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Georges Navel - Werktage (1945)
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LAVENDEL UND SENSE

Für gewöhnlich arbeiten die Schnitter bei der Lavendelernte im Akkord. Darum trachtet man danach, sich höchste Gewandtheit im Spiel seiner Hände anzueignen, mit der gleichen Behändigkeit die Sichel zu handhaben und die Büschel der geschnittenen Ähren zu ergreifen. Selbst dann noch, wenn man die Arbeit ordentlich beherrscht und die Fertigkeit eines guten Schnitters hat, bemerkt man, dass die Aufmerksamkeit weiter angespannt bleibt und dass die Vollkommenheit eine unendliche Größe darstellt, von der man immer noch weit entfernt ist. Ununterbrochen empfängt man aus seinen Handgriffen Beweise dafür, dass die Aufmerksamkeit bemüht ist, sie zu korrigieren, um sie vollkommener, geschmeidiger, wirksamer zu machen. Hände und Beine werden zu Werkzeugen im Dienst der Aufmerksamkeit, die man auch die Arbeitsintelligenz nennen könnte. Wenn man bewusst, mit wachen Sinnen lebt und sich bei der Arbeit beobachtet, entdeckt man, dass die Aufmerksamkeit jeder Bewegung innewohnt, dass sie dauernde Gegenwart ist, dass sie dem Lavendelschnitter beim Mähen der Ähren wirklich Gesellschaft leistet. Ohne sie wäre alles eintönig, lang wären die Stunden in der Sonne, im Schweiß, auf dem Felsgestein am Hang des Gebirges.
Schön ist er nicht, so ein Lavendelschnitter. Er schwitzt, ist schlecht rasiert und schleppt, während er beinahe auf allen vieren vorankriecht, einen Ballen auf dem Rücken, der ihn einer Schnecke ähnlich macht. Er kriecht voran, zwei Pfoten hinten und zwei vorne, deren eine mit ihrer Heuschreckensichel alle Blumen vor sich wegschneidet. Jeder einzelne, gekrümmt und bepackt: ein Insekt.
Ein großer Vorzug dieses Saisonhandwerks besteht darin, dass man sich vor der Augustsonne nicht zu fürchten braucht und noch weniger vor Kreuzschmerzen. Es geht also, sobald die Hände geschickt genug zur Arbeit sind und man die notwendige Ausdauer erreicht hat. Selten kommt man um eine Schnittwunde von der Sichel herum. Alle Schnitter tragen Verbände an den Händen; aber alle Wunden heilen rasch und entzünden sich nie; auch nur selten fordert ein Schnitter einen Krankenschein oder verlässt wegen eines mehr oder weniger schlimmen Wehwehs den Arbeitsplatz.
Die kräftigsten Schnitter, die auch die höchsten Löhne erreichen und den größten Ertrag schaffen, sind im allgemeinen die Piemontesen. Schon in ihrer frühesten Jugend haben sie in ihrer Heimat mit der Sichel Gras für Kaninchen und sogar Getreide gemäht. Es gibt auch ein paar Spanier, die mit ihrem hitzigen Temperament echter Südländer Wunder tun.
Es ist eine ziemlich harte Arbeit, aber man fühlt sich frei und froh dabei, selbst wenn man alle Kräfte hergibt. Man arbeitet im Akkord, der Ertrag allein zählt, und man hat weder Chefs noch Aufseher auf den Fersen. Man verschnauft, wann immer man Lust hat. Man hebt den Kopf, wann immer man will, ohne so tun zu müssen, als spuckte man sich in die Hände, kratze seine Schaufel ab oder rücke sich seinen Gürtel zurecht, wie das der Erdarbeiter tut, wenn er sich von einem Aufseher beobachtet fühlt. Und außerdem ist man in der unverfälschten Natur. Man steht mit den Morgensternen auf, sieht die abendlichen Sterne, wenn man bis in die Nacht hinein arbeitet. Während des Tages hat man das nötige Mittagsschläfchen gemacht. Es ist das Leben auf dem Lande, im Gebirge, ohne dass man Bauer oder Knecht wäre.
