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Georges Navel - Werktage (1945)
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AUSZUG

Ich hatte wieder in der Werkstatt unterkommen können. Rene war fast geheilt aus einem Sanatorium entlassen worden. Helene aber ging es nicht gut. Sie war ein hübsches Geschöpf, blieb aber zart und schwächlich. Mein Vater hatte jetzt ganz aufgehört zu arbeiten. Für die Möbeleinrichtung, die während des Krieges in Maidieres zerstört oder geplündert worden war, hatten wir eine Entschädigung bekommen. Mein Vater glaubte, von dieser kleinen Summe jahrelang leben zu können. Meine Mutter aber nahm von Zeit zu Zeit, wenn sie in Verlegenheit war, einen 100-Frank-Schein davon. Das Kapital nahm zwar nicht sehr rasch ab, aber es nahm ab. Mein Vater zeigte sich hierüber beunruhigt. Er hätte seinen kleinen Schatz gern gerettet. Wir waren nun schon alle groß, dennoch war es für meine Mutter hart, daran zu denken, dass sie uns auf Wunsch des Vaters bald verlassen würde, um mit ihm in Luneville bei meiner älteren Schwester zu leben.
Die Eltern ließen uns allein. Mein Vater zog es vor, bei seiner Tochter und seinen Enkeln zu leben. Er würde Kaninchen haben, einen Garten, ein Schwein und — so glaubte er — ein ruhiges und sorgloses Alter. Unser Widerspruchsgeist war ihm lästig. Er hatte die Ideen, die Lucien bei uns eingeführt hatte, nie geliebt.
Eines Tages zogen die Eltern fort. Helene nahm die Stelle der Mutter ein. Solange sie da war, erschien mir das Haus nicht allzu trostlos. Was von der Kinderschar übrig blieb, hatte weiter ein Nest. Ich war nun Geselle geworden und fing an, mehr Geld zu verdienen. Jeanne und Rene hatten Arbeit. Ich fuhr fort, mich mit Lektüre voll zu stopfen. Auf diese Weise lebte ich wie im Traum. Das mich umgebende Leben schien mir das wahre Leben noch nicht. Ich hatte den Glauben, nur in einem Provisorium eingesperrt zu sein. Ich hegte die Hoffnung, auf Reisen zu gehen, ein anderes, das wahre
Leben kennen zu lernen und die industrialisierten Länder zu verlassen. Inzwischen beschränkte sich das Leben auf die Sonn- und Feiertage, auf die Fahrten der anarchistischen Jugend. Jungen und Mädchen, Bruder und Schwester oder Kamerad zogen zusammen hinaus, den Rucksack auf dem Rücken, Sandalen an den Füßen, und erregten Neugier in der Öffentlichkeit. Zeltlager waren noch nicht zum allgemeinen Bedürfnis der städtischen Jugend geworden. Wenn wir im Freien umhergetollt und barfuss gewandert waren, wenn wir gespielt und die Waldluft geatmet hatten, was für eine Bitterkeit überfiel uns dann am Sonntagabend auf dem Heimweg in das gewöhnliche Alltagsleben!
Die jungen Mädchen, die ich dort traf, kannte ich allzu gut. Es waren Freundinnen von Helene, die selbst auch mit uns hinausging. Mochten sie auch sehr schön sein, ich hätte mich nicht in sie verlieben können. Sie hatten nichts Jungenhaftes an sich, weckten aber trotzdem in mir nur kameradschaftliche Gefühle. Ich schätzte sie sehr, aber sie waren mir zu vertraut, als dass ich auf ihren Körper neugierig gewesen wäre. Ich wartete auf die eine, mit der ich noch nie gesprochen haben dürfte, die ich zum ersten Mal sehen würde. Eines Tages kam sie und ging mit uns auf Fahrt. Sie war blond, schlank, ziemlich groß, ihr Gesicht mit den herben Zügen schien mir nicht aufregend schön. Ich schaute sie verstohlen an. Sofort liebte ich ihren anmutigen Gang, ihre Schultern, die Wölbung ihres Nackens, ihre straffen Brüste, ihre ein wenig raue Stimme und ihr unbändiges Wesen. Instinktiv vermied ich, mit ihr ins Gespräch zu kommen, was uns einander näher bringen und zu Kameraden machen könnte, einen dem anderen alltäglich.
