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Georges Navel - Werktage (1945)
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ANSTREICHER

Die Anstreicherkolonne arbeitet in einer Villa. Vor der Villa ist ein winziger Park, eine Art kleiner Vorgarten mit einem Baum, zu dem ein paar Vögel fliegen. Es heißt, dass ein solches Landhäuschen mit Park in, Auteuil dreißigtausend Frank Miete kostet.
Eine äußerst vornehme junge Frau sitzt im Park unter dem einzigen Baum, in dem die Vögel singen, träumt vor sich hin und liest Kriminalromane, während sie mit seltener Anmut die Asche ihrer Zigarette aus orientalischem Tabak abschüttelt.
Drei Leute stehen zu ihrer Bedienung bereit; das Hausmädchen, die Köchin und der Hausmeister, der eben einen Wagen blank putzt. Drei Personen zu ihrer Bedienung, zwei Wagen: die Lektüre der Kriminalromane ist kostspieliger als beim gewöhnlichen Volk. Der Lebensstandard der so schönen jungen Frau und ihres Mannes entspricht meiner Schätzung nach einem Einkommen von mindestens hunderttausend Frank. Denn sie hat einen Mann, und das ist beinahe schade. Er muss die Wörterbücher der Gaunersprache und die Romane von Eugene Sue lesen. Wenn er ungeduldig wird, spricht er mit bewundernswerter Geläufigkeit den Unterweltsjargon.
Im Hof steht ein kleiner Kübel. Ein Anstreicher hat ihn soeben mit schönen Farben bemalt, aber der Herr ist nicht zufrieden. Er läuft rot an: „Was ist das für eine Saubande, die den Zement da reingewichst hat!" Der Zement ist drin, damit der Boden des Kübels hält. „Macht Kleinholz draus! Ich will nur neue Sachen!"
Nebenan stehen Arbeitslose. Sie warten auf den Beginn der Volksspeisungen im Stadtteil Auteuil. Sie appellieren — mit wie viel Demut — an das Mitgefühl der Vorübergehenden.
Unsere Kolonne wechselt den Arbeitsplatz. Diesmal ist es wirklich ein Park und eine erheblich größere Villa. Sehr angenehm ist der Park, wenn die Affen nicht da sind. Das erinnert mich wahrhaftig ans flache Land, aber diesmal sind es dreihunderttausend Frank Einkommen. Korbsessel, Tauben: die wahre Ruhe, die ich in Paris vergeblich suche.
Nebenan der Pferdestall. Pferde für einen Spazierritt durch den Bois de Boulogne. Rennpferde, das ist überflüssig: zu hohe Unterhaltungskosten — ein Dienstbursche mehr mit seiner Familie zu ihrer Wartung.
Wie viel arme Schlucker arbeiten, um euch zu pflegen, dich, Azur, dich, Tartempion, und dich, Pferd der gnädigen Frau ...! Allein, das gehört zum guten Ruf ... So, hoch zu Ross, fühlt das Großbürgertum, wie es im, Bois de Boulogne zu einem neuen Feudaladel wird. Das ist schon sehr „Oberschicht". Ein Bauer, der auf seiner Schindmähre vom Felde heimkommt, hat wirklich keine Ahnung von dem Vergnügen eines Ausritts in Paris.
Die Anstreicher sind die Aristokratie des Bauhandwerks. Zwischen all den schönen Kulissen schlendern sie in Pantoffeln umher, alles scheint ihnen natürlich, überall sind sie zu Hause. Die wertvollen Nippsachen können ruhig schlafen.
Doch einmal habe ich mit den Kameraden einen Blick in die Bibliothek geworfen. Bibliothek für Leute von Welt, immerhin mit Geschmack gewählt: Lawrence, Katherine Mansfield ... Da lässt sich nichts gegen sagen, das Gymnasium hat seine Früchte getragen.
Ein Auftrag hat mich zum Prinzen von X. geführt...
Ein „building", aber geschmackvoll. Stil der Zukunft, der Zukunft aller.
Zwei Eingänge gibt es: einen für die Herrschaften und den anderen, den ich benutze, den Aufgang für Dienstboten, der in allen Stockwerken nach Lakaien riecht, nach gestärkter Hemdbrust, tiefem Bückling und komplizierten Küchen.
