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Georges Navel - Werktage (1945)
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DAS SALZ

Das Meer geht über in schmutziges Moorland. Der Druck schwüler Hitze lastet auf den toten Gewässern der Teiche und Kanäle, öde Stunde, bleiernes Licht, alle Dinge verwischen sich in dem Flimmern verdorrter Gräser.
Die Hitze riecht nach Schlamm, nach Schweigen, nach fauligem Wasser. Sie dehnt die Abstände zwischen den vereinzelt stehenden Baracken mit roten Ziegeldächern und den Feigenbäumen, die hie und da aus dem Unkraut eines riesigen Industriegeländes hervorschießen.
Eine Telefonleitung mit langen, dünnen Pfosten flieht in die Ferne auf eine Bauminsel zu, in der sich ein Fischerdorf versteckt.
Mitten in den Sümpfen eine Gruppe weißer Pyramiden: die Salzhügel. In einem weißen Feld schreiten menschliche Schatten hin und her, schweigsam wie ein Zug schwarzer Ameisen.
Das ganze Moorland ist mit großen, grasbenagten Strichen gezeichnet: fliehende Linien der Kanäle, ebene Flucht viereckiger Teiche. Weit draußen, auf offener See, hinter den Pyramiden, der unendliche Strich des Horizontes. Auf dem unsichtbaren Meeresstreifen zeichnen sich stahlgrau die Schlachtschiffe des Mittelmeergeschwaders ab.
Obgleich symmetrisch von Menschenhand zurechtgeschnitten, scheint der Sumpf doch in verlassenem Zustand, räudig, von Unkraut zerfressen. Die gewaltige Faust der Natur macht ihre Rechte geltend. Mit mächtigem Aufwand an Raum, Wasser und Himmel zermalmt sie das Geschaffene. Ihre blinde Kraft gibt dem Menschen seine Schwäche zu spüren.
Wir sind an die hundert Mann von überallher: Landarbeiter aus der Gegend von der Londe und von Hyeres, das unstete Arbeitervolk vom Baufach: Franzosen aus allen Himmelsrichtungen, Italiener, Deutsche, Russen, Araber. Sogar ein Neger ist dabei.
Zu den entschlossenen Kumpels, die mit Vorliebe auf die Walze gehen, um von Baustelle zu Baustelle die Welt zu sehen, gesellen sich ehemalige Zuchthäusler mit blautätowiertem Oberkörper und Landstreicher: Strandgut, das sich von der Baustelle zum Spital, vom Spital zum Gefängnis treiben lässt.
In der Pause glänzen an die hundert rote, braungebrannte, schweißtriefende Oberkörper in der Sonne. Gierig suchen die Männer die Kühle irgendeines Schattens, einer Kiste oder einer Lore, wo sie während der Fünfminutenpause Zuflucht finden können. In die staubtrockenen Kehlen fließt das Bier in Strömen. Ein paar Kumpels ziehen ihre dreckigen Leinensandalen aus, untersuchen ihre schmerzenden Hautabschürfungen, wickeln Bandagen um ihre Füße, um die entstehenden Blasen vor dem beißenden Salz zu schützen.
Mit den ausgefransten Kleidern und halbnackten Beinen, den wettergebräunten Muskeln, den sehnigen Kniekehlen von Ringkämpfern, den abgehärteten Gesichtszügen und den müde glotzenden Augen mutet unser ausgepumptes Lumpengewimmel an wie aus dem Mittelalter oder von einem Seeräuberschiff entsprungen.
Das Salz ist ohne Unterlass gegenwärtig: flimmernde Felder, rote Gewässer, salziger Schmerz der Wunden, Durst, Erschöpfung, schmerzhaft grelles Licht, ätzende Schärfe in allem, was uns umgibt.
Unter all den Kumpels fühlt man sich selber als Salzkumpel, durch dieselbe Mühsal mit den anderen verbunden, ein gutes, geschundenes Arbeitstier, mit den anderen verbunden durch die gleiche Zähigkeit bei der Arbeit, ein Urmensch, der Mensch, der schuftet, der Mensch, der für die Erntezeit da ist, ein Bündel von schmerzenden Muskeln und Sonnenbrand, ein Fleischklumpen, der glücklich ist während der Pause, ein Schlund, den ein heruntergespülter Schoppen Bier glücklich macht: der Salzarbeiter.
