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Georges Navel - Werktage (1945)
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LYON

In Lyon wohnten wir in einer ehrbaren Straße am Rande eines anrüchigen Viertels. Fette Huren in schwarzer Schürze und hohen, gelben Stiefeln lauerten auf Araber, Schwarze, Annamiten, Chinesen, auf betrunkene Männer. Sie rackerten sich ab am Tage der Lohnzahlung, wenn die Rüstungsfabriken ihr Kolonialpersonal ausspieen. Geduldig standen die Farbigen vor den Absteigequartieren Schlange und warteten, bis sie an die Reihe kamen. Wenn mich die Neugier trieb, wagte ich mich auch einmal durch das Viertel, gab aber gut acht, dass ich nicht von der Mitte der Straße abwich und dass meine Blicke nicht die teuflisch angemalten Gesichter der Bordellmütter trafen. Etwas verängstigt ging ich hindurch und stillte so den Hunger nach Phantasiebildern und Erregungen, den Jungens nun einmal haben. Manchmal floss auch Blut, aber ich kam immer erst mit der Menschenmenge und der Polizei, nach den Axthieben und Messerstichen.
Aus Maidieres war ich mit einem Kindertransport evakuiert worden. Ich kam nach Algerien und war enttäuscht, weil ich dort weder Löwen, noch Wilde, noch Kokospalmen sah. Sobald ich erfuhr, dass meine Eltern in Lyon waren, ließ ich mich wieder heimschicken.
Bei der Ankunft holten mich meine Mutter und meine Schwester Helene am Bahnhof ab. Auf dem roten Samt der ersten Klasse sitzend, machten wir eine herrliche Straßenbahnfahrt. Über dem Entzücken, das mir der Lichterglanz der Straßen, der Läden bereitete, und über der ersten Berührung mit der Großstadt, in das sich das Glück über das Wiedersehen mit den Meinen mischte, versäumte ich nicht, die neue Lage genau zu untersuchen. Diese Fahrt auf roten Samtpolstern beunruhigte mich. Helene hatte mir geantwortet, es koste nicht viel, und wir seien nicht mehr so arm wie in Maidieres.
In unserer biederen Straße lebten wir in einem möblierten Hause, das hauptsächlich von Flüchtlingen aus dem Norden und Osten bewohnt war. Familien wie die unsrige waren in einem oder zwei Zimmern zusammengepfercht. Von der Straße aus gelangte man durch einen dunklen Flur in den Hof. Man stieg unter freiem Himmel eine Holztreppe hinauf, auf der immer Wäsche auf der Leine trocknete. Straßenhunde, Katzen, Müllkästen und die Senkgrube verpesteten den Korridor. Wenn die Grube überlief, schickte der Hausbesitzerverein seine Dampfpumpe, Schläuche und Kübel.
Die Hausbesitzerin, der die Miete Monat für Monat im voraus gezahlt wurde, lebte in gutem Einvernehmen mit uns. Es war eine brave rundliche Frau mit dicken Armen, einem Flaum unter der Nase und Haaren unter dem Kinn. Sie kehrte häufig den kleinen Hof, in den die Mieter zum Wasserholen hinunterstiegen. Im Erdgeschoß unterhielt sie einen Kramladen. Ihr Mann war Maurermeister, wie viele Söhne der Auvergne. Die ältere ihrer beiden Töchter küsste mich manchmal auf der Kellertreppe, wo es nach Katzenpipi, Kohle und fauligem Wintergemüse roch. Die nasse Wäsche tröpfelte uns auf den Kopf. Ich hielt mich nicht lange damit auf, der Spaß war mir schon verleidet, wenn ich daran dachte, dass Angele bald soviel Bart haben würde wie ihre Mutter. Ich war erst elf Jahre alt und noch weit entfernt von der verzehrenden Macht der Liebe.
Wir wohnten in einer verkommenen Mietskaserne, aber die Sorgfalt, mit der die Frauen aus Lille und Reims ihren Haushalt führten, gab ihrem Heim eine gewisse ländliche Ruhe. Ich vergaß rasch, dass wir möbliert wohnten.
