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Georges Navel - Werktage (1945)
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WERKSTÄTTEN

Mein Vater ging auf die Siebzig zu und arbeitete immer noch, aber in der Nähe unserer Wohnung, um die Unannehmlichkeit einer Straßenbahnfahrt oder die
Mühe des Fußweges zu vermeiden. Wenn ich durch die Straße ging, sah ich ihn in einer Gruppe rostfarbener alter Männer. Sie luden Bleche und gebündelte Eisenstäbe ab. Ich sah sie in einem großen Schuppen hin und her gehen. Lastwagen und Pferdefuhrwerke hielten vor dem großen Tor, um Material auf- oder abzuladen.
Ich war über fünfzehn. Seit mehr als drei Jahren machte ich als Hilfsarbeiter allerlei durcheinander. Ich wollte so bald als möglich ein Handwerk erlernen. Mein Vater sagte mir:
„Ich bin mein Leben lang Hilfsarbeiter gewesen, warum du nicht?"
Meine Mutter aber meinte: „Mir soll's recht sein, mein Junge, wenn du nur etwas verdienst."
Durch eine List gelang es mir, in die Lehre zu kommen, indem ich mich als Hilfsmechaniker ausgab. Rene und Lucien hatten — der eine um Kupferschmied, der andere um Former zu werden — einen Dreh gefunden, ohne eine ordnungsmäßige Lehre zu durchlaufen.
Wenn ich ein Handwerk lernte, musste ich mir dabei auch meinen Lebensunterhalt verdienen. Lucien hatte geheiratet. Rene, von der Nachtarbeit in den Rüstungsfabriken ausgelaugt, hatte in ein Sanatorium gehen müssen. Helene war nach wie vor zu schwach zum Arbeiten. Die Familie lebte also von den Löhnen eines alten Mannes, einer Frau und eines Lehrlings. Ich musste schon etwas verdienen.
Im allgemeinen waren die revolutionären Arbeiter, die von der Presse Rädelsführer genannt und dabei als Wahnwitzige oder Banditen dargestellt wurden, ausgezeichnete Fachkräfte. Sie gehörten zur Elite der Arbeiterschaft. In Lyon kannten sich alle untereinander.
Seit 1918, als mich mein Bruder in seinen kleinen Kreis von Gewerkschaftlern eingeführt hatte, stand ich mich gut mit einem, der älter war als ich. Er war ein Kamerad, ein Freund. Im Gewerkschaftshaus sprach er bei den Aninestiekundgebungen oder in den Streikversammlungen. Durch ihn kam ich in die Werkstatt, in der er Vorarbeiter war. Man setzte hier alte Drehbänke instand, mit denen früher Granaten gedreht worden waren; es war Material aus den Rüstungsfabriken, das der Staat abstieß. Es wurde in altmodischem Stil, mit handwerklichen Mitteln gearbeitet, fast ohne Maschinen. Ich lernte die Feile geradeführen. Bald war ich außer zum Fegen und zu Botengängen zu wirklichen Leistungen fähig. Nury fertigte sein Werkzeug an und überholte das abgenutzte Material. Schöne Stunden verbrachte ich beim Bedienen des Ventilators vor der Schmiede. Wenn es Not tat, arbeitete ich auch mit dem Schmiedehammer. Ich beobachtete die Bewegungen des Kollegen, der mich anlernte. Wenn das Stück Stahl auf Rotglut erhitzt war, ergriff er es mit der Zange und machte mit ein paar Hammerschlägen daraus einen Meißel oder einen Lochbohrer. Je nach dem Verwendungszweck härtete er es, wenn es „strohgelb" oder „taubenhalsfarbig" geworden war. Ich war stolz darauf, den blauen Lehrlingskittel zu tragen. Ein Jahr verging. Das Scheitern eines Generalstreiks war das Anzeichen für den Abstieg der Arbeiterbewegung nach den revolutionären Stürmen der Nachkriegszeit. Die fiebernde Erregung von 1919 lag weit zurück. Ich war niedergeschlagen. Zu früh war ich in das bewusste Leben eingetreten, ich hatte zuviel gelesen und war zuviel herumgekommen. Die dunkle und schlecht gelüftete Werkstatt bedrückte mich auch sehr. Am Schraubstock gab ich mich düsteren. Grübeleien hin. Ich war von Zweifeln gepackt. Ich vermochte nicht mehr an die mögliche Umwandlung der bürgerlichen Gesellschaft in eine anarchistische zu glauben. Wenn ich mir auch immer wieder sagte, dass die Kirche mit einer Handvoll Apostel angefangen hatte, so empfand ich doch schmerzlich die Schwäche der kleinen Gruppe, der ich nahe stand, und die Tatsache, dass die anarchistische Propaganda nur eine sehr kleine Anzahl von Menschen erreichte. Ich sah für die sterbende, bürgerliche Gesellschaft noch einen ganz schönen Lebensabend voraus. Aber lieber wollte ich sterben, als resigniert leben und die Existenz meines Vaters nachahmen.
