Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Georges Navel - Werktage (1945)
http://nemesis.marxists.org

BEI DER HEUERNTE

Der unabsehbare Raum, Meeresblau und Azur des Himmels, ist in seiner ganzen Weite, seiner Tiefe, seiner Höhe wie ein leuchtendes Aufatmen. In ebener Flucht wird das Meer eins mit dem sich neigenden Himmelsgewölbe.
Der Himmel liebkost das Land unten, den düsteren, in Hügeln, Schluchten und Wäldern dampfenden Körper, der sich vom Fuß des Gebirges bis zum Meer hin ausstreckt, und lässt über die schlafende Erde den leichten blauen Odem eines frühlingshaften Hauchs gleiten. Liebeshauch über der Erde, allgegenwärtig wie eine Erscheinung, die zur Vermählung von Himmel und Meer gehört.
Der Küste entlang treibt eine Gebirgskette in angespannter und zäher Verkrampfung ihre Landspitzen, ihre Kaps und ihre Ausläufer ins Meer. Landeinwärts zieht sich eine Herde von welligen Bergen ins Unendliche hin, bis zu dem milchigen Himmel, über den höchsten Lämmerwolken.
Hier, auf der getigerten Flanke des Gebirges, auf den Felsen, dem Geröll und der Erde hat das Licht, in dem Pflanzen, Gesträuch und Gestein baden, die Farbe der Sonne, die Farbe lodernden Holzes. Es riecht nach Raubtierfell, Pfeffer und Lavendel, nach der Haut Afrikas, nach Thymian und verbrannter Erde, und lässt das Getier alle Gerüche der Wildnis ausschwitzen.
Hart ist der Boden, auf dem meine Füße ruhen. Die Erde um mich her ist kein Scheingebilde, sie ist eine gewaltige Gegenwart. Und ich in meiner Menschenhaut bin ein Schatten auf dem Gestein.
Die letzten verstreuten Gebirgskiefern spreizen ihr Geäst, ihre Nadeln funkeln, sonnenumstrahlt, blau umrändert. Dicht über dem Boden ist alles fast flammenfarbig, nahe dran, in der Sonne aufzugehen, und die Sonne hüllt mich ein, und ich weiß nicht mehr, was sie ist und was ich bin, weiß nicht mehr, was in meinen Gliedern Fleisch ist und was Sonne.
Hart ist der Boden unter meinen Füßen, meine Hände spüren die schneidende Schärfe des Kiesels, und ich erkenne meine Schwäche auf dieser riesigen Masse von Schweigen, Stein und Sonne. Aber die Anstrengung des Steigens hat mich belebt, und ich fühle mein Leben wie einen Vogel in der Hand, so leicht.
He, Bruder, verlier dich nicht, du bist Arbeit suchen gekommen. Nicht der Berge wegen bist du hier. Schön ist es, das alte Herz unten gelassen zu haben und nun ein neues zu besitzen, wie man ein neues Messer hat. Das Gestein ist gefühllos, und der Himmel hat nichts von einer Mutterbrust. Man lebt nicht vom Licht. Schlepp dich acht Tage ohne Essen durchs Gebirge, und du wirst ein ausgedörrter Wurm sein.
Ein herabrollender Stein verscheucht eine Schar Eichhörnchen. Geschwind raschelt es in den Linden. Drüben fliegen Rebhühner kreischend aus dem Gesträuch auf. Das sind die einzigen Geräusche, während ich auf einem flachen Pfad zwischen zwei Büschen honiggelb blühenden Ginsters voranschreite.
Und jäh war die Schönheit des Gebirges dahin. Ich stand vor der Schäferei, große Hunde kamen heran und beschnupperten mich. Michel, der Verwalter, hob den Kopf. Besorgt wegen das Eindrucks, den ich auf ihn machte, bedauerte ich plötzlich, dass ich in Leinensandalen gekommen war, um nach Arbeit zu fragen.