Während der Woche dachte ich nur an sie. Sie ging wieder mit uns auf Fahrt. Wir zogen am Samstagabend hinaus und übernachteten im Freien, im Zelt oder Gezweig. Die Mädchen schliefen für sich, wo es am bequemsten war.
Den ganzen Tag über hatte ich keine Gelegenheit, mit Henriette allein zu sein. Ich war verzweifelt. Ich wollte nicht sprechen, sondern sie in meine Arme drücken; ich wünschte, dass sie von sich aus begriffe, dass ich mit ihr allein sein wollte. Wir spielten zu mehreren. Plötzlich lief sie weit weg, denn sie wusste, dass ich ihr folgte. Wir waren in ein Tal voller Bäume und Farnkraut gelangt. Dort fand ich sie unter Haselnusssträuchern verborgen. Ich setzte mich neben sie, die noch vom Laufen zitterte, in Erwartung des Augenblicks, da ich die Kraft aufbringen würde, dieses wunderbare Schweigen zu brechen und ihr zu sagen: „Ich liebe Sie", oder sie bei den Händen zu fassen. In der Ferne rief man nach uns. Sie antwortete nicht. Sie nahm einen langen Grashalm in den Mund; ich nahm das andere Ende und kaute langsam daran, bis wir Lippe an Lippe waren. Ich fühlte, wie mich ihre sanfte Wärme durchdrang, und in meinen Händen spürte ich die Wölbung ihrer biegsamen Hüften, entzückt von dieser ersten Berührung mit dem Weib. Ich Narr! Ich hatte einmal sterben wollen. Das Leben hält mehr, als es verspricht. Es machte mich überglücklich. Ich nahm Henriette in die Arme, ich küsste sie, ich sog ihren Atem ein, aufgewühlt, fiebrig — aber ohne Hast, das Liebesspiel weiterzutreiben.
Man rief uns. Wir waren zum Lagerplatz zurückgegangen. Helene sah mich forschend an. Ich gab mir Mühe, mein Glück zu verbergen. Ich hatte neben einem Kameraden unter einem kleinen Zweigdach geschlafen, das wir an einen Holzstoß angelehnt hatten. Am Morgen nieselte es. Henriette war aus ihrem Zelt gekommen, um unter unser zerbrechliches Zeltdach zu kriechen. Trotz eines Lodenmantels regnete es uns auf Rock und Knie. Der Wald roch gut in dem Regen, Henriettes Haar aber noch besser. Wir mussten uns trennen, uns in einem Bauernhof an ein Feuer setzen und uns trocknen. Ich hatte keine Eile, sie zu besitzen, trotz des Aufruhrs in meinem Blut. Ich fürchtete, sie durch meine Überstürzung zu erschrecken; ich war aber auch ängstlich, zu schnell bei dem Liebesspiel anzugelangen, das mir von einem ersten Kontakt mit der Prostitution als etwas Abstoßendes in Erinnerung war.
Bei der nächsten Fahrt schmollte Henriette und wich meiner Annäherung aus. Ich habe nie erfahren, warum. Vielleicht hatte man ihr weisgemacht, ich sei schwindsüchtig, wie Rene oder Helene, die auf unsere Ausflüge mitkamen. Ich dachte nicht daran. Sie mied mich. Ich war todunglücklich, ich hätte sterben mögen.