Jetzt war ich wissend geworden.
An einem Märzabend, nachdem ich mir eine Stelle ausgesucht hatte, an der das Wasser tief genug zu sein schien, stieg ich entschlossen über die Brüstung einer Rhone-Brücke und sprang hinab. Die Kais, die schmale Brücke waren menschenleer. Niemand hatte mich gesehen. Ich sah noch die Nacht, die elektrischen Lampen. Aus der Traum ... Noch nicht ganz. Plötzlich war ich in einem Leben, das schneller vorüberzog als die mich fortreißende Strömung, Zeuge, Opfer und Gerichtshof zugleich. Es war nur ein Augenblick, in dem ich Maidieres noch einmal sah und mich des Mordes an dem Lehrling anklagte. Bis zum Bauch im Wasser stehend, kam ich wieder zu mir. Ich hätte bis zum Morgen auf die Feuerwehr warten können: Lieber riskierte ich es, sofort allein das Ufer zu erreichen.
Zwei Monate später, als ich die Werkstatt verlassen musste, gab es wenig Arbeit. Ich war zum Arbeitsnachweis gegangen. Bis ich meine Lehre fortsetzen konnte, nahm ich eine Stelle auf dem Lande an. Das Leben war wieder gut geworden. Ich war auf der Weide, hütete fünf Kühe. Alles machte mir Spaß. Ein deckelloser Strohhut, zu kurze Hosen und ein Paar gähnende Latschen hatten mich in eine Vogelscheuche verwandelt. Es war eine flache Landschaft mit Hecken und Pappeln rings um ein verschlafenes Dorf. Morgens nach dem Kaffee zog ich mit einer Schnitte Brot und Käse hinaus und trieb meine Kühe auf den Wegen zu einem entfernten Weideplatz vor mir her. Ein Hund half mit dabei. Wir blieben bis zu den heißen Stunden dort. Laut schreiend trieb ich die Herde zurück, belustigt durch die aus meiner Kehle dringenden Laute. Ich überließ mich ganz dem Leben, biss herzhaft in mein Brot, gab mich dem Glück der lauen Luft hin und war selig, wenn mich die Sonne bräunte. Die Luft roch würzig nach Lilien, Geißblatt und Pappeln. Die Tage waren sehr lang: Die wechselreichen Stunden lösten einander ab, und nichts ereignete sich. Ich wollte jetzt gern ein alter Mann werden, ein Bauer, der auf einer Steinbank sitzt und seine Pfeife raucht, wie der, dem ich abends begegnete, wenn ich meine Kühe heimtrieb, der Sonne zu, die die Ebene vergoldete und sogar den Staub schöner machte. Ich wollte gern jeden Tag zur gleichen Stunde am gleichen Ort sitzen in einem Leben, in dem ein Tag dem andern gleicht.

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