Ein schöner Groom, gekleidet wie ein englischer General, hat mir geöffnet; er ist durchdrungen von der Wichtigkeit des Hauses, das er repräsentiert, und geschmeichelt, einem edlen Ritter zu dienen.
Die Küche sieht sauber und hygienisch aus, die Köchin reif und angenehm. Ach, und meine Proletarierfüße müssen auf den dicken, cremefarbenen Teppichen des Flurs und der Salons herumtrampeln. Es ist märchenhaft hier. Schnee, Schlagsahne, eine sanfte Wärme, alles ist weiß und hell, ein Bild unbefleckter Empfängnis. Das ist Geschmack, wirklich guter Geschmack. Wenn ich zu lange hier bleibe, werden mir Flügel wachsen. Der Teppich ist weicher als das Moos der Bäume, sanfter als die Natur.
Ich stoße auf den edlen Ritter. Der edle Ritter summt vor sich hin, er ist klein. Eigentlich könnte er Senf verkaufen, aber er verfügt über artige Gesten, so dass er mit der Prinzessin, seiner Frau, „Graf und Gräfin" spielen kann. Er macht keine Umstände, mein Chef steht anscheinend auf gutem Fuß mit ihm.
Es klingelt. Der „englische General" stürzt hinaus, um aufzumachen; auf Zehenspitzen schwebt die Prinzessin heran. Eine Freundin der gnädigen Frau ist gekommen. Sie begrüßen einander wie zwei Seelen im Paradiese, zwei schattenhafte Wesen. „Teure Freundin, stoßen Sie sich nicht, um des Himmels willen!" Vom Vestibül bis zum Salon überschüttet die Prinzessin ihre Freundin mit Aufmerksamkeiten und Höflichkeitsbezeigungen und schützt sie in umherwirbelndem Eifer gegen unsichtbare Feinde. Ein Louis-Seize-Sessel streckt der Angekommenen seine Arme und den makellosen Sitz hin.
Der edle Ritter summt, liebkosende Blicke schweifen über die Gegenstände ringsum. Ich trage eine Chinavase hinaus, hinter mir bleibt Besorgnis zurück. Wird die Vase entzweigehen?
Ich komme wieder auf die Straße; da ist das Pflaster, die Natur, der unwirsche Himmel, die knorrigen Bäume ... Ein Arbeitsloser haut mich um hundert Sous an. Er ist ein ehemaliger Landarbeiter, der vom Dorf kommt und die Volksküche sucht. Er hat nichts von einem gewerbsmäßigen Vagabunden an sich.
In der Etage, die mir noch im Kopf herumgeht, in der Wohnung der aristokratischen Schmetterlinge geht das Leben weiter, delikat.
Samstag, auf der Baustelle ist Schluss. Der Angestellte ist gekommen, um die Löhne auszuzahlen, es herrscht eine Ungewisse Unruhe unter den Arbeitern.
Ich persönlich mache mir keine Sorgen. Wie immer es um die Arbeitslage bestellt sein mag, ich bin in unserer Bude unabkömmlich. Man wird mich immer für Botengänge, zum Aufräumen und zum Überpinseln von irgendwelchem alten Krimskrams brauchen.
Es stehen andere Bauarbeiten in Aussicht, aber es ist nicht sicher, ob unser Meister den Auftrag bekommt. Felicien macht sich Sorgen. Er ist der beste Kollege, er ist der Älteste. Ivan ist gleichfalls in Sorge, er ist der Jüngste von allen, und er ist nicht vom Fach. Ein Kamerad, unser Baustellenleiter, hat ihn in den Arbeitsplatz hineingeschmuggelt und ihn dadurch vor der Arbeitslosigkeit bewahrt. Ohne Arbeit sein, das bedeutet für ihn die Einsamkeit, die Rückkehr in seine kleine Bude in Barbes und die magere Arbeitslosenunterstützung als einzigen Unterhalt.
Wir sind sechs Mann, jeder wägt und grübelt. Schließlich wird Felicien abgebaut. „Na ja, nun ist's soweit, ich bin zu alt, man rangiert mich aus!"