Wir waren noch nicht alle beisammen in Lyon. Jeanne, eine meiner großen Schwestern, die nicht geheiratet hatte, lebte bei uns. Sie arbeitete in der Sprengstoffabteilung des Artillerieparks. Die Jüngste, Helene, war Lehrmädchen bei einer Putzmacherin. Mein Vater arbeitete in einer Brauerei. Die drei Löhne sicherten uns ein sorgenfreies Leben. Ohne Wehmut zog meine Mutter auf dem Markt die großen Scheine aus ihrer Geldbörse. Sie bummelte da mit so viel Freude einher wie früher auf dem Feld. Wie schön, dieser Überfluss, die frische Ware, die Erbsen, die grünen Bohnen, die Johannisbeeren! Wohl über einen Kilometer lang reihten sich auf den schattigen Rhoneufern die Stände mit Butter, Geflügel, Gemüse und Obst aneinander. Und das mitten im Krieg!
Wenn wir am Gitter der Präfektur vorüberkamen, las ich meiner Mutter vom schwarzen Brett am Portal mit lauter Stimme den Heeresbericht vor. Die Bäckersfrau unterhielt sich mit ihren Kunden; ihr Mann kämpfte vor Verdun. Wenn die Nachrichten ausblieben, suchten die Frauen sich gegenseitig zu beruhigen. Der Krieg würde nur noch drei Monate dauern und im Frühjahr mit der neuen Großoffensive zu Ende gehen. Noch jahrelang hörte man die gleiche Leier.
Der Krieg hatte uns entwurzelt. Trotzdem schien mir das Leben in Lyon heiterer als in Maidieres oder in Pont-à-Mousson. Ich spürte, dass wir nicht mehr so arm waren und freier, und dass mein Vater nicht mehr auf die Fabrik angewiesen war. Die Leute waren besser gekleidet als zu Hause. Es gab verhältnismäßig weniger Betrunkene, und die Sprache war nicht so rau. Unsere Straße mit den auf und ab spazierenden Soldaten in Horizontblau machte keinen traurigen Eindruck. Sie wurde oft von den städtischen Sprengwagen gereinigt und gespritzt. Kleine, rote Straßenbahnwagen fuhren vorüber und erfüllten die Luft mit Eisengerassel. In den Kurven stöhnten sie lange. Es war wie ein Klagelied, das die anderen Geräusche übertönte.
Wenn wir vom Markt heimgingen, kamen wir an einem großen Kolonialwarengeschäft vorbei. Vor den Auslagen notierten junge Leute in weißen Blusen, sauber wie Apotheker, die Bestellungen der schönen Bürgersfrauen. Seit den Dragonern der Vorkriegszeit hatte ich nichts so Vornehmes gesehen wie einen glattrasierten oder bärtigen Kolonialwaren-Verkäufer. Meine Mutter ging sehr selten in dieses Geschäft. Im Vorübergehen sog ich eine angenehm duftende Mischung von Lebkuchen und gutem Kaffee ein.
Ein paar Monate nach meiner Rückkehr war mein Bruder Rene aufgetaucht. Er kam aus einer Fabrik in den Vogesen. Meine Mutter hatte für uns beide ein kleines zusätzliches Zimmer gemietet. Groß und stark war er wiedergekommen, nur hatte er von einer Drüsenentzündung einen geschwollenen Hals. Er ließ sich operieren und behandeln, und unser kleines Zimmer roch stets nach dem Äther seiner Verbände. Sonntags morgens setzte er sich bei schönem Wetter in die Sonne und ließ durch ein Loch in einer Heftseite einen Sonnenstrahl auf seine "Wunde fallen, um ihre Vernarbung zu beschleunigen. Während er sich so kurierte, pfiff er außerordentlich schön vor sich hin.
Ein Jahr nach meiner Rückkehr trat ich aus eigenem Antrieb in die Werkstatt ein, in der er arbeitete. Die konfessionelle Schule, in die meine Mutter mich gebracht hatte, hatte ich nie gemocht. Die Unterrichtsstunden im Katechismus und in der biblischen Geschichte erdrückten die anderen Stoffgebiete. Zu viele Stunden brachte ich eingesperrt zu. Mit meinem Eintritt in eine Werkstatt lernte ich das Leben schneller kennen.
Rene entbeulte mit dem Klöppelhammer Stahlhelme, die von der Front kamen. Frauen lösten den ledernen Futtereinsatz heraus und reinigten ihn von Schweiß und Blut. Nach ein paar Pinselstrichen mit horizontblauer Farbe waren die Helme wieder nagelneu für die Rückkehr nach Verdun.
Ich war beim Verzinnen der Feldflaschen. Auch hierbei handelte es sich um die Wiederinstandsetzung gebrauchten Materials. Der dunkle Raum stank nach Säure. Die schönen Farben des Zinnbades waren eine Zerstreuung für mich. Der Verzinner reichte mir die Flaschen, und ich trocknete sie in einem Becken mit Sägespänen. Ich war noch nicht reif für die Härte, für die Grobheit der Erwachsenen. Der Gedanke an ein Leben in der Fabrik „für immer" begann mir Angst zu machen. Ich fragte mich, ob es noch weit sei bis zum Sterben, und ob man gezwungen sei, bis zum Ende durchzuhalten. In Algerien war mir das Leben schöner erschienen. Später würde ich dorthin zurückgehen, ich verzweifelte nicht.
Es war Winter. Die Straßen waren von Schneemassen verstopft, die man nicht mehr wegräumen konnte. Eis, Dreck und Schnee. Das Aussehen der Leute wurde elender. Morgens war es stockdunkel. Das war besser so. Man sah nur Lichter und weniger die Hässlichkeit der kleinen, von Ödland eingefassten Straßen. Mittags war es am trostlosesten. Eine neue Menschenrasse war aufgetaucht: die grüne Rasse der Melinitarbeiter und -arbeiterinnen. Das Leben der Erwachsenen begann, mich wirklich zu beunruhigen. Ich befragte Rene. Ich dachte an die Gefahr von Unglücksfällen in allen Berufen, an die Abstürze der Maurer, an die Sägewerke, in denen beinahe alle Arbeiter, die ich gesehen hatte, verstümmelte Hände hatten. Ich fragte Rene, welches der beste Beruf sei.
„Rentier", antwortete er mir.
Es war kurz vor dem Waffenstillstand von 1918. Während des Sommers hatte ich mit Maurern am Ufer eines Rhone-Kanals gearbeitet. Meine Mutter packte mir das Essen in einen Brotbeutel. Ich ging früh los, um spät am Abend zurückzukommen.
Von Müdigkeit überwältigt, schlief ich morgens und abends während der ganzen Fahrt und mittags im Schatten, sowie ich gegessen hatte. Sobald ich die Schaufel aus der Hand legte, verwandelte ich mich in ein Krokodil auf einer Sandbank. Ich hätte auch auf einem Steinhaufen geschlafen. Die Sonne brannte unbarmherzig. Nur während der elf Stunden Arbeit auf der Baustelle war ich munter. Ich wurde braun und fühlte mit Befriedigung, wie meine Kräfte anwuchsen. Ich hatte darauf bestanden und einen leichten Druck auf den alten Maurermeister ausgeübt, dass er mich auf der Baustelle zulasse. Ich hielt durch, aber nur mit knapper Not. Im Baufach verdiente ich soviel wie mein Vater, der in einer Brauerei Gerste rührte. Ich machte den Beton fertig und schleppte ihn Trog für Trog die Leiter hinauf. Die Muskeln wurden hart, aber die Seele blieb zu empfindlich für die Schimpfworte. Wenn ich meinem Maurer nicht schnell genug die Kelle, das Brett oder die Zwinge reichte, die er verlangt hatte, schnauzte er mich an, nicht zornig, aber mit gemeinen Schimpfworten. Wenn ich ihm brummend drohte, ich würde meinen Bruder holen, der ihn verhauen würde, war er überrascht. Ein junger Handlanger, der zwei Jahre älter war als ich und ziemlich stark für seine sechzehn Jahre, fiel über mich her und stieß mich in den Sand. Am Boden wehrte ich mich mit den Füßen. Er wollte zu oft seine Kraft zeigen. Von dem Maurer und diesem Hilfsarbeiter zur Verzweiflung getrieben, verließ ich eines Tages weinend die Baustelle.