Auf diesen Bergen der Niederalpen und im Vaucluse sind Nächte und Sterne schöner als irgendwo anders, ist die Abendzigarette beim Feuer unter dem Kochtopf ein größerer Genuss. Man fühlt sich hoch oben. Immerfort atmet man den Duft des Lavendels, er findet sich wieder im Duft des Strohs, der Korngarben und der Herden. Es ist, als steige der Duft der Erde bis zu den Sternen auf. Kommt man bei Nacht ins Hochland, in ein verlorenes Dorf, einen Weiler, und jenseits des "Weilers in ein weitabgelegenes Gehöft, sagt man sich, je höher man hinaufklettert: „Wenn ich da einen Monat bleibe, werde ich beim Hinuntersteigen nicht mehr derselbe sein." Mit jedem Meter wird man ein wenig heiterer und zufriedener. Man wird dem Unermesslichen, dem Ruhevollen gleich, das einen umgibt. Wenn man allein ist, hat man Lust, wie ein Insekt still vor sich hin zu singen, nur Liebe, nur Sommer zu sein.
In einem Bauernhof, wo ich beköstigt wurde (das ist eine Ausnahme; im allgemeinen sorgt man selber für seine Verpflegung), war der schönste Augenblick für mich der Morgenimbiss: mit der Arbeitsgruppe im Schatten eines der wenigen Bäume des Plateaus zu frühstücken. In diesem trockenen und dürren Landstrich hatte die Nahrung auch in ihrer schlichtesten Form etwas Wunderbares. Die Tomate, das gekochte Ei, die Scheibe Schinken, die Zwiebel und das Glas Wein sind in den fetten Ebenen gewöhnliche Dinge. Es ist ganz natürlich, sie vor sich zu sehen. Da oben aber, dieses Geröll vor Augen, in dem nur Roggen und Lavendel wachsen, angesichts dieser Dürre des August, hätte ich den unbekannten Vorfahren umarmen mögen, der das Huhn zum Haustier gemacht, der versucht hatte, Schweine aufzuziehen, und den ersten Gärtner, der die Tomate gepflanzt hatte. Die Nahrung schien mir wie eine Errungenschaft, ein Sieg der Gattung. Der Baum, eine hohe Buche, war schön, sein Schatten gut, und der Geschmack der Speisen war durchdrungen von diesem kerzengerade in die Sonne aufragenden Baum und von der unendlichen Weite, die ich vor Augen hatte. Das machte mein Glück aus. Auch das der Kolonne, und unser Vorteil war ein ebenso kräftiger wie dankbarer Appetit. Die Zeit der Mahlzeit war der einzige Augenblick wahrer Freundschaft zwischen uns. Bei der Arbeit waren wir mehr oder weniger scharfe, mehr oder weniger anständige Rivalen. Unter dem Dutzend Schnecken, die wir am Abhang des Gebirges verstreut waren, schnappten wir um die Wette in das Arbeitsfeld des Nebenmannes hinein und schnitten ihm, ohne mit den Wimpern zu zucken, die schönsten Lavendelbüsche vor der Nase weg, um schneller das Gewicht unserer Ernte zu steigern, indem wir dem anderen die mageren Büschel ließen. Bei der Arbeit blinzelte man verstohlen einander an und überwachte das Vorankommen der Nachbarn, um nicht allzu sehr geprellt zu werden und nur das kleinste und unansehnlichste Büschel zu schneiden. Manchmal kommt es auch vor, dass es in einer Gruppe ehrlicher zugeht, und dass die Nachbarn auf ihrem Platz bleiben. Im angebauten Lavendel, der in Reihen gepflanzt wird, geht man ohne Konkurrenten geradeaus vorwärts; am Berg aber, im Wildwuchs, geht es darum, wer sich am schnellsten auf die schönsten Pflanzen stürzt. Darum zieht man letzten Endes die Zusammenarbeit zu zweit oder zu dritt vor, die vielleicht ebenso anstrengend, aber friedlicher ist. Man konzentriert sich mehr auf das Spiel seiner Hände.
Wenn ich mich aufrichtete und den Ballen, der auf meinen Schultern lastete, auf ein großes Segeltuch zu einem Haufen aufschüttete, oder meine Sichel mit dem Wetzstein schärfte, sah ich den schönen Umriss des Mont Ventoux mit seinem. Gipfel dicht unter den Wolken. Einer meiner Kameraden fand, die Erde sähe dort aus, als rauchte sie ihre Pfeife. Wenn wir an Ort und Stelle fünf Minuten Pause machten, blickten wir stets zum Mont Ventoux hinüber. Wenn der Blick hinweggeschweift war über die ganze, von Kalkgestein und Lavendelblüten weiße und blaue Landschaft, die seltsam reglos und ohne jeglichen Vogelsang dalag, blieb er dort hinten an dem Gebirge und seinem Pfeifenqualm stiller Wolken haften, und um nicht dem Gestein zu ähneln oder den von starken Winden in eine Richtung gewundenen und geneigten Mandelbäumen, setzte man sich wieder in Bewegung. Diese Landschaft erweckte wieder in uns das beglückende Gefühl, Menschen, bewegliche Wesen zu sein.