Wenn die Arbeit schon für alle Anstreicher knapp ist, so ist sie für die älteren Anstreicher noch knapper. Die Unternehmer sehen, wohl aus Mitleid, nicht gern die alten Leute auf den Gerüsten sterben. Felicien ist kein alter Mann; er nähert sich erst den Sechzig, aber er ist verbraucht, was ihn freilich nicht hindert, auf dem Bau noch seinen Mann zu stehen.
Scherzend rekapituliert er sein Leben:
„Da, siehst du meine Klamotten? Nach mehr als vierzig Jahren Arbeit ist das mein einziges Kapital!"
Er übertreibt, er hat noch Kleidung zum Wechseln, und er kommt immer sehr sauber zur Arbeit, wie alle Kollegen in Paris.
Felicien wurde am Samstag entlassen. Am folgenden Dienstag sah ich ihn wiederkommen:
„Alter Freund, du bist jetzt mein Gehilfe, und ich bin dein Chef, nimm die Leitern in ein Taxi. Wir gehen auf die andere Baustelle." — Ich sage:
„Wie denn? Was ist denn das für eine Geschichte?"
Er lacht wie ein alter Säugling, glücklich über sein Abenteuer.
„Du wirst schon verstehen! Ich bin aufs Büro gegangen, um ein Zeugnis zu holen. Der Angestellte sagte
zu mir: ,Treten Sie näher, Herr Felicien!' Der Chef sagte: ,Setzen Sie sich, Felicien!' Er hat mit mir geredet, so wie ich mit dir rede ... Ich habe mich in den Sessel gesetzt, und er hat mir eine Zigarre angeboten."
Das ist es also, und das findet der Felicien nun schön, dass der Chef mit ihm geredet hat, „wie ich jetzt mit dir rede".
Felicien wird Baustellenleiter und ich seine rechte Hand. Auf seinen Wink gehe ich einen Liter Rotwein oder Zinkweiß holen. Geheiligt durch das Büro, bei dem ich jeden Morgen vorbeigehe, bin ich in seinen Augen eine Autorität, ich aber erkenne die seine durchaus an.
Wenn die Kollegen Durst haben, sause ich los und hole Wein; ich mache mich nützlich, indem ich seine Anweisungen befolge. Sobald ich den Besen wegstelle und der Bau sauber ist, befasst er sich damit, mich das Handwerk zu lehren: kalken und verkitten.
Felicien mag mich gut leiden, weil ich mit dem Herzen bei der Arbeit bin. Für ihn ist die Arbeit alles. Schlösser, Villen, die Wohnungen der Reichen sind nur dazu da, dass die Maler darin „saubere Arbeit" verrichten, und dass sie, mit dem Handrücken über eine gestrichene Fläche fahrend, bei der Berührung mit der sanften Gleichmäßigkeit sagen können: In Ordnung. Felicien sehnt sich nach der schönen Arbeit von früher mit dem giftigen Bleiweiß zurück ...
Felicien ist ganz stolz, der Bau ist ein beträchtliches Objekt. Wir sind zu zwölft; die Wohnung ist grandios. Um es den Anstreichern, denen er begegnet, ja richtig zu beschreiben, geht Felicien so weit, die Zahl der Zimmer und Bäder zu übertreiben. „Es ist nahe am Bois de Boulogne, für einen großen ausländischen Bankier!" ...
Väterlich leitet er die Arbeit. Wir sind ein Dutzend von der Gewerkschaft überwiesene Leute, alte Arbeitskollegen. Es herrscht ein guter Geist; Bücklinge gibt es nicht. Ein Maler, der gerade singt, hört nicht auf, wenn der Pomadenhengst, unser Chef, ankommt oder wenn eine parfümierte und vornehme Gesellschaft — Kunden oder Besucher — die Baustelle besichtigt.
Es geht lebhaft zu auf dem Bauplatz: Klempner, Steinmetzen, Parkettleger, Bauarbeiter. Auf die Gipswand habe ich eine schöne Sichel und einen Hammer gezeichnet. Die Besucher gehen vorbei und sagen nichts, auch Felicien kommt vorüber, und um der feinen Welt nicht weh zu tun, wischt er unser Erkennungszeichen aus.

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