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Georges Navel - Werktage (1945)
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DIE FABRIK

Wieder in Lyon angelangt, trat ich in die Berlietwerke zu Venissieux ein. Nach den kleinen Reparaturwerkstätten war dies meine erste Bekanntschaft mit dem Großbetrieb.
Die großen Maschinenbaufabriken, in denen die mechanischen Vorrichtungen den Einsatz einer Menge rasch geschulter und spezialisierter Arbeitskräfte zulässt, haben immer Bedarf an gelernten Fachleuten. Wenn eine Masse von Menschen zu Automaten der Arbeit am laufenden Band geworden ist, muss eine Minderheit von Maschinenspezialisten und Werkzeugschlossern unablässig ihr Leistungsniveau zu steigern suchen, um den Anforderungen des modernen Arbeitsverfahrens zu genügen. Meine Lehrzeit in der veralteten Werkstatt hatte mich nicht mit dem Umgang der Maschine vertraut gemacht. Das war meine schwache Seite. Dafür fand ich aber in der Werkzeugschlosserei, wo man mich nach einer Probearbeit eingestellt hatte, gute Kameraden, die bereit waren, mir im Notfalle zu helfen. Zur reinen Handarbeit taugte ich besser; mit Feile und Metallsäge arbeitete ich leichter als an Maschinen, die mehr Aufmerksamkeit verlangen. Sie waren mir ein wenig unheimlich. Ich fand keinen rechten Geschmack an der Mechanik; nur in ihrem handwerklichen Teil behagte sie mir. Es gelang mir beim besten Willen nicht, mich genügend auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Ich träumte zu viel. Ich hätte mir zuerst einmal alle Gedanken aus dem Kopf schlagen müssen.
Mein Vorarbeiter war geduldig und väterlich wohlwollend, aber ein wenig kühl. Ich hätte mehr Sympathie gebraucht. An Gewandtheit fehlte es mir nicht, sondern an Aufmerksamkeit. Und so musste ich mich oft vor ihm wegen einer schlecht ausgeführten Arbeit schämen.
Um nicht Hilfsarbeiter zu bleiben, hatte ich aufs Geratewohl ein Handwerk gewählt, für das ich vielleicht nicht die notwendigen Fähigkeiten besaß, vor allem aber hatte ich nicht von der Pike auf gelernt.
Es war eine schöne Fabrik, erst vor kurzem errichtet und gut durchdacht. Sie hatte den Ruf, ein Zuchthaus zu sein. Das stimmte so ziemlich, wenn man von der noch bevorzugten Stellung der Werkzeugmechaniker absah. Vor allem wegen der Rationalisierung. Die Fräser, Bohrer, gelernten Dreher oder qualifizierten Hilfsarbeiter — alle, die man Roboter nennen kann und deren Serienarbeit von trostloser Eintönigkeit ist — mussten ihr Letztes hergeben, um die ihnen als Normalproduktion vorgeschriebene Stückzahl fertig zu stellen. Ihre ganze Arbeit wurde mit der Stoppuhr gemessen. Zeitabnehmer und Vorarbeiter kämpften gegen den Arbeiter. Während der Zeitabnehmer mit der Uhr in der Hand ihn bei der Arbeit beobachtete, schien er loyal die Zeit zu messen, die zur Bearbeitung eines Stückes notwendig war. Danach setzte er die für die ganze Serie gültige Zeit fest. Waren die Handgriffe eines Arbeiters verkehrt oder zu langsam, musste ihm der Vorarbeiter die Sache beibringen. Die Stückzeit des Vorarbeiters oder des geschicktesten, des routiniertesten Arbeiters galt als Grundlage. Es war die Anwendung des wohlbekannten Taylor-Systems. Unmenschlich und unsinnig würde es, auf den Sport angewandt, vom ersten besten verlangen, dass er beim Springen, beim Schwimmen oder Diskuswerfen die Meisterschaftsrekorde erreicht. Dies war es zunächst, was dem Betrieb den Ruf eines Zuchthauses eingebracht hatte; dann die übertrieben hohe Zahl von Antreibern mit Dienstmützen, die unablässig durchs Werk streiften und sogar die Türen der Klosette aufstießen oder einen Blick über die Verschläge warfen, um sich zu vergewissern, dass die dort hockenden Arbeiter nicht gerade rauchten. Das war strengstens verboten, sogar da, wo keine Feuersgefahr bestand.