Um sechs Uhr früh beginnt die Arbeit. Träge zerreißen die Nebel über den Teichen. In der Ferne picken Möwen im Sumpf herum, Vogelschwärme beleben die Luft mit ihrem Geschrei. Die Arbeiter kommen an, zu Fuß oder auf dem Fahrrad. Dort unten, hinter den Erdstreifen, welche die Teiche einfassen, geht die Sonne auf. Sie beleuchtet das Meer, die roten Gewässer der Teichbecken, die Salzfelder, die taufeuchten Halme, den Nebel. In der Frische, in der reinen Morgenluft, im Zauberglanz der aufgehenden Sonne beginnt die Arbeit.
Die Schaufeln stecken zwischen Salzkruste und Bassinboden und warten auf die Arbeiter, die ankommen und mit einem Satz über den Graben hinwegspringen, der das Viereck einsäumt. Aus dem Haufen Schubkarren findet jeder seine heraus. Die Kräfte sind frisch; im Vorbeigehen begrüßen sich die Leute in der ungezwungenen Art, die im Freien üblich ist, mit lautem Zuruf oder einem Schulterklopfen.
In der Schaufelreihe findet jeder seinen Platz vom vorigen Tage wieder. Hastig wird geladen, von weitem werden Grüße gewechselt. Von Nebenmann zu Nebenmann tauscht man ein paar Worte aus, den Anfang einer Geschichte.
Beinahe Seite an Seite stehen die Karren in einer Reihe. Es tut wohl, neben einem lustigen Burschen oder einem dicken, sympathischen Brummbär die Müdigkeit zu überwinden, sie zu vergessen: darum sind die Karren nach den gegenseitigen Sympathien der Arbeitskameraden aufgestellt.
Im Gänsemarsch schieben die Kumpels auf einem engen Brettersteg schnell ihre Ladung vor sich her. Der ganze Körper ist von dem Kraftaufwand angespannt. Hastig schreitet man aus, um sobald als möglich die Last loszuwerden. Starr sind die Augen auf den Brettersteg gerichtet: Der schmale Streifen wird kürzer, ein Aufwärtsschnellen aus den Hüften, um die Plattform des Aufzuges zu erreichen, und der Karren wird mit einem Ruck in eine Art Becken geleert. Ein breiter Gummiriemen trägt eine Ladung nach der anderen. Er befördert das Salz in leichter Steigung empor und lässt es dann aus etwa acht Meter Höhe in einem weißen Strom herunterrinnen, der fortgesetzt aus dem kreuzförmigen, eisernen Hebebaum fließt und allmählich eine Pyramide bildet.
Wenn einer von uns beim Ausleeren zu langsam oder ungeschickt ist, hält er hinter sich alle anderen auf, die nach langem Weg mit ihrer Last ankommen. Das ist hart, und die ganze Reihe fängt an, wild zu fluchen.
Nach dem Abladen entspannt sich der Körper. Obwohl auch der leere Karren allerhand wiegt: jetzt erscheint er federleicht. Schwerfällig wie ein Zugochse kehrt jeder zu seiner Schaufel zurück, eine neue Ladung holen, und so fort ...
Von neuem löst die Schaufel die Salzkruste ab, möglichst ohne den schwarzen Schlamm — den Sumpfboden — mitzufassen. Man watet in weichem Boden.
Vor uns Milliarden Sterne, grell blendend wie Magnesiumfeuer, wie Flammenstreifen von Bogenlampen. Der Kristallteppich glitzert um so heller, je mehr die Sonne ansteigt. Die Lider schmerzen, man kneift die Augen zu. Sonnenbrillen werden aus den Taschen gezogen.
In der romantischen Morgenstimmung sind die ersten Karren leicht gewesen, doch werden sie schwerer und schwerer. Die Kräfte schwinden. Man muss sich zusammenreißen, sich ausradieren, darf nicht zu wach, nicht allzu sehr der Müdigkeit bewusst sein, muss wie eine Maschine weiterlaufen. Schaufel, Karren, Schaufel, Karren, und durch die Brille Schatten auf der Feuerkruste.
Wir arbeiten alle im gleichen Tempo. Die Arbeit wird im allgemeinen nach der vollbrachten Gesamtleistung bezahlt. Wenn das Tempo nachlässt, geht der Aufseher, der angeblich die Interessen aller vertritt, in Wirklichkeit aber hauptsächlich die der Firma, von einem zum anderen und treibt die Müdegewordenen mit schallendem und herzlichem, manchmal auch wütendem Gebrüll an: „Mut! Vorwärts, Kinder!" Die Kräftigen, die Tüchtigen und Erfahrenen lässt er in Ruhe. An ihnen hängt sein Blick mit einem Ausdruck achtungsvoller Zuneigung. Er liebt unsere Kraft wie ein Fuhrmann die seines Pferdes.