Ich war in eine Werkstatt eingetreten. Um mich als Fünfzehnjährigen auszugeben, hatte ich in meinem Arbeitsbuch herumradiert. Man hatte mich angenommen. Am Schraubstock verputzte ich Gusseisenteile für den Kriegsbedarf. Wenn ich am Schraubstock meine Feilen handhabte, glaubte ich, auf dem Wege zu sein, das Handwerk des Mechanikers zu lernen. Auch hier hatte ich einen guten Lohn. Ich dachte nicht an die Schwierigkeiten, auf die junge Proleten stoßen, die ein Handwerk lernen müssen. Mein gesunder Menschenverstand und der Zufall allein leiteten mich. Ich war nicht aufsässig, hatte mich dem Arbeiterleben angepasst, war glücklich, weil ich stark wurde, glücklich, weil ich an Geschicklichkeit zunahm. Ein guter Arbeiter machte großen Eindruck auf mich. Die Reichen waren nur ein sagenhafter Begriff. Vielleicht hatte ich mal welche beim Vorbeigehen in den Cafes im Zentrum gesehen, in die unsereiner nie hineinging. Was ich vom bürgerlichen Leben wusste, kannte ich aus dem Kino, wo ich auch die „Drei Musketiere" gesehen hatte. Im wirklichen Leben imponierten mir als Wesen einer höheren Rasse die Herren mit der Melone, die kleinen Fabrikbesitzer, bei denen ich gearbeitet hatte, die Werkmeister mit Bluse und steifem Kragen. Sie sprachen und kleideten sich besser als wir; sie wussten alles, was in der Schule gelehrt wird. Ich hielt sie für Verwandte von Ministern, Generalen und jenen gebildeten Leuten, die die Welt regieren. Ich glaubte, dass es auf der Welt gerecht und anständig zuginge, und dass alles wahr sei, was die Zeitungen schreiben. 1917 hatte ich Umzüge von Streikenden mit Plakaten und roten Fahnen gesehen. Sie wollten den Frieden. Von dem Kampf der Generale mit den schwer auszusprechenden Namen in Russland verstand ich nichts.
Mein Bruder Lucien, dienstuntauglich erklärt, war zu uns zurückgekommen. Eines Abends ging ich mit ihm in eine Gewerkschafterversammlung, auf der sich eine Handvoll aktiver Mitglieder traf. Sie sprachen gut; sie waren herzlich, ohne Geringschätzung für den Lausbuben, der ich noch war. Nun begriff ich den Sinn des Streiks von 1917, der Meutereien in der Champagne und des Kampfes, der in Russland weiterging. Werkmeister und kleine Besitzer verloren an Ansehen. Der
Umgang mit den gewerkschaftlichen Kämpfern brachte mir auch den Glauben bei, dass nichts einen Menschen daran hindert, Mensch zu sein. Die Klasse kam mir nicht mehr wie eine Grenze vor, in der man abgesondert lebt. Niemals vorher hatten Arbeiter auf mich einen so tiefen Eindruck gemacht. Lucien antwortete mir auf meine Fragen, aber seine Antworten nahmen mir die Illusionen, in denen ich gelebt hatte, bevor ich mich ihm anschloss. Ich hatte geglaubt, dass alle Erwachsenen, auch die primitivsten, intelligent seien, und dass sie alle besser als ich wüssten, was sie in ihrem Leben zu tun hätten; der Köhler wüsste, warum er Köhler war, das Straßenmädchen, warum sie Hure wurde, der Arbeiter, warum er arbeitete, der Soldat, warum er kämpfte.
