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Georges Navel - Werktage (1945)
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DIE SCHULE

Meine Jugend war nicht unglücklich, ich hatte nie Hunger. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Vater und Mutter mich je geschlagen hätten. Wirklich gelitten habe ich nur unter der Schule, im Kindergarten und auch in der Volksschule. Wie alle bekam ich einige Ohrfeigen oder einmal eins mit dem Lineal auf die Finger, aber ohne Übertreibung. Diese Schläge prägten sich nicht in die Erinnerung ein und waren wirklich kein Grund, um in mir Hassgefühle gegen das ältliche Fräulein zurückzulassen, das den kleinen Kerlen das Abc beibrachte, und auch nicht gegen den Lehrer, der sich allein um eine Klasse von sechzig sieben- bis dreizehnjährigen Jungen zu kümmern hatte.
Ich habe in der Schule unter dem Eingesperrtsein gelitten, und ich habe nichts gelernt, weder Rechtschreibung, noch Grammatik, noch rechnen, nicht einmal, mich in den Pausen zu vergnügen, denn meistens bin ich im Schulhof herumgeschlichen, weil ich fast immer eine Strafe zu verbüßen hatte. Vergebens hat man mich geschlagen, damit ich ein guter Schüler werde, die Schule lieb gewinne und sie regelmäßig besuche, vergeblich auch hat man mich mit der Eselsmütze der Dummen geschreckt. Obwohl ich regelmäßig zur Schule ging, konnte ich doch mit zehn Jahren keinen Deut mehr als gerade etwas zusammenzählen, fließend lesen und schreiben, wobei ein paar große Buchstaben noch viel Mühe machten.
Aus den Büchern der Schulbibliothek, Jules Verne und Erckmann-Chatrian, die mir unser Lehrer, Herr Joly, auslieh, habe ich mehr gelernt als auf den Bänken seiner Klasse. Bei der Lektüre lernte ich wenigstens die Rechtschreibung und die Bedeutung der Worte — zwar unzureichend, aber doch besser, als wenn ich bis zum Abschlusszeugnis ein guter Schüler gewesen wäre. Um mir wenig beizubringen, hat man mich vergebens während der besten Stunden des Tages von der Welt abgeschnitten, in der ich mit meiner Mutter lebte: von den Feldern und Gärten, wo ich mich körperlich entwickeln konnte, und gab mir dafür eine andere Welt, in der ich mich auf einer Bank zusammengekauert langweilte.
Man raubte mir die Welt, in der meine Träume reizvollere Anregungen fanden als die, welche das Schönschreiben einer Seite mit E oder I bietet. Nichts ist mir geblieben von diesem unverdaulichen Futter, von den Geschichtsstunden, der Physik oder der Grammatik, selbst wenn ich mich bisweilen zur Aufmerksamkeit zwang, nichts von all den Worten, die ich vernahm und die doch nichts bedeuten, wenn sie nicht auf ein höheres Wissen hinführen, wenn sie der Herangewachsene nicht durch das Studium oder eine lang betriebene persönliche Weiterbildung vervollständigt. Und es wäre auch nichts in mir haften geblieben, wenn ich alles gelernt hätte, was Herr Joly sagte. Allerdings, wenn ich alles gelernt hätte, was er uns beibringen wollte, wenn ich, das Abgangszeugnis in der Tasche, mit einer guten Rechtschreibung und einer schönen Schrift seine Schule verlassen hätte, wäre ich in der Lage gewesen, mit dreizehn Jahren eine Laufbahn als Federfuchser in der Fabrik zu beginnen. Zum ersten Mal fällt mir das ein.
Ich will ja nicht bezweifeln, dass sie alle, die Lehrer, meine Eltern, die Gesellschaft, die Gendarmen und mein Schwager Camille, der mein Pate war, ihre guten Gründe hatten, wenn sie mir eine Tracht Prügel verabreichten, um mich zum besseren Schreiben zu ermutigen. Alle haben ihre guten Gründe, den Kindern etwas beizubringen. Jeder beliebige Beruf, den man
wählt, wird durch eine gute Ausbildung erleichtert, wenn diese auch oft den meisten Leuten zu nichts anderem nützt als dazu, die Namen von Laden- und Straßenschildern oder das, was in der Zeitung steht, zu lesen und bestenfalls das genaue Datum der Entdeckung Amerikas oder der Erfindung der Buchdruckerkunst anzugeben.