Die Schwachen und Schlappen werden unbarmherzig durch das Arbeitstempo ausgestoßen. Nicht alle können diese Hölle in erträgliche Arbeit verwandeln. Der ehemalige Zuchthäusler schmeißt die Arbeit hin. Der Landstreicher verkommt. Betrunken und verbittert findet man ihn wieder. Die allzu Erschöpften ruhen sich aus, und die, die keinen Frieden finden, suchen ihn im Alkohol, im bleiernen Schlaf des Rausches.
Die meisten versuchen durchzuhalten. Mit der Gewohnheit wird alles möglich, aber der Weg zur Gewohnheit ist hart.
Sonnenverbrannt, verwittert, ausgeschmort, zerfressen, ist man froh, der Müdigkeit zu entfliehen, ihr zu trotzen und mit elastischem Schritt, hartem Griff und geschmeidigem Rücken die Arbeit spielend zu bewältigen. Die Kräfte nehmen zu, und der Arbeitstag ist nicht mehr so verzweifelt lang wie zu Anfang.
In den Pausen erscheint der Kantinenwirt und schiebt ein Wägelchen mit Bier, Suppe, Tomaten und anderen undefinierbaren Esswaren vor sich her. Das ist unsere Stärkung.
Die Salzgewinnung ist nun nicht mehr die Begegnung eines Verdammten mit seiner Hölle, sondern die eines Arbeiters mit einer Aufgabe und mit Kameraden, die man Jahr für Jahr wieder findet. Für den Anfänger aber ist sie Galeerenarbeit. Die Qual des Anfangs ist schwer zu überstehen. Vom frühen Morgen an muss man seine ganze Widerstandskraft einsetzen. Lange bevor der Tag zu Ende geht, sind die Kräfte erschöpft. Der Pausenpfiff wird sehnsüchtig erwartet. Den Schubkarren und seine schwere Ladung in den Händen fühlt man sich unter der Geißel der Sonne wie ein alter Klepper auf steil ansteigendem Weg. Die Frühstückspause im Schatten eines entfernten Baumes unterbricht die Qual. Den Körper ausgestreckt, den Kopf im Schatten, nach hastig verzehrter Mahlzeit, kommt man in völligem Vergessen und süßem Hinübergleiten in Traum und Wohlbefinden wieder zu Kräften.
Bald aber ertönt das Stimmengewirr der Arbeitsaufnahme. Nach einem Schlaf, der aus allen Tiefen der Erde gekommen zu sein scheint, wie die tiefe Ruhe der Natur im Sommer, wird man zurückversetzt in die menschliche Welt der Arbeit, in weißen Alpdruck und ins grelle Licht.
Mit müden und schmerzenden Gliedern, schwerem Kopf und ausgepumpten Kräften nimmt man eine Arbeit wieder auf, die ein Übermaß an Kraft verlangt, um ertragen zu werden. Man fühlt sich verdammt und für immer aus der Gemeinschaft der Lebenden ausgestoßen, Seele und Leib sind von der Tortur der Arbeit ausgedörrt.
Wie zum Spott werden in der Nähe Unsummen verpulvert, während man sich hier so hart abquält, um nur sein nacktes Dasein zu erkämpfen: betäubender Motorenlärm, dumpfe Detonationen schwerer Geschütze der Schlachtschiffe während ihrer Schießübungen, knatterndes Gewehrfeuer der Marine-Infanterie, die ganz in der Nähe im Sumpf Manöver durchführt.
Man träumt davon, zu sterben, im glückhaften Schweigen eines nahen Gehölzes zu krepieren. Man fühlt, dass man in einer Welt ohne Sinn und Verstand lebt, als sei der Mensch ins Leben hineingeworfen wie in einen Sumpf, als könne er nur bestehen, wenn er sein Gewissen verstümmelt, wenn er seiner Vernunft entsagt.
Auf der Arbeitsstätte ist nichts für uns eingerichtet. Wir werden wie Vieh behandelt, wie stahlhartes Menschenmaterial. Nicht ein einziger schattiger Winkel ist für die Pause vorgesehen.
Mittags und abends essen die meisten in der Kantine, einer geteerten Baracke mit Lehmboden, die nach Weinresten und Schweiß riecht, dem Geruch der Männer vom Salz. Zum Schlafen suchen sie ihr Strohlager in anderen Baracken auf, und wenn ein Besoffener Lärm macht, schlafen sie manchmal lieber draußen.
Ich bin jetzt soweit, dass ich hier kommen und gehen kann, als gehörte ich dazu. Die Landschaft frisst nicht mehr an mir mit ihrer ätzenden Größe. Ich sehe sie mit anderen Augen als im ersten Jahre; auch ich habe die Leiden des Anfangs überstanden.
Im Dorf begegne ich Arbeitskameraden und Fischern; alte Bekannte. Ich entdecke plötzlich, dass ich nun schon ganz das Leben der Salinen lebe.
Es ist ein schöner Septembertag. Der Meerwind weht, Fischer kommen herein, um einen Schluck zu trinken, und machen sich scherzend an ihren Kuttern zu schaffen. Grammophone plärren die neuesten Schlager für Seeleute, die über den Platz kommen. Kleine Kriegsschiffe im Hafen haben die Wimpel aufgezogen, die wie Bänder im Winde flattern.
Sanftes Licht umspült alle Dinge, die Männer, ihre Trikots, die ärmliche Verkommenheit der Boote. Es ist schon ein nachsommerliches Licht. Das Meer lockt zur Reise. Ferne Welten drängen sich der Phantasie auf.
Stiller Genuss einer Tasse Kaffee, einer Zigarette. Stilles Glück, mit gelösten Gliedern dazusitzen, in einer unbekannten Welt zu leben, mit Dingen und Menschen auf du und du. Eine schwere Hand fällt auf meine Schulter nieder. Die Hand eines Kameraden.
Vom Dorf bis zu meinem Schlupfwinkel unter den Bäumen sind es gut vierzig Minuten zu Fuß. Den Strand entlang verhüllt ein Schilfschleier die Sicht der Teiche. Nur der Wind ist hörbar, der die schmalen Tangstreifen und den Sand aufpeitscht. Nichts als Tang unter den Füßen, Tang, einem toten Schafsfell gleich, Sand, Fischbein, das Meer, der Gedanke an Tod und Verwehen, sonnentrunkene Abwesenheit. Freude am Dasein inmitten der stummen Dinge, Freude, zu sehen, zu träumen, auf zwei Beinen zu stehen: Lebensgefühl.
Ich bin am Kiefernwald, meinem Schlupfwinkel, angelangt.
Unter den Kumpels der Belegschaft, die auseinander läuft, pulsiert fiebernde Unternehmungslust zum Guten und zum Schlechten.
Schon gärt es im Blut. Wenn wir gleich bei der Lohnzahlung nicht auf unsere Rechnung kommen, werden unsere Schultern in einem Block die Baracke hochgehen lassen.
Die Rechnung stimmt. Die letzten Tage kommen auf achtundfünfzig Frank, unser Schweiß ist zum üblichen Tarif bezahlt. Der Aufseher zahlt aus, aber der Kantinenwirt behält leider einen erheblichen Teil der Lohnsumme zurück. Zu guter Letzt ist man überrascht, so wenig verdient zu haben: Zulagen an Fleisch, Bier und ein paar Runden, die man vor Müdigkeit vergessen hat. Das Kostgeld ist hoch, die Geschäfte am Ort behandeln uns wie Touristen. Einen nennenswerten Überschuss bringt die ganze Schufterei fast nur den Kumpels, die hier in der Gegend, in Londe und in Hyeres, bei ihren Familien wohnen, und allenfalls noch den Arabern, die sich in Gruppen zu fünft oder sechst zusammentun. Alle anderen sind gefoppt.
Schon weht der Herbstwind. Das Ende der Salzarbeit fällt mit der Weinlese zusammen. Schon lastet auf den Tippelbrüdern, den Habenichtsen die Angst vor dem Winter, vor der langen Reihe der arbeitslosen Tage.
Wir sitzen vor der dunklen Baracke, spucken in den Kanal und trinken noch einen. Das ist unser letztes Zusammensein. Alle wieder frei, mit freien Händen, freien Kräften, in einer Stimmung brüderlicher Verbundenheit.
Bekannt, anerkannt und geachtet von ihresgleichen, fühlen sich die Einsamen wie im Familienkreis. Ein Vorname, gemeinsame Mühsal und gegenseitige Achtung verknüpfen uns mit anderen Vornamen, mit Händen, deren fester Druck uns vertraut war.
Und jetzt zerstreut der Wind unsere Gemeinschaft, jeden in eine andere Richtung, aufs Geratewohl, wie fallende Blätter. Mit dem Ende der Salzarbeit verfliegt unsere Welt wie eine wirbelnde Staubwolke.

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