Ich hatte geglaubt, dass die Unwissenheit ein Vorrecht der Jugend sei, und dass alle Erwachsenen, sogar mein Vater, in einer Welt lebten, die klar vor ihren Augen lag. Um zu wissen, genüge ein bestimmtes Alter. Was schlecht war, war das Leben. Man musste auf den Fortschritt warten und hatte es eben bisher nicht besser machen können. Niemand war verantwortlich. Lucien ließ mich nun eine dunklere Welt sehen und stellte die Masse der Menschen als eine Masse gefügiger Toren dar, die kapitalistische Weltordnung, die bürgerliche Gesellschaft als eine gegen die Arbeiter verschworene Organisation. Der Krieg hatte kein anderes Ziel, als die Kanonenkönige Gewinne einheimsen zu lassen, die Armee war nur dazu da, die Arbeiter zu bändigen, die Presse zum Lügen und um die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zum Nutzen der Kapitalisten zu verewigen.
Bei der Arbeit wollte ich mich nicht als Sklave fühlen, als Soldat wollte ich nicht die Meinen verraten und mich Kanonenfutter nennen. In der Wirklichkeit der Welt, die Lucien mir enthüllte, konnte ich nicht mehr leben. Die Hässlichkeit der Straßen kam mir deutlicher zum Bewusstsein. Das Haus schien mir abstoßend. Wir hatten keine Dusche. Ich litt unter der Katzenwäsche, mit der ich mich begnügen musste. Ich hatte den Eindruck, einer Klasse anzugehören, die als Vieh angesehen wurde, die zusammengepfercht hauste und missachtet war. Ich hatte es eiliger als die Erwachsenen, mit denen Lucien verkehrte, als alle jene sympathischen Kämpfer, die übrigens von dem Leben ihrer Klasse keine so einfache Vorstellung hatten. Ich hatte genug von der Werkstatt und ihren Betriebsvorschriften. Ich wollte unverzüglich ein besseres und würdigeres Dasein: ein Leben, in dem ich nicht mehr Arbeiter sein würde, in einem Lande, in dem es nur weite Horizonte gäbe und keine Industrie, und ich beschloss, nach Algerien aufzubrechen, ohne die Revolution abzuwarten.
An der Seite eines älteren Gefährten landete ich eines Tages in Marseille. Wir hatten ein bisschen Geld, jeder seinen Lohn. Wir wollten als blinde Passagiere aufs Schiff gehen. Morgens waren wir angekommen. In einer Kaschemme am Alten Hafen hatten wir gefrühstückt und unsere Koffer abgestellt. Wir mussten nun ein Hotel suchen. Die Nacht brach an.
An jenem Abend kam ich ins Krankenhaus. Ich blieb dort zwei Monate. Beim Aufspringen auf eine Straßenbahn, in die mein Kamerad soeben gestiegen war, fiel ich hin. Ich glaubte, beide Beine seien futsch, aber ich hatte nur eine Fußquetschung und ein paar Abschürfungen. Ich wurde in eine Droschke geladen und kam
auf dem Operationstisch des Krankenhauses wieder zu mir. Ich hatte noch Zeit gefunden, meinem Kameraden meinen Geldbeutel zuzustecken: ich habe ihn nie wieder gesehen. Zwei Tage lang flossen meine Tränen unaufhörlich, weniger aus Schmerz als aus Kummer. Ich konnte nicht mehr nach Algerien fahren. Ich schrieb meinen ersten Reuebrief. Von zu Hause kam Antwort und dazu eine kleine Geldanweisung. Man hatte mir verziehen.
Ich war noch bettlägerig, als ich erfuhr, dass Waffenstillstand sei. Ich war in einem Saal zusammen mit sehr lustigen jungen Burschen. Einem jungen Fuhrmann hatte ein scheues Pferd das Bein gebrochen. Ein Lehrling war vom Gerüst gestürzt. Mit knapper Not war er einer Schädeloperation entgangen. Anderen hatte man die Beine amputiert. Am Abend gaben alle abwechselnd ein Lied zum besten. Ich weinte nicht mehr, ich gewöhnte mich an das Krankenhaus. Als ich aufstehen und auf einem Bein herumhumpeln konnte, kostete ich die Milde des Marseiller Winters aus. Dann befand ich mich eines Abends wieder daheim bei der Lampe, vor der dampfenden Suppe.
Nachdem der Waffenstillstand unterzeichnet war, hatten die Rüstungsbetriebe ihr Personal entlassen. Die Friedensindustrie nahm ihre Produktion nicht gleich wieder auf. Meine beiden großen Brüder arbeiteten zu sehr niedrigen Löhnen für die amerikanische Armee, die ihre Bestände in Ordnung bringen ließ, um sie vor dem Abzug zu verschleudern. Für meine Mutter war das eine schwere Zeit.
Jeden Abend ging ich mit Lucien los. Mit fünfundzwanzig Jahren hatte er — von Beruf Former — die Robustheit, die die Gießereiarbeiter brauchen; er war groß, kräftig und ein wenig gebeugt. Auf der Straße ging er nicht, sondern er raste, als stürze er einem Ereignis entgegen. Er sprach immer sehr laut, in jener ermüdenden Art, die Redner haben, und unterstrich die Worte, als stünde er vor einer Versammlung. Ich ging mit ihm zum Gewerkschaftsverband, zu den sozialistischen Versammlungen und zu den Diskussionsabenden der kleinen Anarchistengruppe. Überall redeten die Leute, auf die wir stießen, von der russischen Revolution. Wir gingen oft aus, jeden Abend. Um Mitternacht kamen wir heim und standen um sechs Uhr früh wieder auf. Dem Vater, der erheblich früher zu Bett ging, missfiel mein dauerndes Ausgehen. Der kurze Schlaf, die hastigen Mahlzeiten, die Diskussionen und das Lesen hielten mich in einem Fieberzustand. In den Versammlungen, bei den Demonstrationen drückte ich den Kameraden die Hand, soviel Hände wie möglich. Jeder Händedruck eine Gewissheit. Es war ein Winter ohne Trübsal, ich merkte nichts von der schlechten Jahreszeit. Unter meiner Windjacke zitterte ich einzig und allein vor Begeisterung.
Nach Russland hatte die Revolution auch Deutschland und Ungarn erreicht. Die Namen Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Lenin leuchteten vor mir auf. Der Muschik mit dem Messer zwischen den Zähnen war auf den Plakaten aufgetaucht. Die Presse trieb mit unklaren Worten ihr Spiel, so mit der Lautverwandtschaft zwischen Boche und Bolschewismus. Der Mann mit dem Messer zwischen den Zähnen stellte die ehrlichen Genossen dar, jene ergebenen Kämpfer, denen ich die Hand drückte — alle diejenigen, die durch die Hoffnung, eine bessere Gesellschaft zu errichten, verbunden waren.
Als ich nach meiner Flucht von Marseille zurückgekommen war, hatte ich gleich Arbeit gefunden. Ich wurde Laufbursche und zog einen Handwagen hinter mir her, um die kleinen Modesalons der Innenstadt mit Garn zu beliefern. Ich war immer froh, wenn ich herauskam. In der Werkstatt spulte ich Rollen mit Eisendraht auf eine Trommel um. Langeweile kannte ich nicht. Ich arbeitete mechanisch und dachte dabei unaufhörlich über die Probleme der zukünftigen Gesellschaft nach. In Marseille hatte ich meine alten Klamotten verloren. Eine Jacke von Rene und eine Hose von Lucien passten mir recht und schlecht. Wenn ich in die Werkstatt kam, stießen sich die beiden Arbeiterinnen mit den Ellbogen an und kicherten. Es war eine kleine, ganz ruhige Werkstatt. Der Chef, ein kleines, etwa fünfzigjähriges Onkelchen von schwächlicher Gesundheit, fleißig und erfinderisch, bastelte ständig herum. Es ging mir da nicht schlecht. Nach Arbeitsschluss versuchte ich, den beiden Arbeiterinnen, während sie unter einem Regenschirm auf die Straßenbahn warteten, meine Ideen einzutrichtern. Sie waren über Vierzig, die Hübschere hatte schöne dunkle Augen und hörte mir zu, ohne mich ernst zu nehmen. Ich gab mir Mühe, die Märchen des „Petit Parisien" zu widerlegen. Ich sah wohl, dass sie mich komisch und ein bisschen verrückt fanden. Von 1919 habe ich mich nie kuriert.

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