Immer wieder beobachtete ich das Spiel meiner Hände. Ich hatte mich kein einziges Mal geschnitten. Dabei waren die Halme kurz. Im Frühjahr hatte es nicht genug geregnet. Ich hatte eine gute Sichel, deren Eisen ich morgens und mittags auf einem kleinen Amboss dengelte. Sie schnitt wie ein Rasiermesser. Mühelos ließ ich sie mit der Spitze nach unten durch die Halme gleiten. Während die linke Hand die Stängel in entgegengesetzter Richtung aufrichtete. Ein Büschel kam zum anderen. Beide Hände kreuzten sich unaufhörlich bis zu dem Augenblick, da die überfüllte linke das starke Bündel Halme, das sie nicht mehr halten konnte, in den Ballen stopfte.
Vater Leorat, ein alter Kollege, der alles konnte, notfalls auch eine Kugel aus dem Schenkel eines Mannes herausholen oder ihn von einem schweren Sonnenstich kurieren, einen Baum pflanzen, ihn verschneiden, ein Häuschen bauen genau so wie eine Gartenbank zimmern oder einen Korb aus Weidenruten flechten, hatte sich bemüht, mir das Mähen und das Dengeln einer Sense beizubringen. Um noch ein Wort über ihn zu sagen: Er war Siedler in Chile gewesen; ein Alter mit klarem Kopf, jung im Herzen mit seinen über fünfundsiebzig Jahren und noch imstande, ein Stück Garten mit der Spitzhacke zu bearbeiten, indem er seine letzten Kräfte mit Verstand einsetzte. Nicht hochmütig. Alles, was er konnte, schien ihm leicht zu lehren. Seine ständige Redensart war: „Ich zeig's dir mal." Eine Haltung, der man selten begegnet. Gewöhnlich fühlen sich die Menschen, gleichgültig in welchem Beruf, um die ganze Dauer ihrer Erfahrung erhaben über die, die ihren Beruf nicht kennen. Man könnte meinen, sie hätten selber keine Lehrzeit durchgemacht, und nach ihnen werde es keine Anstreicher und Stuhlflechter mehr geben; gerade so, als hätten sie ihr berufliches Können wie eine Gottesgnade empfangen. Für Vater Leorat war alles einfach und mitteilbar. Wenn ich damals gewollt hätte, hätte er mir das Pfropfen beigebracht.
Als ich aber nach Jahren einmal eine Sense in die Hand nahm, war das ein klappriges Unding, eine uralte, verbogene, rissige Klinge, die ich in meinem Schuppen gefunden hatte. Als ich mit diesem Instrument eine Wiese abmähen wollte, war das trotz der guten Lehre bei Vater Leorat recht schwierig.
Ich gab mir Mühe, sie so gut zu dengeln wie einstmals meine Lavendelsichel, so wie er es mir gezeigt hatte. Auf der Wiese kratzte die Klinge, aber sie schnitt nicht; auch nicht, nachdem ich sie mit dem Wetzstein bearbeitet hatte. Ich hatte sie schlecht auf dem behelfsmäßigen Stiel festgemacht, in einem zu stumpfen Winkel. In weicherem Gras schnitt sie gelegentlich einigermaßen. Ich fragte mich, ob ich den Stiel nicht zu fest anpackte, ob ich mich nicht zu tief bückte. Ich versuchte, mir die Sense als eine große Sichel mit Stiel vorzustellen. Ich wusste nicht recht, ob das schlechte Schneiden an mir oder am Werkzeug lag. Ich wetzte sie, dengelte sie. In zwei Stunden hatte ich nicht einmal zehn Quadratmeter gemäht. Ich bearbeitete sie noch einmal mit dem Wetzstein.
Die Klinge schnitt von Zeit zu Zeit. Meine Hand aber war jetzt mit dem Werkzeug vertraut geworden, energischer wetzte ich mit dem Stein: ich hatte den Kontakt mit der Schneide gefunden.
Mein Werkzeug schnitt, es war in Ordnung, die Sense arbeitete ohne Widerstand. Ich bahnte durch die Wiese einen breiten Weg, ließ mich von der fast gewichtlos gewordenen Sense führen, wach wie ein Jäger auf der Lauer; meine Sinne waren mit der Sense verbunden, als liefen Nerven von der Klinge zu meinen Händen.

 

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