Diese Schule hat mich überaus gelangweilt und gepeinigt. Ich möchte über meinen ganzen kindlichen Groll, über die volle Frische meines kindlichen Leidens verfügen, um zu sagen, wie sehr ich gelitten habe. Wie alle Kinder hatte ich mehr Fragen zu untersuchen, mit mir abzumachen, mehr Probleme auch, als es deren im Grammatik-, Erdkunde- oder Rechenunterricht gab. Dass ich sie vergessen habe, ist am bedauerlichsten.
Es muss anerkannt werden, dass ich von all dem, was man mir beibringen wollte, immerhin ein bisschen lesen und schreiben gelernt habe. Das ist wenig für ein Jahr Kindergarten und drei Jahre Volksschule, wenig vor allem für so viel Kummer. Auf eine andere Weise hätte ich ebensoviel und mehr lernen können.
Sehr spät erst glaubte ich, eine Quelle des Glücks im Denken, Nachsinnen, Träumen, Überlegen zu entdecken — oder wie immer man diese Tätigkeit des Geistes, dieses schöpferische Schaffen, dieses Auf-sich-wirken-lassen des Lebens nennen mag, die ein jeder vollzieht, der für sich allein und still umhergeht. Meine Mutter war glücklich, wenn sie Löwenzahn suchte. Sie freute sich am Wald und an den Feldern und einfach daran, dass sie selbst da war. Was mir sehr spät und deutlich bewusst wurde, als ich im träumerischen Umherstreifen eine Glücksquelle entdeckte, das ahnte ich schon dunkel,
als ich das Schwänzen der Schule des Lehrers vorzog, die mich bilden wollte und unwillkürlich nur dazu beitrug, Quellen zu verschütten, die glücklich machen.
Ich bestreite nicht die Nützlichkeit des wenigen, das ich in der Schule gelernt habe. Aber mit mehr Glück habe ich mich spielend im Garten mit der Landarbeit vertraut gemacht. Mit neun Jahren konnte ich ganz ordentlich umgraben, und was ich dort gelernt habe, gestattete mir, meine Kartoffeln selbst anzubauen, als man in den Läden keine mehr bekam. Und noch andere Dinge lernte ich, die weder sichtbar noch messbar sind.
Herr Joly war ein sehr braver Mann, gefällig in seiner Eigenschaft als Gemeindeschreiber und gewissenhaft in seinem Lehramt, korpulent und beweglich, ehrwürdig wie ein Minister, mit guten Manieren und gepflegter Sprache. Seine Klasse mit ihren nahezu sechzig Schülern aller Jahrgänge war ein hartes Stück Arbeit. Sein Bart, seine Korpulenz sowie ein paar Linealhiebe hielten die Schüler in Zucht. Man ließ ihn mit so viel Kindern zweifellos nur deshalb allein, weil man höheren Ortes dem Schulwesen nicht allzu viel Bedeutung beimaß. Ich habe diese Schule verabscheut wie alle anderen Orte, in denen ich eingesperrt leben musste: Schule, Fabrik, Kaserne.
Ich habe mich immer satt gegessen. Oft genug bekam ich von einem meiner Brüder oder einer meiner Schwestern eine Tracht Prügel. Nichts, was eine Kindheit zeichnet. Man hatte mich gern. Am schwersten gelitten habe ich unter der Schule und in gewissen Augenblicken unter dem Gefühl unserer Armut: dass meine Mutter wegen ihrer Schulden in Sorge war, unter jenen dunklen und oft gerechtfertigten Ahnungen von dem, was das noch unbekannte Leben bringen kann, unter jenen lichten Augenblicken, die Kinder und Erwachsene haben können, und unter jener tiefen Düsterkeit, die der betrunken nach Hause kommende Vater in mir verursachte. Unglücklich aber bin ich nicht gewesen.

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