Der Verwalter und seine drei Hirten machten sich mitten unter den Tieren zu schaffen; abseits weideten Ziegen unbewacht an einer Hecke. Schwarz und weiß gefleckte Zicklein tollten rings um die Herde herum, sprangen eine kleine Mauer herab und hüpften neben mir auf dem Pfad hin und her.
Lämmer, die das Glück hatten, erst seit dem Abend vorher am Leben zu sein, standen zart und schwankend auf ihren eintägigen Beinen und saugten, heftig mit den Köpfen zustoßend, an zufriedenen Mutterschafen. Andere Schafe, eingekeilt in die Menge der wogenden Rücken, blökten unaufhörlich und riefen nach den Lämmern, die eben von den vier Männern kastriert wurden.
Inmitten der triefäugigen Schafe mit der langen, grünlichen, kotbesudelten Wolle schienen die Hirten mit ihren abgestumpften, verhärmten Gesichtern, ihren zerlumpten Klamotten, struppig und borstig, weniger der Gattung Mensch als vielmehr einer höheren Hunderasse anzugehören. Das Haus, vor dem sie krummbeinig und in Holzschuhen durch den Mist stapften, sah weniger nach einer menschlichen Wohnstätte aus als nach der Höhle einer Art vorsintflutlichen Getiers. Drei Türen — drei schwarze Schlünde — unterbrachen die Vorderfront dieser gedeckten Höhle. Dort ließ der Verwalter seine armen Teufel hausen, die er unter den Einfaltspinseln zum Zwecke einer ertragreichen Ausbeutung des Gebirges ausgesucht hatte.
Während sie Michel beim Kastrieren der Lämmer zur Hand gingen, dachte ich, dass auch bei ihnen durch eine allmähliche Operation das verstümmelt war, was man die Menschenwürde nennen kann. Ich fühlte mich bedroht, dem gleichen Zustand zu verfallen, wenn ich das Leben dieser arglosen, verdreckten und schon beinahe der Sprache unkundig gewordenen Männer teilte.
Groß und hager, mit dem Gang eines Fabrikarbeiters, war ich eben vor den Augen des Verwalters aufgetaucht. Nachdem er meinen Gruß erwidert und mir durch ein Zeichen bedeutet hatte, zu warten, bis er fertig sei, beschäftigte er sich weiter mit den am Boden liegenden und an den Beinen gefesselten Lämmern. Die Hirten,
die das Messer oder einen Bindfaden zum Abbinden der Geschlechtsteile hielten, trugen die jungen Tiere heran und reichten sie von Hand zu Hand wie Holzsohlen für Pantinen.
In sauberem Manchester, mit glattrasierten Wangen und einem dünnen braunen Schnurrbart stach Michel von seinen Hirten ab. Er war ganz der Typ eines Zigeuners, der Pferde verkauft, hatte die Verschlagenheit und die Intelligenz eines südlichen Roßtäuschers, dürr, olivenfarben, mit regem Blick. Mit seinen fünfzig Jahren war seine Energie schon ein wenig schlaff und abgespannt.
Er gehörte zu den Leuten, in denen das menschliche Mitgefühl abgestorben, deren Blick für die Schönheit der Welt getrübt ist, und die nach beendeter Jugend im alten Trott so weiterleben, als würden sie eine Art Strafarbeit bis zum Ende ausführen — was sie freilich nicht hindert, den Kampf um ihre Interessen erbittert auszufechten. Das ist sogar der einzige Sinn ihres Daseins, da ihnen die Selbstsucht alle übrigen Bindungen des Menschen an seine Existenz ersetzt. Im Grunde war er der landläufige Typ des Verwalters oder Grundbesitzers, ein Automat, wie es deren viele gibt. Die Berge hatten ihn hart gemacht, ohne seine Schlauheit zu schwächen, während sie die Hirten, die kaum von da oben herunterkamen, in einen an Verblödung grenzenden Zustand versetzten. Für einen solchen Menschen existiert man nicht, bestenfalls ist man wie ein Stein, wenn er gerade einen braucht, um einen Pfahl einzuschlagen.