Die Fabrik war weiträumig: eine Reihe großer, heller Hallen mit breiten Gängen, die großstädtischen Verkehrsadern ähnelten. Das Innere der Hallen war in seinen Dimensionen mit der Höhe und Leichtigkeit der Stahlkonstruktion nicht ohne Schönheit. Dämpfe stiegen empor. Wenn die Sonne eindrang, spielte sie auf dem verschieden getönten Blau der Arbeitskleider. Der Maschinenlärm wirkte nicht allzu betäubend. Mit etwas Phantasie hätte man ihn vielleicht gar wie Musik empfinden können.
Was traurig war, das war diese Trostlosigkeit, die scheinbar zwangsläufig der Großindustrie anhaftet. Traurig waren am frühen Morgen diese dichten Arbeiterkolonnen auf dem Wege zum Werk, seine Mauern entlang, zum Tor hin. Traurig im Regen. Das Wasser rieselt auf Mäntel und Schirme; die zahllosen Füße, im Dreck watend, riechen nach Zeitungspapier; diese Masse ist ebenso traurig wie die Kriminalrubrik, die sie eben gelesen hat. Traurig auch bei schönem Wetter, weil sie sich nun einsperren muss. Traurig im Winter, weil es dunkel ist, wenn sie morgens in die Fabrik kommt, und dunkel, wenn sie abends herausströmt. Traurig im Sommer, in einer Vorstadtfabrik eingesperrt zu sein, die ans flache Land grenzt. Im Frühzug, den man nehmen musste, roch es nach Kippen, Schnaps, Milchkaffee und feuchten Schuhen. Im Dunkel des Abteils holte ich, von erstarrten Schatten umgeben, noch ein wenig Schlaf nach. Der Zug rollte durch die Vorstadt mit ihren chemischen Fabriken. Dann und wann war es schön, wenn der Zug an den grell erleuchteten Fenstern einer Gießerei vorbeifuhr.
In der Fabrik sah ich oft einen ergrauten, hageren und gebeugten Mann mit Mütze und langem grauem Kittel eiligen Schrittes vorbeigehen; mit seinem herabhängenden Schnurrbart glich er einem alten, emsig betriebsamen Eisenwarenhändler. Er blieb stehen und verhandelte mit dem Werkmeister über die Herstellung eines Stückes, das er in der Hand hielt. Man fühlte, dass er es eilig hatte, weiterzurasen. Mein Kamerad hatte mich mit dem Ellenbogen angestoßen und ihn mir gezeigt:
„Schau, das ist Berliet."
Es war einer der beiden Brüder. Ich weiß nicht mehr, welcher.
Lieber sah ich, mitten durch die „Werkstatt" — einen rechteckigen, von der übrigen Halle durch eine Gitterwand abgesonderten Raum — den Meister der Werkzeugschlosserei in grauem Kittel auf seinen schmerzenden Füßen einhergewatschelt kommen. Die Kollegen nannten ihn „Bouboule", weil er klein, rund und beleibt war. Er war ein gutmütiger Dicker.
Die Arbeit in der Werkzeugschlosserei war nicht taylorisiert. Sie war vielseitig, abwechslungsreich. Mehr als auf die Herstellungszeit musste man auf die Qualität der Ausführung achten. Montagen, Schablonen und Muster waren ihrerseits für die Qualität der ganzen Serie ausschlaggebend.
Bouboule wusste, was er von jedem Kollegen und von den Besten unter ihnen erwarten konnte, und wem er, als dem Tüchtigsten unter den Tüchtigen, eine besonders schwierige oder knifflige Arbeit anvertrauen konnte. Zwischen ihm und den Kollegen bestand ein kameradschaftliches Verhältnis, das auf gegenseitiger Gewöhnung und beruflicher Achtung beruhte. Es kam selten vor, dass ein Kollege von der Werkzeugschlosserei kündigte und sich anderswo einstellen ließ.
Ich hatte einen Dreher zum Freund, den Bouboule und alle Kollegen sehr schätzten. Er hatte mich in den Betrieb gebracht. Erst sechsundzwanzig Jahre war er alt, schien aber älter. Er war kräftig, hatte ein ernstes Gesicht und eine männliche Stimme mit dem harten Akzent der Kumpels von der Loire. Seine Erscheinung und seine Leistungen bei der Arbeit nahmen für ihn ein. Der Metallarbeiterverband war zum Schatten einer Gewerkschaft geworden, aber gewisse Kollegen wussten, dass mein Freund Vacheron im Leben der Gewerkschaft und im Betriebsrat während der letzten großen Streiks vor einigen Jahren eine aktive Rolle gespielt hatte. Das war für sie ein Grund mehr, ihn zu schätzen. Weil ich sein Freund war, hatte man mich mit größerer Sympathie in der Werkstatt aufgenommen. Vacheron war ein Mann, während ich noch ein grüner Junge war. Er wurde mein Berater. Ich bewunderte sehr, wie er unser Leben, das mir so düster, so automatenhaft vorkam, ertragen konnte, ohne abgestumpft oder verzweifelt zu sein. Es war Winter. Die ganze Jahreszeit über würde ich unglücklich sein. Vacheron besaß eine seelische Kraft, die ich nie erreichen würde. Ich war nicht stark genug, um allein zu leben. Die Enttäuschung mit Henriette hatte bei mir Spuren hinterlassen. Ich fand mein Gleichgewicht nicht wieder. An manchem Morgen, wenn der Wecker läutete, stand ich nicht auf. Meine Wirtin, die eine große Tasse Milchkaffee vorbereitet hatte, beunruhigte sich und klopfte an meine Tür. Ich erwiderte irgend etwas, blieb in meinem Halbschlummer liegen und zauberte mir irgendwelche Landschaften vor. Was ich auch dagegen unternahm, nach einem Monat geregelten Lebens nagte die Traurigkeit von neuem an mir. Ich langweilte mich so, dass ich sterben wollte. Ich war entschlossen. Als ich aber mein Todesurteil unterzeichnet hatte, ging ich nicht zur Arbeit — und schon war ich gesund. Wenn ich zwei oder drei Tage lang meine geistigen Kräfte durch Lesen oder Spazierengehen aus ihrer Erstarrung befreit hatte, war ich von neuem arbeitsfähig, frisch und munter. Dann konnte ich wieder zur Fabrik gehen, der ich für immer entflohen zu sein glaubte.
Bouboule machte mir niemals Schwierigkeiten. Jedes Mal kam ich zurück und dachte, ich würde entlassen werden. Er nahm mein Bummeln hin. Ich wollte nicht lügen, aber es war zu schwer, die Wahrheit zu erklären. Auf seine Frage: „Warum bist du nicht gekommen?" antwortete ich ein wenig verwirrt und allgemein: „Es ging nicht."
Das stimmte genau. Wenn ich schlapp machte, tat ich es nie zum Vergnügen, sondern weil ich am Ende war mit meinem nutzlosen Widerstand gegen das Übel, das an mir nagte: das Übel der schwierigen Jugend. Viele jungen Leute scheinen darum herumzukommen. Meine erwachsenen Bekannten schienen es nicht gekannt zu haben. Mit ihnen konnte ich mich nicht aussprechen. Die Medizin hat einen Begriff dafür: Neurasthenie, die Umgangssprache einen anderen: Weltschmerz. Beide sind sehr verschwommen. Der eine ist dem anderen ähnlich, der letztere wiegt nicht so schwer. Es ist ein vorübergehender Zustand. Wenn ein Mann in den Kolonien das heulende Elend bekommt, trinkt er einen, kommt todbesoffen heim und ist am anderen Tage kuriert. Anderen genügt es, ins Kino zu gehen und einen Film zu sehen, der sie auf andere Gedanken bringt und ihrer Phantasie Nahrung gibt.
Mein Elend schleppte ich lange mit mir herum. Wenn ich schlapp machte, war ich am Ende und wollte sterben. Ich hatte die Fabrikmauern zu lange gesehen. Jeder Tag erneuerte die gleichen Qualen. Nicht mit meinem Schweiß bezahlte ich das Brot, das ich aß, sondern mit Traurigkeit und Langeweile. Mehr noch als in der Schule litt ich in der Fabrik darunter, eingesperrt zu sein.

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