltern sind weggefahren, es muss doch öde sein zu Hause. Du solltest nicht in deiner kleinen Bude in der Rue de la Part-Dieu bleiben. Meine Freundin kommt zurück. Ich will umziehen. Das Zimmer, das ich räume, ist ganz nett; es würde für dich passen. Man soll nicht im Muff leben. Das ist deprimierend."
Er hatte mich seiner Wirtin vorgestellt. Sie trauerte ihrem Mieter nach, der so pünktlich, ordentlich und akkurat war. Ich putzte mir die Schuhe nicht so gut und kam oft spät nach Hause. Sie befürchtete, eines Tages beim Lesen der Lokalrubrik meinen Namen zu finden.
Das Zimmer hatte mich nicht verwandelt. Vacheron ging abends nur aus, um die beruflichen Fortbildungskurse — Zeichnen und Gerätekunde — zu besuchen. In der Bahn lernte er Trigonometrie.
„Man muss im Betrieb ein guter Spezialarbeiter sein, man verteidigt so besser seine Menschenwürde", sagte er zu mir.
Trotzdem war er von dem Wunsche beherrscht, aus dem Fabrikleben herauszukommen. Aber wie? Er wusste, dass er es schaffen würde. Später, wenn sein Leben in günstigeren materiellen Verhältnissen gesichert wäre, würde er Muße finden, viel zu lesen. Bis dahin würde er sich damit begnügen, zu lernen, was ihm in seinem Beruf nützlich sein könnte. Auf seine Art war er ein Träumer. In fortschrittlichen Kreisen hatte er eine Art Sehnsucht nach Wissen und Geist bekommen. Für ihn war es ein weiterer Glaubensartikel, dass alles, was ein Mensch lernen könne, ihn in seinem Denken und seinem Charakter fördere. Er liebte die Namen der großen Männer, von Sokrates bis Tolstoi, ohne ihre Werke zu kennen; er hatte nicht die Zeit gehabt, sie zu lesen. Es bekümmerte ihn, dass seine Kollegen im Betrieb und die Arbeiter, abgesehen von ein paar Sonderlingen, nicht das gleiche Bestreben hatten wie er, jene inbrünstige Leidenschaft für Bildung, Weisheit, Aufklärung, von denen doch der soziale Fortschritt abhing.
Dieser Sohn eines Bergmannes, dieser Vorkämpfer in den Streiks von 1920 glaubte nicht mehr an die Revolution, nicht mehr an den Anarchismus; er glaubte nur noch an die Schulung. Jetzt wollte er seinen Weg machen, sich eine Position schaffen.
Zur Zeit war er der beste Werkzeugdreher im Betrieb. Er bezog den Höchstlohn. Im Beruf sind die Kollegen nicht aufeinander neidisch; sie greifen sich unter die Arme. Wenn ein anderer Spezialarbeiter wegen eines Auftrages, den er zu erledigen hatte, oder einer Berechnung in Verlegenheit war, wandte er sich an Vacheron. Seine Stücke, die die Drehbank oder die Schleifmaschine verließen, waren immer von einer tadel-
losen Präzision. Wenn er an seiner Drehbank stand, war in ihm, in seinem herzhaften Händedruck nicht Freude — das wäre zuviel gesagt —, aber die Befriedigung des guten Arbeiters, dessen Geist bei der Arbeit nicht untätig bleibt.
Er war ein Individualist, aber nicht auf anderer Leute Kosten. Er wollte seinen Weg machen, aber er hätte, auch wenn persönliche Vorteile damit verbunden gewesen wären, niemals die Stelle eines Zeitabnehmers oder eines Vorarbeiters angenommen, die beide zu einer gewissen Härte im Umgang mit den Arbeitern gezwungen sind.
Im Zuge brachte mir Vacheron Geometrie bei. Ich besaß ein kleines Lehrbuch und ein paar Hefte, in denen er mir Aufgaben stellte. In meinem Zimmer war es dann meine Abendbeschäftigung, zu lernen und die Aufgaben zu lösen. Morgens präsentierte ich ihm meine Hefte. Diese kalte Geistesnahrung, diese vernünftige Beschäftigung verwandelten mich ebenso wenig.
Der einzelne ist sich selbst kein Ziel. Ist schon das Leben eines Mannes, wenn es mit dem einer Frau verknüpft ist, bisweilen schwierig, so gibt das Leben ohne Liebe und ohne Frau dem Mann das Gefühl, dass sein Dasein sinnlos ist. Das Grauen der Fabrik muss jemandem zugute kommen, den man liebt: der Mutter, den Kindern oder der Frau. Ein Leben voller Leiden ist unerträglich, wenn man nur für sich selbst leidet. Um ohne Frau zu leben und ein Fabrikdasein zu fristen, braucht man mehr als Arbeit, Arbeitskameradschaft oder Freundschaft; man braucht das Zusammengehörigkeitsgefühl eines lebendigen Ideals, jene Kameradschaft aktiver Kämpfer in Zeiten revolutionären Aufschwungs,
vereint mit der Gewissheit, dass ein durch Hoffen und Kampf bestimmtes Dasein einen Sinn hat und keiner Rechtfertigung bedarf.
Die Arbeit allein rechtfertigt nichts. Die Arbeit rechtfertigt den Wagenbauer in einem Dorf. Unbestreitbar sieht er den Nutzen dessen, was er leistet. Sie rechtfertigt den Handwerker, den Schreiner, den Klempner, den Tischler, die ihre Kunden zu Gesicht bekommen. Die Arbeit rechtfertigt aber nicht den Arbeiter der Großindustrie, der für den Krieg oder die Luxusbedürfnisse der privilegierten Klasse arbeitet, der ein Stück herstellt, ohne zu wissen, wohin es in der zusammengebauten Maschine gelangt.
Man kann ein Leben ohne Rechtfertigung ertragen, aber nicht allein. Das ist zu qualvoll. Man braucht eine Mutter, eine Frau, Kinder, man braucht Bindungen, man muss aufhören zu grübeln. Die sentimentale Einsamkeit taugt nur für den verbrauchten Menschen.
Die Männer, in deren Gesellschaft ich lebte, waren zumeist verheiratet. Alle übrigen hatten mehr oder weniger zahlreiche Liebschaften. Eine Frau lieben oder mit ihr schlafen ist stets eine sehr wichtige Angelegenheit, selbst wenn es Gewohnheit oder Banalität geworden ist.
Vacheron war ein stattlicher Bursche. Er war ziemlich groß, breit und kräftig. Der Sport hatte seine Entwicklung gefördert. Er propagierte ihn. Aber dieser stattliche Bursche hatte sich in eine Prostituierte verliebt, die er vor ein paar Jahren aus ihrem Bordell herausgeholt hatte, um mit ihr in guter Kameradschaft zusammen zu leben. Es war vielleicht ein Rettungsversuch. Er war misslungen. Die Frau hatte ihr früheres Leben wieder aufgenommen. Dann war sie wieder zu ihm gekommen. War wieder auf und davon. Und wieder zurückgekommen. Sie versprach, ihren Lebenswandel endgültig zu ändern. Er fiel darauf herein. Und wieder ging sie fort. Man merkte ihm nichts von seinen Enttäuschungen an. Im Zug las er Epiktet. Vielleicht um härter zu werden.
Ich hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, als sie ihn eines Abends vom Zuge aus Venissieux abholte. Zwei Rücken, ein Regenschirm. Auch er konnte nicht als trübseliger Junggeselle leben; doch er ertrug es mit offensichtlichem Gleichmut.
Ich war in der Fabrik wie ein Hund, den man im Alter überschwänglicher Lebenslust eingesperrt hat. Der sexuelle Hunger sitzt nicht nur in den Lenden, sondern er erfasst den ganzen Körper. Ich war ganz meinem Trieb preisgegeben, ich war wie im Käfig. Ich hätte weglaufen mögen, frei sein, bis ich die Frau gefunden hätte, die ich lieben würde. Meine Arbeit interessierte mich nicht, sie war nicht das Wesentliche. Es gelang mir nicht, mich und meinen Trieb mit ihr zu täuschen. Es gelang mir nicht, mich mit der käuflichen Liebe zu täuschen, mit dem Weib, das nach anderen riecht, nach der Berufsschminke und nach billiger Seife. Die Liebe wurde etwas Schmutziges, und ich bekam noch ein wenig mehr Ekel vor mir selbst. Aber das war noch nicht alles. Der Gedanke, mir ein Auskommen zu sichern und eine Position zu schaffen, fesselte mich nicht. Man muss wirklich und lange Hunger im Bauch gehabt haben, um sich damit abzufinden, in einer qualvollen und öden Existenz sein Leben zu verdienen. Jene Jahre von 1919 und 1920, die Jahre des übertriebenen Vertrauens und
der zu weit gespannten Hoffnungen, hatten mich gezeichnet. Ich hatte zuviel von der kommenden Gesellschaft geträumt; in der heutigen verstand ich nicht mehr zu leben. Nachdem ich erst einmal zu zweifeln begonnen hatte, waren mir die anarchistischen Illusionen jäh vergangen. Ich blieb durchdrungen von der Gerechtigkeit der revolutionären Ziele, aber ich glaubte nicht mehr an ihre Verwirklichung.
Ein Rentier kann Skeptiker sein; ein Industrieller kann Realist und überzeugt sein von der absoluten Notwendigkeit der Lohnarbeit, der Scheidung der Gesellschaft in Klassen und Nationen, der Existenz stehender Heere und periodisch ausbrechender Kriege. Der Arbeiter aber, der überzeugt ist, dass die Lohnarbeit, die moderne Arbeitsweise, ein Äquivalent der antiken Sklaverei ist, fühlt sich in seiner Menschenwürde schwer getroffen. Er kann seine Lage nur mit einem tiefen Glauben an den sozialen Fortschritt oder an die Revolution hinnehmen.
Mein Vater hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. Nach seiner Meinung ließ die Fabrik es in der Behandlung der alten Arbeiter an Gerechtigkeit fehlen. Seine Vorgesetzten hatten ihn verärgert. Er hatte viel unkomplizierter das Leben eines braven Mannes gelebt: ein bisschen verbittert, aber ohne jede Auflehnung. Er hatte den lieben Gott nicht gebraucht, um sicher seines Weges zu gehen. In den Augenblicken des Zweifels oder der Erschöpfung ein bisschen mehr trinken, das hatte ihm an solchen Tagen genügt. Ach, wie hätte ich meinem Vater gleichen mögen!
Luciens Ideen hatten mich auf einen Weg geführt und zu einer gedanklichen Tätigkeit veranlasst, die viele junge Leute um ihrer Ruhe willen nicht auf sich nehmen. Wie Vacheron hatte ich an Wissen und Geist geglaubt und glaubte noch daran. Ich wusste wenig, aber doch genug, um zu entdecken, dass Denken Leid bedeutet, da meine Gedanken mich quälten.
Vacherons Ratschläge, denen ich gefolgt war — ein anderes Zimmer zu nehmen, Geometrie zu lernen und Sport zu treiben —, blieben ohne Erfolg. Es war Winter: Regen und Nebel drückten auf die Stimmung. In regelmäßigen Abständen überfiel mich der Weltschmerz. Ich hielt mich, ich klammerte mich an die Geometrie, an die Lektüre des Epiktet; aber es kam der Augenblick, da ich mich, des unfruchtbaren Ringens müde, von diesem sinnlosen Leben befreien wollte. Eines Morgens stand ich nicht auf. Mit geschlossenen Augen träumte ich von der Natur. Am Nachmittag schloss ich mich in einer großen Bibliothek ein. Der Jean-Christophe belebte mich mit Poesie. Am folgenden Morgen lief ich zwanzig oder dreißig Kilometer zu Fuß. Und bald danach nahm ich die Arbeit wieder auf und meldete mich bei Bouboule. Kuriert und befreit.
Vacheron war nicht mehr in der Werkzeugmacherei. Es hatte sich ihm eine Chance geboten. Was kann aus einem gelernten Arbeiter der Großindustrie werden, wenn er seinem Handwerk treu bleibt? Zeitabnehmer, Maschineneinsteller, Vorarbeiter, seltener auch Werkmeister. Wenn er nicht ein paar Jahre höhere Schule hinter sich hat, werden ihm die beruflichen Abendkurse nur selten die ausreichende Fortbildung vermitteln. Er kann ein bisschen mehr verdienen, wenn er Meister wird.
Vacheron hatte außerordentliches Glück: man hatte ihm vorgeschlagen, nach Kairo zu gehen und die Firma Berliet dort in einem Garagenbetrieb zu vertreten. Vorher musste er noch alle Abteilungen des Werks durchmachen: Gießerei, Fertigung, Reparaturen, Versuchsstrecke; er musste alle Einzelheiten der Produktion kennen und perfekt fahren lernen. So kam er auf dem Wege weiter, den er sich vorgezeichnet hatte. Ich war froh für ihn; es war ein verdientes Glück.
Ostern war ich mit einem Kameraden in der lieben Aprilsonne auf Fahrt gegangen. Wir zogen mit nackten Oberkörpern einher, sangen und johlten nach Herzenslust, streiften mit bloßen Füßen durch das Moos und das Wasser der Bäche, sahen die blütentragenden Bäume und die Wolken. Ein zweitägiger Rausch. Ich war sogar Henriette über den Weg gelaufen, die mit ihrer Schwester und einer Gruppe von Freunden spazierenging, und hatte die dürren Zweige und den Holzhaufen wieder gesehen, wo ich im Regen den Duft ihres feuchten Haares geatmet hatte. Ich war kuriert und wollte es sein — von ihr und von der Liebe. Das würde mir nicht noch einmal passieren. Ich würde stark und breitschultrig werden, Erdarbeiter oder Hafenarbeiter sein, würde die Welt durchqueren. Das Leben schien mir voller Möglichkeiten. Ich hatte es satt, „wertherisiert" zu sein. Die Liebe, die mich gequält hatte, hatte mich für die Poesie empfänglicher gemacht. Die Schönheit der Nacht ist nicht so gefährlich wie die der Frau. Ich berauschte mich daran, die Insekten summen, jede Erdscholle beben zu hören. Ich begann sogar, die bis dahin für mich widerspenstigen Kunstregeln der dichterischen Sprache — Gedichte, Verlaine — zu begreifen. In der Bibliothek hatte ich die „Romanze ohne Worte" abgeschrieben und das Porträt des Dichters
nachgezeichnet. Sehr stolz hatte ich beides eines Tages Vacheron gezeigt. Seit Ostern war ich entschlossen, fortzugehen und die Fabrik in Venissieux, die Stadt Lyon zu verlassen. Wie aber es Vacheron erklären und ihm meine Pläne in vernünftigem Licht darstellen? Mit meinem Weggehen gab ich die Möglichkeit auf, hier ein guter Werkzeugschlosser zu werden. Er sagte es mir.
Ich fuhr nach Paris. Vacheron riet mir noch, wenn ich schon keinen Geschmack an der mechanischen Arbeit fände, dann sollte ich zeichnen und malen lernen und mir dabei ebensoviel Mühe geben, wie er es in seinem Beruf tat.
Ich war abgefahren.
Vacheron machte auf der Versuchsstrecke eine Probefahrt mit einem Fahrzeug ohne Karosserie, das mit Eisenblöcken beladen war. Die Bahn war nass: der Wagen überschlug sich. Vacheron war sofort tot. Die Eisenblöcke hatten ihn erschlagen. So schrieb mir acht Tage später ein Kollege aus der Werkstatt.

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