Nachdem Michel zunächst ein saures Gesicht gezogen und ein kurzes Zögern markiert hatte, stellte er mich für die Heuernte ein. Zwanzig Frank pro Tag ohne Verpflegung. Ich protestierte heftig, aber er sagte, er könne bei der gegenwärtigen Krise unten haufenweise Leute finden, die zufrieden wären, wenn sie für den mir gebotenen Lohn Arbeit bekämen. Mit meinen zehn Frank in der Tasche und angesichts der Schwierigkeiten, die ich unten kennen gelernt hatte, blieb mir keine Wahl. Ich nahm an.
Der Verwalter konnte mir als Unterkunft nur das frische Heu der Scheune anbieten, und so hatte ich es vorgezogen, mein Zelt aufzuschlagen. Mitten in der Nacht brach das Zelt zusammen, und ich sah mich bei strömendem Regen gezwungen, in einem Karren unter einem Schuppen Schutz zu suchen.
Am nächsten Tage schickte mich der Verwalter mit dem Maulesel zu dem kleinen Bahnhof in der Schlucht, um Lebensmittel zu holen. Die Sonne brannte auf das Gestein, auf die kupferne Erde, auf die riesige Felswand gegenüber, die mit ihren Schattenfalten, ihren Lichtflächen einer Wagenplane im Feuerschein glich. Alles war Sonne, Hitze, Aufruhr, kraftstrotzendes Gestein.
Wir, der Maulesel und ich, stiegen in das Chaos dieser amerikanischen Gebirgslandschaft hinab, zwei verschwommene Schatten, flüchtige Gestalten, mit Blut wie dickflüssiger Wein, und ich vergaß den Verwalter und die Nacht, die ich in Erwartung des anbrechenden Tages verbracht hatte.
Mäher, in Manchester gekleidet, mit schweren Schuhen, mit Regenschirm unter dem Arm und der Sense über der Schulter, waren von einem der Dörfer des Tales heraufgekommen. Es waren gute Kerle, offen und ehrlich, mitteilsame Männer, die sich unterhalten konnten, ohne erst die Leute lange zu kennen. Jedes Jahr zogen sie zur Heu-, Getreide- oder Lavendelernte in die Niederalpen oder nach Vaucluse. Dieses Jahr waren sie in der Nähe ihrer Heimat in den Alpes-Maritimes geblieben. Sie versicherten mir, dass alles schlecht stünde, ohne mir aber Einzelheiten über ihre Abmachungen mit Michel zu verraten, der in der Nähe stand und sie hätte hören können. Da sie die Verhältnisse besser kannten, waren sie vielleicht weniger „reingefallen" als ich.
Auf einer Mauer vor der Schäferei aßen wir zusammen unser Frühstück.
„Du brauchst was Feuchtes zu deinem Brot! Iß doch nicht Brot mit Käse, das ist trocken. Nimm lieber Büchsenfleisch. Hier, trink einen Schluck, da hast du die Flasche!"
So sprach zu mir ein kräftiger Alter mit dem guten Gesicht eines Mannes, der im Freien lebt und Familienvater ist.
Später sah ich die Mäher nicht mehr: Sie arbeiteten auf den Wiesen des Hanges, der in weiten, natürlichen Terrassen stufenförmig abfiel. Ich war oben allein mit Michel beim Heumachen, hantierte mit der hölzernen Heugabel und mit dem Rechen.
Das Jahr war regnerisch. Vom Meer stiegen Wolken auf und durchnässten uns; ein Wolkenmeer zog sich um den Gipfel zusammen. Als Michel einen baldigen Platzregen voraussagte, schichteten wir das Heu in aller Eile auf.