Ich arbeitete in einer dunklen und stinkigen Werkstatt. Eine gute Stelle. Ich verdiente gut. Es war leichte Arbeit: Ich gab das notwendige Werkzeug gegen Marken an die Arbeitskameraden aus. Am Schleifstein schärfte ich die Werkzeuge, und um meine Hand nicht der Feile zu entwöhnen, richtete ich mir ein paar Winkeleisen zu, kleines Gerät, das ich brauchen würde. Es war Sommer. Die Stadt war schweflig und voll Ruß, die Luft stählern, die Hitze bleiern. Am Schraubstock würgte ich an meinem Kummer, wie ein Schlafwandler in meine Träumereien versunken. Stur richtete ich mir meine Winkeleisen zurecht und sagte mir immer wieder: „Ich muss sterben." Der Körper ist nicht so töricht wie der Geist: Meine Hände waren weiter in meinem Leben tätig, das mich nicht mehr trug.
Rene arbeitete auf dem Land. Helene war zur Erholung in den Süden gefahren. Das Nest wurde leer. An meinem kleinen Tisch, in meinem kleinen Zimmer, dessen Fenster auf einen kleinen übel riechenden Hof hinausging, mit einem Ausblick auf die schwarzen Dächer, schrieb ich Briefe an Henriette. Straße, Werkstatt, Nachttisch und eisernes Bett: alles passte harmonisch zu meinem Weltschmerz. Ich war achtzehn Jahre alt. Das ist das philosophische Alter. Man verlangt nach dem Sinn des Lebens. Ich hatte an die Heiligen geglaubt, an den lieben Gott und die Jungfrau Maria, an die Revolution, den Anarchismus und an einen Weltplan, den der „Fortschritt der Menschheit" einhält. Jetzt wurde ich Nihilist, düsteren Gedanken ausgesetzt, und ich erhob mich bis zu den philosophischen Höhen des Weltschmerzes, hartnäckig vor mein Nichts gestellt, weil ein kleines Mädchen mir zu schnell ihre Liebe entzogen hatte.
Ich kam mir widerlich, hässlich, abgespannt vor. Nach der Dusche in der öffentlichen Badeanstalt schien mir mein Körper nur noch ein Sack aus elender Haut, der ekelhafte Funktionen verhüllte. Und dieses Scheusal wollte geliebt sein. Auch bei den Kröten gibt es die Liebe. Ich sah mich in der Gestalt eines ameisengroßen Männchens auf einem Erdball, der kaum größer als eine Kokosnuss war: Es zeigte sich entzückt, bewunderte Erhöhungen und Tiefen darauf, jede Falte und den Wuchs der Vegetation — ein kleiner Mann, zum Leben in der Illusion verurteilt, grotesk, dazu verdammt, alles schöner zu sehen, was um ihn ist, damit er seine unsinnige Gegenwart ertragen kann. Ein sinnloses Leben.
Aus dem Leben scheiden, das ist ein ernster Schritt. Ich wollte nachdenken und nur solchen Gründen nachgeben, die außerhalb meines Kummers herangereift waren. Allen Ernstes wollte ich die Sachlage untersuchen. Wo aber die notwendige Konzentration finden? Vor Angst schwitzend, hatte ich nur noch flatterige, flüchtige Gedanken. Niemals war ich so empfindlich für die Scheußlichkeit des Stadtbildes, für das Trostlose der kleinen Fabrikstraßen.
Wenn ich Hirt wäre, so träumte ich, würde meine Zeit ruhig dahinfließen, mein Denken wäre weniger zerrissen. In Algier wollte ich es sein. Ich hatte ein Ziel, ich war geheilt.
In Marseille durchdrang mich die tönende Stimme des Dampfers, die machtvoll und weit, aber auch traurig verhallte — wie das Gebrüll einer Kuh, die ihr Junges verloren hat. Meine Zwischendeckkarte in der Tasche, einen Koffer zu meinen Füßen, erfüllte mich jene unbestimmte Melancholie des Auswanderers, der ohne Gefährten nach Amerika fährt. Das Reisen wühlte mich auf. Eine süße Schwermut war es, von Erinnerungen voll. Ich würde die braven Siedler wieder sehen, die mich als Flüchtling aufgenommen hatten, meine Lehrerin mit den schönen dunklen Augen, die Schulkameraden und in Yusuf den Kranz der Maulbeerbäume, die blauen Hügel und die weite, sonnenglühende Ebene. In allen Lebensaltern sind wir voll wichtiger Erinnerungen, die wir unterwegs wieder verlieren. Die Nacht war angebrochen. Der Mond erhellte das Schiff, das verlassene Deck, schön wie ein Gespensterschiff mit seinen Masten, kam mir wie das weiße Skelett eines großen Vogels vor. Als Zwischendeckpassagier hatte ich mich auf meinen Koffer gesetzt, um so die Nacht zu verbringen.
Sturzwellen spülten herauf. Ich fühlte mich nicht wohl und gab mir Mühe, gleichmütig und ruhig zu bleiben. Ich war glücklich wie ein afrikanischer Soldat, der aus Frankreich zurückkommt und nun eines Morgens die Düfte der algerischen Erde tief in sich einatmet.
In Yusuf erfuhr ich, dass die arabischen Hirten nur ein Stück Brot und eine Handvoll Feigen verdienten. Das Jahr hatte Dürre gebracht, die Eingeborenen litten Hunger. Posten, in ihren Burnus gekauert, standen Wache, um die Ihren, die hungernden Beduinen, daran zu hindern, den Siedlern bei Nacht Hühner oder Schafe zu stehlen.
Ich wurde kein Hirt. Mit der Bimmelbahn fuhr ich nach Bone zurück. Ich wurde in einer Reparaturwerkstatt für Waggons und Loren eingestellt. Der Arbeitstag hatte zehn Stunden. Mein Meister ließ mich in einer Pension zu mäßigen Preisen unterbringen. Schlafsaal mit Abtrittkübel, und bei Nacht machten die Pensionsgäste im Hemd und bei Kerzenlicht Jagd auf Wanzen. Andere hatten es aufgegeben. Wenn ich beim Essen zufällig mit der Hand unter den Tisch fuhr, stieß ich auf vertrocknete Käsekrusten, die andere vom Messer gewischt hatten.
Ich musste sehen, anderswo unterzukommen. Aber schon die nächstbessere Pension verschlang mehr als meinen Lohn. Ich konnte nicht bleiben. Damals, mit zehn Jahren, hatte ich nur die Landschaft, die Eukalyptusbäume, den Oleander und die Sonne gesehen. Ich war an dem Elend der Araber vorbeigegangen, ohne es zu
ahnen. Jetzt sah ich im Hafen die Eingeborenen aus den Bergen in Lumpen gehüllt Phosphatschiffe beladen. Sie lebten auf ihrem Arbeitsplatz, Eingeweide und Hammelköpfe waren ihre Nahrung. Ich wusste, was sie verdienten: Nichts — oder so gut wie nichts für einen Franzosen. Von der Werkstatt aus sah ich den Strand, das weite Meer, sah die Wellen herankommen und die Brandung. In den sonnigen Ländern ist es noch härter, eingesperrt zu sein.
Bald kehrte ich nach Frankreich zurück.
Ich hatte nicht nur das Elend der Eingeborenen gesehen, sondern auch die Schönheit der arabischen Welt, die rassigen Musiker in den maurischen Cafes, die hoheitsvollen Kaufleute des Mohab, schön wie Kaids, edel wie Prinzen, ruhig wie Löwen. Man könnte meinen, sie seien im Besitz aller Weisheit der Welt. Ihre geringsten Bewegungen sind von äußerster Vornehmheit, ob sie den Kif rauchen, Tee trinken oder einen Freund empfangen. Sie sind der Inbegriff verklärter Ausgeglichenheit.

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