Von dem unendlichen Horizont, den man da oben bei schönem Wetter überschauen konnte, hatte ich den Blick auf meine Arbeit gerichtet und ging völlig auf in der silbern glänzenden Wiese, in dem Heuhaufen, dem Heuduft, dem ausgebreiteten Heu, dem Heu auf meiner Gabel, oben silbern und unten grün, in dem leisen, unaufhörlichen Rascheln meines Rechens in den dürren Halmen: ich schwitzte Heu. Michels Anwesenheit war das einzig Zweifelhafte in der Seligkeit, dazusein, emsig und still.
Der Schatten großer Wolken, weitgespannten Flügeln gleich, zog schweigend über uns hinweg. Träge Nebel krochen über dem Boden herauf und überzogen den Rücken des Gebirges.
Die Hände wurden kühl, die Augenbrauen feucht; man wurde selber Nebel, als besäße der Nebel, der Gegenstände verwischt und Bäume in Schatten verwandelt, eine eigenartige Seele, die die Phantasie ansprechen und ein Leben ferner Erinnerungen neu erwecken könnte, wie die Kindheit in einem Erwachsenen wieder lebendig wird, wenn ihm eine mütterliche Hand übers Haar streicht. Es wurde einem nordisch zumute, als streiche man durch London.
Der Himmel klärte sich auf, und vom weiten Horizont umgeben, wurde man wieder Gebirgsrücken, Duft, Rascheln der Gräser. Alle Verwandlungen des Himmels setzten sich in Träumereien um, in eine Filmvision, in Bilder und Gedanken, die man wieder vergisst und die eine Stimmung stiller Heiterkeit, Lebensfreude, strahlende Gesundheit hervorrufen. Man war wie ein Bach, über dem eine Pappel ihre Blätter schüttelt und der auf seinem Wege sein Murmeln mit den Bildern der Landschaft vermischt. Man war gleichsam Wind und Schilfrohr, und dieser Mensch, der Michel, der dort mit einer Gabel auf der Wiese arbeitete und dessen Nähe ich ohne die mindeste Zuneigung spürte, störte mich wenig.
An den Regentagen schlief oder las ich in meinem Zelt. Michel war mit mir zufrieden, er konnte mich gut gebrauchen, obgleich er nicht geglaubt hatte, dass ich mit einer Heugabel umzugehen wüsste, als er mich mit meinem Städtergesicht hatte kommen sehen. Er verkaufte mir alle Lebensmittel, die ich brauchte: Reis, Nudeln, Wein und Konserven. An den Regentagen verdiente ich nichts.
Trotz der magischen Kraft des Gebirges mit seinem raschen Übergang von Regen und Nebel zu strahlendem Licht fing ich schließlich doch an, trübsinnige kleine Berechnungen anzustellen und Michel schief anzuschauen, der ein doppeltes Geschäft mit mir machte: lange Arbeitstage, niedrige Löhne und Lebensmittel zu Wucherpreisen.
Ich arbeitete mit Schwung, ich war mehr wert. Was konnte ich gegen diesen langfingrigen Automaten unternehmen?
Mit der Absicht, ihn ganz sachte auf den Arm zu nehmen, habe ich zu ihm gesagt:
„Herr Michel, ich muss Sie verlassen. Mit dem Lohn, den Regentagen dazwischen und den Lebensmitteln, die ich Ihnen abkaufe, werde ich Ihnen bald Geld schulden, wenn ich weiter für Sie arbeite. Ich müsste Sie anpumpen, das wäre schade ..."
Er hat meine Höflichkeitsformeln wortwörtlich genommen. Er hat mir zwei Frank mehr pro Tag geboten, die er fürs Öl oder für die Kartoffeln rasch wieder hereingeholt hätte, und ich habe den alten Verwalter mit den krummen Fingern nach diesen ruhigen Worten verlassen, um unten, wo die Krise wütete, eine fragwürdige Arbeit zu suchen.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur