NEUNTES KAPITEL
1
Wie das häufig so geht in dieser Welt, wo ein lieber Gott die Geschicke der Menschen nur zu deren Besten leitet und in seinen Handlungen niemals einen Fehler begeht, so war auch in diesem Falle das Glück beständig auf Seiten des Don Gabriel, während die Unschuldigen und die Geplagten alles Unglück zu ertragen hatten, das nur immer von irgendwoher und durch irgend etwas auf sie herunterschmetterte. Das ist eine weise Fügung des Höchsten, die kein Mensch auf Erden zu kritisieren das Recht hat. Denn je unverständlicher ein Vorgang für den Menschen ist, um so mehr ist es gewiss, dass Gott in seiner großen Weisheit und in seiner ewigen unerforschlichen Menschenliebe jenen unverständlichen Vorgang gebraucht, um bestimmte, nur ihm bekannte Zwecke irgendwo in einem Spiralnebel im Universum zu verfolgen. Aus diesen hiermit wohlbegründeten Ursachen heraus trug es sich zu, dass Don Gabriel vom Glück so verfolgt wurde, dass er ihm nicht ausweichen konnte. Es verging kaum ein Tag, an dem es ihm nicht gelang, einen Mann mehr in den Kontrakt zu bringen. Und mit jedem einzelnen Mann, den er einfing, vergrößerte sich sein Vermögen um fünfundzwanzig bis sechzig Pesos. Er nahm die Burschen, die er kontraktlich verpflichten konnte, nicht gleich mit sich. Er hätte sie dann auf alle Fincas und durch alle Orte mit sich schleifen müssen.
Sobald er jemand im Kontrakt festhielt, machte er den Ortssekretär oder den Finquero oder den Polizeichef haftbar für das rechtzeitige und sichere Eintreffen des Mannes am Tage des
Candelaria-Heiligenfestes in Hucutsin, wo alle angeworbenen Männer gesammelt wurden, um von hier aus, der äußersten Grenze der Zivilisation, zu den Monterias in Marsch gesetzt zu werden. Die Ortssekretäre, Ortsvorsteher, Finqueros oder Polizeichefs bekamen von dem Agenten die Schulden oder die Geldstrafen ausbezahlt, für deren Betrag der Mann übernommen wurde, um die Schuld in einer Monteria abzuarbeiten. Der Werbeagent war geschickt genug, niemals die volle Summe sofort an den Gläubiger des verschuldeten Indianers auszubezahlen. Es wurde nur ein Viertel etwa sofort bezahlt. Dadurch wurde es für die Agenten möglich, mit geringen Summen zu arbeiten. Der Rest des Schuldbetrages wurde von den Agenten erst dann den Gläubigern der Indianer ausgehändigt, wenn die angeworbenen Leute in der Monteria angelangt waren. Dann erhielten die Agenten ihre Schecks, die sie in Jovel oder in Tullum einlösten, und nun besaßen sie genügend Geld, um die Restbeträge der übernommenen Schulden der angeworbenen Indianer zu begleichen. So bestand kaum irgendeine Gefahr für den Agenten, dass er sein Geld verlieren könne; und es geschah nur ganz selten, dass einer von den angeworbenen Arbeitern nicht eintraf. Das kam nur dann vor, wenn er gestorben war in der Zeit zwischen dem Anwerben und dem Tage des Candelariafestes. Weigerte sich der Mann aus irgendeinem Grunde, rechtzeitig den heimatlichen Ort zu verlassen, um zu bestimmter Zeit in Hucutsin eintreffen zu können, so verfiel er der Strafe für den Kontraktbruch, das schwerste Vergehen, das ein indianischer Arbeiter unter der Diktatur begehen konnte. Ein Indianer, der einen Volksgenossen, also einen anderen Indianer, ermordet hatte, galt als weniger strafwürdig denn ein Indianer, der kontraktbrüchig geworden war. Ob ein Indianer mehr oder weniger in Mexiko, oder sonst irgendwo auf dem amerikanischen Kontinent, am Leben war, das war unwichtig. Sie vermehrten sich reichlich genug, wenn auch vier Fünftel der Kinder wegstarben, ehe sie zwölf Jahre alt waren. Wichtig, ungemein wichtig dagegen war es, dass die fremden Kompanien, die den Reichtum des Landes ausbeuteten, stets genügend Arbeiter bekamen. Das wurde ihnen in den Konzessionen und Lizenzen ausdrücklich zugesichert. Kontraktbruch eines indianischen Arbeiters galt als Hochverrat. Darum wurde Streik mit dem Tode bestraft, weil es Kontraktbruch vor und mit versammelter Arbeiterschaft war. Ein kontraktbrüchiger Indianer vermindert die Ausfuhr. Verminderte Ausfuhr verschlechtert den finanziellen Ausgleich des Landes mit anderen Ländern. Damit wird das Vaterland an das Ausland, das immer der Feind ist, weil es ja das Ausland ist, ausgeliefert. Somit ist Kontraktbruch des indianischen Proletariers Hochverrat.
Verließ also ein Indianer, der in Kontrakt stand, den heimatlichen Ort nicht zu rechter Zeit, so wurde er von der Polizei oder den Soldaten eingefangen. Die Kosten des Einfangens wurden ihm auf das Schuldkonto gesetzt. Wenn er großes Glück hatte und ihn Gott unter seine Fittiche nahm, dann bekam er nur fünfzig unbarmherzige Hiebe; hatte er jedoch Schwierigkeiten beim Einfangen gemacht, erhielt er zweihundertfünfzig, und wenn ihn die Jungfrau ganz und gar verließ und nichts mehr von ihm wissen wollte, fünfhundert.
So erscheint es nicht nötig, eingehend zu erklären, warum die Agenten nie in Sorge waren, dass die angeworbenen Leute am letzten Nachmittag vor dem Tage des Generalabmarsches in den Dschungel beim Verlesen der Listen etwa nicht anwesend sein möchten. Kam einer nicht, so war in fünfundneunzig von hundert Fällen anzunehmen, dass er tot war oder ein Bein oder einen Arm verloren hatte und dadurch für die Monteria und somit auch für das Vaterland wertlos geworden war.
2
Don Gabriel hatte ein solches Glück, dass er gerade zu rechter Zeit nach Pebvil kam, wo ihm ein guter Fang in das Netz lief. Pebvil war ein Ort, so unabhängig und so selbstherrlich, dass Don Gabriel nie daran dachte, hier auch nur einen einzigen Mann zu bekommen.
Zu dem Orte gehörten etwa fünfzehntausend unabhängige Indianer, die auf weiten Räumen sich verteilten, die aber Pebvil als ihre Hauptstadt betrachteten. Hier waren der Cabildo und eine Kirche. In dem Cabildo wohnte und amtierte der Sekretär. Der Pueblo, die federative Gemeinschaft der Sippen, wurde von einem indianischen Jefe geleitet.
Alle Versuche der Spanier, den Pueblo aufzulösen und aufzuteilen in Fincas und Domänen, waren in den dreihundert Jahren der spanischen Herrschaft fehlgeschlagen. Der Pueblo war zu stark. Wo einzelne Gruppen und Sippen nicht widerstehen konnten, wichen sie aus. Waren die Soldaten fort und hatte sich ein Finquero angesiedelt, so wurde er ermordet oder vertrieben. Die Spanier gaben es auf, den Pueblo zu unterjochen. Die spanischen Gouverneure, gut beraten von Kaufleuten und Handwerkern spanischer Herkunft, kamen endlich zu der Überzeugung, dass es allen Geschäften und einem friedlichen und erfolgreichen Handel und Verkehr dienlicher sei, die Unabhängigkeit des Pueblos anzuerkennen und mit den Angehörigen des Volkes in Eintracht zu leben, ihnen ihre Produkte abzukaufen und ihnen dafür andere Waren zu verkaufen. Beide, sowohl der indianische Pueblo als auch der große mexikanische Ort, der jenem Pueblo am nächsten lag und darum der Zentralmarkt für den Pueblo war, gediehen bei dieser friedlichen gegenseitigen Respektierung vorzüglich. Die Hälfte alles Handels der mexikanischen Stadt bezog sich schließlich auf jenen Pueblo.
Pebvil war der federative Name für vier Stämme, die alle die gleiche Sprache redeten, alle die gleichen Sitten und Traditionen besaßen, sich in gleicher Weise kleideten und so miteinander befreundet waren, dass Burschen aus dem einen Stamm in jeden beliebigen der übrigen drei Stämme einheiraten durften, wenn ihnen aus dem anderen Stamm ein Mädchen zusagte und das Brautwerbegeschenk an den Vater ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entsprach.
Der Platz, wo sich die Kirche und der Cabildo befanden und wo einige dreißig Familien wohnten, erhielt den federativen Namen Pebvil, nach welchem Namen die ganze Nation bezeichnet wurde. Dieser Platz war der politische Mittelpunkt der Nation. Hier kamen die Sippen zu dem Jahresfeste, und hierher sandten die einzelnen Stämme und Sippen ihre erwählten Männer zu den Beratungen.
Von diesem politischen Zentralplatz aus gruppierten sich die verschiedenen Stämme, oder Barrios, nach vier Richtungen hin. Es wohnten meist nur drei bis zehn Familien in einer Gruppe beieinander. Die nächste Gruppe wohnte, je nachdem wie es das Gelände zuließ und die Ergiebigkeit der Äcker es gestattete, dreihundert bis mehr als tausend Schritte nach jeder Richtung hin von der nächsten Gruppe entfernt.
Alle diese Gruppen von drei oder vier Familien bildeten je nachdem, ob sie innerhalb der nördlichen, östlichen, südlichen oder westlichen Gemarkungen lagen, je einen Barrio im Norden, Süden, Osten und Westen. Jeder Barrio hatte seinen uralten indianischen Namen. Aber unter dem Einfluss der katholischen Religion, und damit der Teufel weniger Macht und Unheil ausüben konnte, wurde jedem alten indianischen Namen ein frommer Name vorgesetzt. So hieß der eine Barrio San Andres, der andere San Marco, der nächste San Pedro und der vierte San Miguel. Jeder einzelne dieser Barrios veranstaltete eine Feria, ein großes Fest, wenn der Schutzpatron des Ortes, also San
Marco oder San Pedro, seinen Tag im Kalender hatte.
Jeder Barrio, oder jeder Stamm, besaß seit uralten Zeiten seine eigene Industrie, die von allen übrigen Stämmen respektiert wurde. Es wurde niemals von einem Stamme versucht, in die Industrie des anderen Stammes hineinzuarbeiten. Der eine Barrio fertigte Töpfe und andere Tonwaren, der zweite fertigte Hüte, der dritte Körbe und Matten und der vierte Wolldecken. Kein Individuum der Nation fertigte sich seinen eigenen Hut an. Es war Brauch und Sitte, den Hut von dem Stamm zu kaufen, der das uralte Privileg hatte, Hüte anzufertigen. So gebrauchte auch keine Frau in der Nation einen Topf, der nicht in jenem Stamm angefertigt worden war, der das Vorrecht besaß, die Töpfe und Schüsseln für die Volksgenossen herzustellen. Und das wurde so getan, obgleich jeder Indianer befähigt ist, sich selbst seinen Hut zu machen, sich selbst seinen Petate zu flechten, sich selbst seine irdenen Küchengeschirre zu formen und zu brennen. Es gibt bei den Indianern, die unabhängig leben, beinahe ebenso viele Regierungsformen, wie es Nationen und Sprachen gibt. Es gibt Caciques oder Jefes, die auf Lebenszeit gewählt werden, mit der Einschränkung, dass sie abgesetzt werden können, wenn sie sich unfähig ihres Amtes zeigen; es gibt Caciques, die nicht gewählt werden, sondern die langsam aus niederen Stufen eines Amtes aufrücken; es gibt Regentschaften, die nicht aus einem Präsidenten bestehen, sondern aus vier Männern mit gleichen Rechten und Pflichten; es gibt Caciques, deren Amtszeit vier Jahre währt, und es gibt solche, deren Amtszeit nur ein Jahr dauert; es gibt Nationen, wo ein Mann, der einmal Cacique gewesen ist, nie wieder in seinem ganzen Leben in dieses Amt gewählt werden kann, wäre er auch noch so tüchtig; in anderen Nationen dagegen kann ein Mann erneut gewählt werden, nachdem wenigstens zwei, drei, vier oder mehr andere Caciques amtiert haben, seit er das letzte Mal Cacique war. In einigen Nationen kann niemals ein Mann erwählt werden, dessen Vater einmal Cacique gewesen ist. So verschieden auch alle diese Formen sein mögen, so sind sie alle ohne Ausnahme in ihrer Basis republikanischer und demokratischer Natur.
In Pebvil nun war noch ein anderes System in Geltung. Es hätte, würde man eine Untersuchung mit Erfolg anstellen können, sicher zurückgeführt werden können auf jenen Tag, als hier in dieser Region die Nation auf der Suche nach neuer Erde eintraf, sich ansiedelte und von Anbeginn die vier Sippschaften jene vier Gemarkungen besetzten, die sie heue noch hielten. Aus Nützlichkeitsgründen und besserer Verteidigung wegen gegenüber anderen Nationen in der Nachbarschaft bildeten die vier Sippen eine Federation, bei der jede Sippe ihre Selbständigkeit behielt. Um sowohl den Rechten und Eigenheiten jeder einzelnen der vier Sippen gerecht zu werden als auch die Einheit und Kraft der Federation zu wahren, beschlossen die Männer im Rat der Nation folgendes: Der Häuptling der Nation wird in jedem Jahr neu erwählt. Wer einmal Cacique war, kann es nicht zum zweiten Male werden. Die Amtszeit dauert ein Jahr. In jedem Jahr hat ein anderer Barrio den Cacique zu wählen. Nur Angehörige des Barrios, der in diesem Jahr den Cacique zu stellen hat, dürfen wählen. Der amtierende Cacique nimmt während seiner Amtszeit Wohnsitz im Zentralort der Federation, wo ihm gutes Land zugewiesen wird, das er mit seiner Familie bebauen kann. Eine Vergütung für sein Amt erhält er nicht. Für Fehler in seiner Verwaltung ist er den Abgesandten aus allen vier Stämmen der Nation verantwortlich. Die Zeremonie der Amtseinsetzung des neuen Häuptlings vollzog sich in merkwürdiger Weise.
Am sechsten Tage, nachdem die Sonne in ihrem Lauf wieder zu steigen begann, nach unserem Kalender etwa am siebenundzwanzigsten oder achtundzwanzigsten Dezember, wurde die Feier der Amtseinsetzung vorgenommen.
Die Zeremonie hat sich heute völlig unserem Kalender angeglichen, so dass sie jetzt stets am ersten Januar stattfindet.
Frühmorgens um sechs Uhr kommt der ganze Stamm, der in dem neuen Jahr den Häuptling stellt, auf dem Platze vor dem Cabildo anmarschiert und bringt den erwählten Häuptling mit sich. Es steht allen Angehörigen der übrigen drei Barrios frei, sich gleichfalls zur Feier einzufinden.
Einige Männer laufen zur Kirche und läuten die Glocken. Ein Pfaff ist nicht am Orte. Er macht die höchst beschwerliche Reise in diesen abgeschiedenen Ort eines hohen felsigen Gebirgslandes nur einmal im Jahr, um eine rasche Messe herunterzurasseln, Kinder zu taufen, Ehen, die ein halbes Jahrhundert an Zeit und an sündigen Genüssen alt sind, einzusegnen, Gräber, deren genaue Lage nicht mehr festzustellen ist, mit Weihwasser zu bespritzen, allen Schäflein, den menschlichen sowohl als auch den wolligen, den apostolischen und allein wirkungsvollen Segen zu verabfolgen und die Gelder für das Messelesen, Taufen, Segnen, Weihwasserverplempern und für das Vergeben der befriedigten Gelüste auf ungeweihten und ungesegneten Ehepritschen einzukassieren. Zu dem Fest der Amtseinsetzung des neuen Häuptlings erscheint der Señor Cura nicht, weil an diesem Tage, dem Neujahrstage, der Dienst im Weinberge des Höchsten sich in der Kirche eines großen Ortes im Staate ertragreicher gestaltet.
Während nun, anlässlich der Amtsübergabe, die Glocken läuten, werden Feuerwerkskörper abgebrannt. Es wird musiziert, getanzt und fröhlich herumgelärmt.
Der neu gewählte Häuptling wird vor dem Portal des Cabildo von den bevorzugten Männern seines Stammes dem abtretenden Häuptling und dessen Räten vorgestellt. Mit dieser Vorstellung ist die Prüfung der Wahldokumente vollzogen. Der zurücktretende Häuptling hält eine Rede in indianischer Sprache, die in poetische Form gesetzt ist und die offenbar sehr alt sein mag.
Der neue Häuptling antwortet darauf bescheiden und höflich.
Auch seine Rede ist in indianischer Sprache, und auch er bedient sich der alten Reime, die für diese Handlung, wahrscheinlich seit tausend Jahren oder länger, vorgesehen sind. Nachdem unter vielen Zeremonien endlich der Amtsstab übergeben ist, wird ein Stuhl gebracht.
Dieser Stuhl ist niedrig. Er ist aus bastartigem Holz gefertigt und erscheint wie Flechtwerk. Der Sitz jedoch ist ausgehöhlt, in der Größe des Gesäßes.
Unter Lachen und fröhlichen Scherzen und derben Witzen der Männer, die in Mengen der Zeremonie beiwohnen, streift der neue Häuptling nun seine weißen Baumwollhosen halb herunter und setzt sich mit dem unbekleideten Gesäß in die Öffnung des Stuhles.
Er trägt den Ebenholzstab mit dem silbernen Knopf, den Amtsstab, im rechten Arm, und er sitzt nun würdevoll auf dem Stuhl, das Gesicht allen Männern der Nation, die vor ihm stehen, zugekehrt.
Er sitzt da, so ernst und majestätisch, als wolle er seine erste feierliche Amtshandlung beginnen.
Das Scherzen und Lachen der umstehenden Männer verstummt nun für eine Weile. Es macht den Eindruck, als wollten sie alle in Andacht den ersten bedeutenden Worten ihres neuen Häuptlings zuhören.
Aber nunmehr kommen drei Männer herbei, die zu dieser Feier von jenem Stamm hergeschickt wurden, der im folgenden Jahr den Cacique zu wählen hat.
Diese Männer tragen einen irdenen Topf, in dessen Seiten zahlreiche Zuglöcher eingebohrt sind. Der Topf ist mit glühenden Holzkohlen gefüllt, die infolge jener Zuglöcher tüchtig am Glühen bleiben.
Mit einer gereimten Rede in indianischer Sprache erklärt der Mann, was der Zweck der Handlung sei, die er jetzt vornehme. Sobald er seine Rede beendet hat, stellt er den Topf mit den glühenden Holzkohlen unter das unbekleidete Gesäß des neuen Häuptlings.
In der Rede hat der Mann gesagt, dass dieses Feuer unter dem Hintern des Häuptlings, der würdig auf seinem Amtssessel sitze, ihn daran erinnern möge, dass er nicht auf diesem Stuhle sitze, um sich auszuruhen, sondern um für das Volk zu arbeiten, er solle lebendig bleiben, selbst wenn er auf dem Amtssessel sitze; ferner solle er nicht vergessen, wer ihm das Feuer unter den Hintern gelegt habe. Es habe ihm der Stamm das Feuer untergelegt, der im nächsten Jahr den Häuptling stelle, und es sei geschehen, um ihn schon heute daran zu erinnern, dass er kein Kleber werden möge, dass er das Amt aufzugeben habe, sobald seine Zeit abgelaufen sei, um lebenslängliche Herrschaft und Diktatur, die dem Gedeihen eines Volkes schädlich sei, zu verhindern. Sollte er dennoch kleben bleiben wollen, dann würde man ihm ein Feuer unter den Hintern legen, groß genug und lange genug, dass weder von ihm noch von dem Sessel etwas übrig bleiben werde. Sobald der Topf mit den glühenden Holzkohlen untergestellt ist, werden gereimte Sprüche aufgesagt, von je einem Manne aus dem Stamme, dessen Erwählter jetzt zurücktritt, einem Manne aus dem Stamme, der im nächsten Jahre den Jefe erwählt, und einem Manne aus dem Stamme des neueingesetzten Cacique. So lange diese Sprüche nicht beendet sind, darf sich der neue Häuptling von seinem Sitz nicht erheben. Es hängt von seiner Beliebtheit oder Unbeliebtheit als Volksgenosse ab, ob die Männer, die jene Sprüche aufsagen, die Reime langsam und bedächtig heruntersingen oder mit einer solchen Eile, wie gerade noch zulässig ist, um nicht die Absicht ganz offen zu verraten. Wenn es dem Manne, der seinen Spruch zuletzt aufsagt, so erschienen ist, als hätten die beiden Männer, die vor ihm sprachen, zu schnell geredet, so kann er den angerichteten Schaden durch verdoppelte Langsamkeit in seiner Rede reichlich wieder wettmachen.
Der Häuptling, was immer er auch fühlen mag, wird durch keine Miene oder Geste offenbaren, wie nahe ihm die Hitze ist. Ganz im Gegenteil. Wenn die Sprüche alle aufgesagt sind, dann springt er nicht etwa gleich auf, erfreut darüber, dass die Anwärmung nun vorüber ist, sondern er bleibt noch eine gute Weile sitzen, um anzudeuten, dass er vor den Schmerzen, die ihm sein Amt vielleicht bereiten könne, nicht davonzulaufen gedenke. Oft genug macht er jetzt sogar noch Scherze. Und das steigert die Belustigung der Männer, die ihm zusehen und die so gierig darauf warten, dass er ein Zeichen von Unbehaglichkeit offenbaren möchte, um ihn auslachen zu können. Aber je lustiger seine Scherze sind und je länger er sitzen bleibt, um so mehr gewinnt er auch an Achtung und Vertrauen unter den Männern.
Seine Scherze suchen die Lächerlichkeit auf andere Männer zu lenken. Er sagte zum einen: »Schwächling, du hast ja keine Lungen, wie willst du denn deiner Frau eine gute Suppe eintropfen, wenn du zu schwach bist, hier das Feuer unter meinem Ursch anzublasen, dass ich doch endlich einmal warm werde unter dem Loch. He, du, Elizeo, komm her und schabe das Eis ab, das sich auf meinem Nacken anwurzelt.« Die Kohlen sind nun auch so ziemlich verglüht. Langsam erhebt sich der Häuptling. Aber das Eis, von dem er sprach, ist nicht ganz so unschuldig. Die Haut hat heftig Blasen gezogen, und an mehreren Stellen ist reichlich gebrannte Kruste, die man weit genug riechen kann.
Ein Freund kommt herzu, reibt ihm das Gesäß mit Öl ein und legt dann einen Verband mit weichgequetschten Blättern über, während ein anderer ihm große Gläser Tequila einschenkt. Wochenlang vergisst der neue Häuptling nicht, was er unter seinem Sitz hatte. Das hilft ihm in den ersten Monaten seiner Amtszeit beträchtlich darin, das Amt so zu führen, wie es von der Nation bei seiner Wahl erwartet wurde. In beinahe allen Fällen bleiben genug Narben auf jenem abgelegenen Körperteil zurück, dass er nicht nur bis in sein höchstes Alter hinein durch ein unverwüstliches Dokument beweisen kann, einmal die Ehre gehabt zu haben, Häuptling in seiner Nation gewesen zu sein, sondern auch, dass er nicht daran denkt, sich gegen die Sitten seines Volkes ein zweites Mal zu diesem Amt wählen zu lassen.
Es wäre den Proletariern wohl ernsthaft zu raten, jene gut ausgeprobten indianischen Wahlmethoden anzuwenden, insbesondere gegenüber den Beamten ihrer gewerkschaftlichen und ihrer politischen Organisationen. Nicht nur in Russland, wo es am nötigsten ist, sondern auch in allen übrigen Ländern, wo Marx und Lenin zu Säulenheiligen erklärt wurden, könnten kämpfende Proletarier bei weitem sicherer ihnen nützliche Erfolge erzielen, wenn sie ihren Führern jährlich ein heftiges Feuer unter den Hintern legen würden. Kein Führer ist unersetzbar. Und je häufiger neue Führer auf einen glühenden Sessel gesetzt werden, um so lebendiger bleibt die Bewegung. Nur nicht zaghaft sein, Proletarier. Erst recht nicht sentimental.
3
Eine Diktatur oben macht Diktaturen unten unvermeidlich. Don Porfirio ließ sich alle vier Jahre, wenn seine Amtszeit als Präsident abgelaufen war, erneut wählen. Die Clique, die unter seiner Regentschaft fett und fetter wurde, wählte. Wer unter seiner Regierung nicht fett wurde, hatte kein Wahlrecht. Ihm hatte, als er zum ersten Male gewählt wurde, der Feuertopf unter dem Ursch gefehlt, um ihn daran zu erinnern, dass es auf Erden nicht nur einen Menschen gibt, der die Geschicke eines Volkes zu leiten vermag, sondern dass jeder zehnte Mann in einem jeden Volke fähig ist, zu regieren. Es ist nichts Mysteriöses im Regieren. Es ist viel schwerer, eine brauchbare Maschine zu konstruieren, als ein Volk zu regieren, wo die Maschinerie gebrauchsfertig dasteht und läuft. Regieren wird als eine tief mysteriöse Kunst bezeichnet, um Revolutionäre abzuschrecken und den schlichten Untertan nicht sehen zu lassen, wie wenig man zu können und um wie viel weniger man zu wissen braucht, um regieren zu können. Wie viele Trottel und Idioten haben Völker ein halbes Jahrhundert hindurch segensreich und friedlich regiert.
Don Porfirio hielt sich für den besten, größten und intelligentesten Staatsmann auf Erden. Darum betrachtete er es als selbstverständlich, dass er immer wieder neu gewählt wurde. Und weil das oben so war, darum wurde es unten so nachgemacht. Die Gouverneure, Bürgermeister, Polizeichefs, Minister und Ingenieure blieben im Amt, bis der Tod das Volk von ihnen erlöste. Ein Verfallen in Gehirnlähmung oder Idiotie oder Infantilismus war kein ersichtlicher Anlass, sie zur Ruhe zu setzen. Sie hätten Ruhegelder beansprucht. Es war für die Finanzen des Staates besser, die Herren im Amte zu lassen, bis sie beerdigt wurden, als ihr Gehalt an zwei Leute zu zahlen, an den pensionierten und an den amtierenden.
4
In Pebvil war Don Abelardo Secretario, und Don Amalio war Cacique der Indianer. Er war für das gegenwärtige Jahr der erwählte Jefe des Barrio San Andres.
Der Jefe, Don Amalio, war trunksüchtig. Ein anderer Fehler war, dass er sich leicht von Don Abelardo, dem Secretario, beeinflussen ließ. Don Abelardo verstand es, den Jefe nach und nach ganz auf seine Seite zu bringen. Er versprach, dass, wenn er gut mit der Regierung arbeite, er den Gouverneur des Staates veranlassen werde, ihm ein großes Stück Land bester Erde zuzuweisen, das einer Hacienda abgenommen werden würde, die im Westen an das Gebiet der indianischen Nation grenzte.
Der Sekretär war sehr geschickt in seinem Vorschlage. Er wusste, der Jefe der Indianer würde sein Volk nicht verraten und nicht verkaufen. Wenn jedoch der Jefe, durch sein gutes Zusammenarbeiten mit der Regierung, ein großes Stück neuer Erde für die Nation hinzugewinnen konnte, so geschah das zugunsten der Nation. Er würde sich mit seiner Familie auf das neue Land begeben, und dadurch würde das Land, das er jetzt besaß, frei für eine neue Familie.
Don Abelardo riet dem Cacique, im Pueblo nichts von diesem Vorschlage zu erzählen, um nicht unnötige Erregung hervorzurufen; denn sollte es geschehen, dass der Gouverneur vielleicht ein anderes Stück Land, etwa im Osten der Region, geben würde, dann würde das Volk glauben, dass es übervorteilt worden sei, weil es schon damit gerechnet habe, dass jenes neue Land im Westen läge. Das gäbe nur Reden und Verhandeln, mit dem niemand gedient sei. Obgleich der Grund, den der Secretario angab, durchaus nicht klar ausgearbeitet war und nur sehr lose mit dem Sachverhalt zusammenhing, so glaubte der Cacique doch, dass der Sekretär recht habe, wenn er ihm rate, über den Vorschlag nichts an seine Volksgenossen zu berichten.
Der Jefe sollte, nach dem Willen des Sekretärs, gut mit der Regierung zusammenarbeiten. Damit meinte aber der Sekretär, dass der Indianer gut mit ihm selbst wirtschaften solle, denn er war ja die Regierung hier. Wenigstens betrachtete er sich als die Regierung.
Wenn Proletarier gut mit den Kapitalisten und den bürgerlichen Parteien zusammenarbeiten, so heißt das immer und seit hundert Jahren, dass der Arbeiter die Kosten für das gute Zusammenarbeiten bezahlt. Ebenso ist es mit den Indianern. Wenn sie gut mit den Beamten zusammenarbeiten, dann geht es über ihr Fell her.
5
Mit Hilfe des Cacique, der nicht intelligent genug war, die Taktik des Sekretärs rechtzeitig zu durchschauen und auch dem Branntwein nicht widerstehen konnte, wenn er ihn vor sich sah, und der von Natur aus im Charakter schwächlich war, gelang es dem Sekretär, große Erfolge auf dem Gebiete des Regierens zu erzielen. Er ließ den Jefe Politico, den Gouverneur, die Staatsregierung und die Federalregierung reichlich von dem Regieren abhaben, denn je mehr er jenen Stellen zukommen ließ, um so weniger dachte irgend jemand daran, seine Amtsgeschäfte einmal näher zu untersuchen.
Es liefen bei dem Gouverneur Beschwerden über Beschwerden ein hinsichtlich der rücksichtslosen Verwaltung der Nation durch den Secretario. Klage über ungerechte Besteuerung, Klagen über Konfiskation von Vieh oder Feldfrüchten, die von den Indianern zu Markte gebracht werden sollten, ihnen aber von dem Sekretär abgenommen wurden als Bezahlung für Steuern oder Geldstrafen, von deren Vorhandensein sie erst durch die Konfiskation erfuhren. Ganze Trupps von Männern wurden weit hinweg kommandiert, um an Straßen und öffentlichen Gebäuden zwangsweise zu arbeiten, ohne dafür Lohn oder Essen zu bekommen. Die Löhne, die auf die Arbeit der Indianer entfielen und die dem Staat oder der Federalregierung auf Rechnung gesetzt wurden und im Budget erschienen, um von den Steuern des Volkes bezahlt zu werden, wurden aufgeteilt unter dem Gouverneur, dem leitenden Regierungsingenieur und dem Secretario, der die Leute stellte. Dem Indianer, der die Arbeit tat, wurde als Trost gesagt, er dürfe froh sein, dass die Regierung ihn und seine Familie am Leben lasse und dass er weder Recht noch Anspruch auf irgend etwas von dieser Erde habe, weil ihn niemand gerufen habe, auf dieser Erde zu erscheinen.
Wenn in der Stadt ein Fabrikant Leute brauchte oder ein Händler, der mit seinen Waren über Land reiste, wollte die Ausgaben für Tragmules sparen, dann schickte er einen Boten an den Sekretär, der ihm die erforderliche Anzahl von Männern am nächsten Morgen vor die Tür schickte. Für den Fabrikanten die Arbeiter und für den Händler die Burschen, die die Arbeit der Tragmules übernahmen. Der Secretario bekam die Löhne für die Leute, die er schickte, während die Indianer, freie Bürger der Republik, auch noch das Essen für sich mitbringen mussten. Alle diese Dinge konnte der Secretario nicht allein ausführen. Es stand ihm keine Befehlsgewalt über die unabhängigen Indianer zu. Die Befehlsgewalt war in den Händen des Jefe der Indianer. Nur der Cacique konnte seinen Volksgenossen unmittelbar befehlen.
Das war sehr geschickt von der Regierung eingerichtet worden. Denn hätte die Regierung den Nationen Befehle gegeben, so wären mehr Soldaten zum Unterdrücken der Rebellionen der Indianer notwendig gewesen, als die Regierung dem Kriegsministerium je hätte bezahlen können.
Der Sekretär hatte stets Verordnungen irgendwelcher Art zur Hand, mit denen er bewies, dass die Nation soundso viel Mann zu öffentlichen Arbeitern zu stellen habe dafür, dass die Regierung das Kommuneland der Nation respektiere und nicht konfisziere, dass sie ferner dem Indianer gestatte, auf den Wegen des Staates zu wandern, dass sie ihm gütigst erlaube, seine Feldfrüchte und sein Vieh auf den Markt zu bringen und dort für jeden Verkauf die fällige Steuer zu zahlen, dass sie ihm nicht verbiete, Feste in seinem Orte zu feiern, dass sie ihm die Freiheit gebe, Branntwein zu trinken, wenn er ihn bezahle, und dass sie nicht gedenke, ihm das Fisch- und Jagdrecht innerhalb ihrer Region zu untersagen. Alle diese Rechte, die freilich der Indianer von selbst besitzt, solange es eine amerikanische Erde gibt, mussten ausdrücklich von der Regierung täglich neu erkauft und neu bestätigt werden. Wäre das nicht so, brauchte man ja keine Regierung. Der indianische Jefe konnte nichts anderes tun, als den Verordnungen der Regierung gehorchen und ihnen so zu gehorchen, wie sie der Secretario, der lesen und schreiben konnte, auszulegen und auszudeuten beliebte. Hätte der Cacique sich geweigert, die Bestimmungen der Regierung anzuerkennen, so würde ihm die Regierung die Anerkennung als Jefe seiner Nation einfach versagen.
6
Die Indianer brachten oft genug hochintelligente und begabte Männer als ihre Jefes herbei, Männer, die so gute Diplomaten waren, dass sie, ohne sich der Regierung offen zu widersetzen, so sparsam mit Arbeitskräften und Geldern waren, die sie der Regierung zubilligten, dass ihre Nation während ihrer Amtszeit an Wohlstand zunahm und keine groben Ausbeutungen und Ungerechtigkeiten an den Volksgenossen verübt werden konnten. Gute Diplomaten mussten die Jefes sein. Sie hatten immer drei Parteien mit sich auszugleichen, die Regierung, den Sekretär und das eigene Volk. Wenn man schon von Regierungskunst wirklich sprechen will, so hatte der Jefe einer großen unabhängigen indianischen Nation unter diesen Verhältnissen zehnmal mehr diplomatische und regierungstechnische Begabung nötig als der Mann, der an der Spitze der Republik stand. Der Jefe wird von seinen Volksgenossen für Fehler, die er begehen sollte, in keiner Weise entschuldigt. Für jeden von ihm begangenen Fehler wird er zur Verantwortung gezogen. Seine Aufgabe, mehr noch seine Pflicht ist es, zwischen den drei Parteien so zu regieren, dass sein Volk nicht nur nicht zerrieben wird, sondern wächst, und dass ihm auch nicht ein einziger Vorwurf gemacht werden kann, er habe an dieser oder jener Stelle die Vorteile seines Volkes nicht genügend wahrgenommen. Im Verweigern von Forderungen der Regierung darf er wieder nicht zu weit gehen; sonst geschieht es, dass ihm ein Bataillon Soldaten in den Zentralort gesetzt wird, und im Bereich der Nation trifft man innerhalb weniger Monate weder ein Schaf noch eine Ziege auf den Weiden an. Denn wenn Soldaten in einem indianischen Pueblo sich erst einmal auf Verordnung der Regierung festgesetzt haben, so bezahlen sie nichts, weder für das, was sie verzehren, noch für das, was sie lediglich zu ihrem Vergnügen vergeuden. Für das
Einsetzen der Soldaten wird der Jefe von seinen Leuten gleichfalls verantwortlich gemacht, weil er es nicht dazu hätte kommen lassen dürfen.
7
Es ist nun menschlich erklärlich, dass Don Abelardo, als er einen so gefügigen und wenig intelligenten Jefe gefunden hatte, wie es Amalio war, sich mit allen seinen Kräften bemühte, diesen Jefe so lange im Amt zu halten, bis er den Sack genügend voll hatte, um den Posten als Sekretär aufgeben zu können Die Beschwerden bei der Regierung häuften sich. Die Beamten, die mit dem Behandeln der Beschwerden beauftragt wurden, weil es sich ja um ein zivilisiertes Land handelte, wo man sich zu eigener Lustbarkeit beschweren darf, waren dem Sekretär günstig gestimmt, denn er ließ sie immer verdienen. Ihm wurde geglaubt, denn er war der Sekretär. Er erklärte die Beschwerden für idiotische Lügen, die Leute seien ewige Nörgler, nichts sei ihnen recht und gut, und wollte man diesen Beschwerden Gehör geben, so würde er es lieber aufgeben, noch länger Sekretär zu bleiben, und die Regierung würde sicher keinen anderen finden, der willens sei, das Amt zu übernehmen.
Klug wie er war, ließ er einige unbedeutende Beschwerden gelten. Weil sie unwichtig waren, erkannte er sie zu Recht an. Er versprach, die Ursache dieser Beschwerden zu beseitigen. So erkannte die Regierung, was für einen vortrefflichen Vertreter sie in jenem Pueblo hatte.
8
Don Abelardo begann an der Erhaltung des Jefes, mit dem er so erfolgreich zu arbeiten verstand, energisch zu arbeiten. Er fürchtete jenen Mann, der, wie er gehört hatte, die größten Aussichten hatte, zum Jefe für das kommende Jahr gewählt zu werden. Er kannte ihn als einen nüchternen, sehr schlauen und sehr eigensinnigen Menschen, mit dem so gut wie nichts zu erreichen war in allem, was er, der Sekretär, benötigte. Der gegenwärtige Jefe hatte sich bei seinem Volke reichlich unbeliebt gemacht. Die ganze Nation wartete darauf, dass ein neuer Mann in den Cabildo komme. Und gerade darum, weil der Mann, der in seinem Barrio die besten Aussichten für die Wahl hatte, das entschiedene Gegenstück von Don Amalio war, darum war es so gut wie sicher, dass er gewählt werden würde. Man würde ihn schon darum wählen, um den Secretario zu ärgern, denn jedes Kind wusste, dass er wohl keinen Menschen so hasste wie den, dessen Wahl sicher schien.
Don Abelardo schrieb einen langen Bericht an den Gouverneur, in dem er sich über das Wahlsystem, das hier in Pebvil im Gebrauch sei, aussprach. Er erklärte ganz offen, dass dieses Wahlsystem ein Unsinn sei; denn sobald sich ein Jefe in sein Amt ein wenig eingearbeitet habe und gerade beginnen wolle, aus der gewonnenen Erfahrung heraus, etwas Ersprießliches zu leisten, da müsste er das Amt schon wieder verlassen, weil ein neuer Jefe gewählt sei. Es war nichts Neues, was der Sekretär sagte. Dasselbe wird seit Tausenden von Jahren gesagt. Es ist der Grund, warum es erbliche Könige gibt, warum es ewig wieder gewählte Landespräsidenten und Deputierte gibt und warum es Diktatoren gibt. Insbesondere auch die Beamten in den Arbeiterorganisationen, die nicht herunter wollen vom Sessel, wenn ihre Zeit schon zehnmal gekommen ist, berufen sich auf diese Meinung.
Auf den Gouverneur machte der Bericht einen tiefen Eindruck. Er sah ein, dass hier ein System bestand, dass einem geruhigen konservativen Regieren nicht günstig war. Es konnte geschehen, dass ein solches System Nachahmung fand. Und würde man jedes Jahr einen neuen Landespräsidenten und einen neuen Gouverneur haben, so könnte das Volk gar glauben, dass der eine ebenso gut regieren könne wie der andere, denn in zwanzig Jahren gab es dann zwanzig Regenten, und alle verstanden zu regieren. Also scheint regieren nicht so schwer zu sein, wie man den Regierten einzureden versucht.
Außerdem war der Gouverneur ein Mann, der ebenfalls dauernd im Amt bleiben wollte, weil es bequem war und das beste Geschäft für ihn bedeutete.
Und auch ganz oben, an der Spitze des Volkes, stand ein Mann, der nicht vom Sessel herunter wollte, so sehr auch an diesem Stühlchen gerüttelt und gestoßen wurde.
Weil der Diktator lebenslänglich dort sitzen bleiben wollte und weil auch der Gouverneur lebenslänglich Gouverneur zu bleiben gedachte, so erklärte der Gouverneur das System in Pebvil für idiotisch und als einen Beweis, dass es sich um das System von Indianern handele, die noch tief in der Barbarei stecken. Er ordnete durch Decreto an, dass der gegenwärtige Jefe, Don Amalio, entweder wieder gewählt werden müsse, wenn die Nation schon wählen zu müssen glaube, oder aber er bleibe im Amt auf Grund seiner früheren Wahl.
9
Don Abelardo verlas den Decreto in Anwesenheit des Don Amalio und einiger indianischer Männer, die gerade im Cabildo anwesend waren.
Es war nicht recht zu erkennen, ob dem Jefe jener Decreto willkommen war oder nicht.
Er sagte: »Wenn das der Befehl der Regierung ist, so haben wir ihm nachzukommen.«
»Keine Frage«, warf Don Abelardo ein, »Orden es orden, Befehl ist Befehl. Keine Verhandlung darüber zulässig. Sie, Don Amalio, bleiben Jefe, und damit abgemacht.«
Die übrigen Indianer, die anwesend waren, sagten nichts. Sie hörten ruhig zu, ohne eine Bewegung zu machen oder eine Miene zu verziehen. Es war November, als das geschah.
10
Am letzten Tage der zweiten Woche, nach der jener Decreto eingetroffen war, erschien eines Morgens eine Abordnung von Männern aus San Miguel in dem Cabildo, um mit dem Secretario zu sprechen.
San Miguel war der Barrio, der für das nächste Jahr den Jefe wählte.
Navidad, der Mann, dessen Wahl sicher war, befand sich nicht in jener Abordnung.
Alle Männer der Abordnung, sieben an der Zahl, waren ihrem Aussehen nach die üblichen schlichten Indianer. Kleine Bauern. Sie trugen Sandalen an den nackten Füßen. Sie hatten spick und span weiß gewaschene Baumwollhemden und Baumwollhosen an. Diese Kleidungsstücke waren bei einigen so zerflickt, dass wohl nicht ein einziges Stück des ursprünglichen Stoffes, aus dem diese Anzüge gemacht waren, mehr vorhanden schien. Über den Oberkörper hatten sie den Jorongo geworfen, der aus grauer Wolle gefertigt war und der an beiden Enden lange Fransen hatte. Die Hosen trugen sie nach der Sitte ihrer Nation bis hoch über das Knie aufgekrempelt, so dass die kernigen kräftigen Unterbeine aus dem Bild auffallend hervortraten. Die Beine sahen aus wie aus altem hartem braunem Holz gekerbt, wie man sie zuweilen an hölzernen Christusstatuen sieht, die fünfhundert Jahre alt sind. Nachdem die Männer in das Amtszimmer des Cabildo getreten waren, nahmen sie den Hut ab. Jeder einzelne trat vor den Secretario, sagte seinen Namen und reichte dem Sekretär die Fingerspitzen gegen dessen Hand, verbeugte sich tief und trat dann wieder zurück in die Gruppe. Don Abelardo bot Zigaretten an. Jeder nahm eine Zigarette und begann sie zu rauchen. Dann fragte der Sekretär, ob sie sich nicht auf die Bank setzen wollten. Sie antworteten, dass sie lieber stehen bleiben würden. Sie hatten ihre Machetes mitgebracht, und drei trugen außerdem auch noch Schrotflinten, die üblichen spanischen Vorderlader. Aber diese Waffen hatten sie draußen im Portico des Cabildos zurückgelassen. Zwei der Männer, die mit ihnen gekommen waren, hockten auf dem gestampften Erdboden im Portico, rauchten und schwatzten. Die Hunde, die den Männern der Abordnung gefolgt waren, jagten sich auf dem Platze vor dem Cabildo herum und zankten und spielten mit den Hunden des Ortes.
11
Nachdem die Leute, die in der Amtsstube versammelt waren, eine Weile geraucht hatten, fragte der Secretario: »Que puedo hacerle para Ustedes? Was kann ich für Sie tun?«
Trat einer der Indianer vor. Er hieß Tomas und war zum Sprecher der Abordnung bestimmt worden.
»Wir haben gehört, dass ein Decreto der Regierung für unsere Comarca, das Wohngebiet unserer Nation, erlassen worden sei.« »Das ist richtig«, sagte Don Abelardo, der Sekretär. »Wir haben ein Recht zu wissen, was dieser Decreto sagt.«
»Dieses Recht haben Sie«, antwortete der Sekretär. »Der Decreto des Gouverneurs in Tullum bestimmt, dass dieses Wahlsystem, das in Ihrer Nation in Gebrauch ist, außer Kraft gesetzt wurde.«
»Weder der Gouverneur«, sagte darauf Tomas, »noch die Federalregierung der Republik Mexiko kann unser Wahlsystem, das für unsere Comarca gilt, beseitigen, ohne vorher unsere Zustimmung einzuholen. Unsere Sitten und Gebräuche gelten für uns allein. Wir zwingen weder die Ladinos noch irgendeine indianische Nation im Lande, unsere Sitten und Gebräuche anzunehmen. Aus diesem Grunde gestehen wir niemand, auch wenn es der Präsident der Republik sein sollte, das Recht zu, uns Gebräuche aufzudrängen, deren Nützlichkeit wir nicht ausgeprobt haben und in deren Anwendung wir für unser Volk keinen Vorteil ersehen. Wir sind nicht abgeneigt, die Vorteile und Nachteile einer neuen Wahlordnung zu untersuchen und auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Aber wir können nicht und wir wollen nicht zugestehen, dass die Regierung in unsere Rechte eingreift, die nur auf unsere Comarca sich beziehen.«
Tomas sprach das nicht alles in einem Zuge und geläufig herunter. Er sagte das langsam und sehr bedacht. Er sprach in einem holprigen Spanisch. Zuweilen sagte er immer erst den Satz in Indianisch, um sich den Gedanken, den er ausdrücken wollte, selbst klarzumachen und um seine Genossen in der Abordnung, von denen nur zwei Spanisch sprachen, hören zu lassen, was er sage. Der Sekretär verstand ein wenig das Indianisch, das in Pebvil gesprochen wurde, wenngleich er es selbst nur schwerfällig sprechen konnte.
Er saß hinter dem Tisch, die Beine übereinander geschlagen, und hörte ruhig zu. Jetzt zündete er sich eine neue Zigarette an und bot den Tabak herum, aber keiner der Männer nahm davon. »Das ist ein Decreto der Regierung«, sagte er endlich, »ich kann nichts dagegen tun. Ich habe den Decreto nicht verfügt.« Die Männer wussten aus langer Erfahrung, dass keine Bestimmung, am allerwenigsten ein Decreto in Bezug auf eine indianische Nation, erlassen wird, ohne dass der Secretario in jener Nation um seinen Rat und um sein Gutachten befragt wird. Der Secretario ist die Mittelsperson zwischen der indianischen Nation, wo er als Sekretär eingesetzt ist, und der Regierung. Irgendeine Bestimmung, die der Sekretär, der in der indianischen Nation lebt, deren Sitten und Gebräuche sowie deren Eigenheiten, Neigungen und Abneigungen kennt, nicht befürwortet oder gar davor warnt, wird selten, wohl nie erlassen.
Und weil das den Männern bekannt war, so nahmen sie die Worte des Secretarios für das, was sie wert waren. Sie sagten nicht, dass er einen solchen Decreto wohl hätte verhindern können, wenn er gewollt hätte. Sie übten keinerlei Kritik an seinen Handlungen oder an denen der Regierung. Tomas, der Sprecher, sagte nun: »Wir sind gekommen, Ihnen zu sagen, dass wir den Decreto nicht anerkennen und dass wir ihn als nicht bestehend für uns betrachten. Wir wählen unsere Jefes, wie wir es bisher getan haben. Und für unsere Nation ist nur der Mann Jefe, den wir erwählt haben. Mit einem Jefe, den wir nicht erwählt haben oder der außer Amtes für uns ist, verhandeln wir nicht. Ob Sie oder die Regierung etwas mit unserer Nation oder in unserer Nation erreichen können mit Hilfe eines Mannes, den wir nicht als unseren Jefe anerkennen, das werden Sie wohl bald erfahren, Don Abelardo.«
»Der Decreto ist keineswegs gegen den Vorteil der großen und edlen Nation in Pebvil gerichtet«, sagte der Sekretär. »Amalio ist ein vorzüglicher Jefe. Er hat im Zusammenarbeiten mit mir hier im Cabildo viel erfahren und gelernt. Ein neuer Jefe muss wieder von neuem lernen, ehe er alles versteht, was von wirklichem Nutzen für euch sein kann.«
Darauf erwiderte Tomas: »Ob Amalio ein guter oder ein schlechter Jefe für uns ist, das zu entscheiden ist nicht unsere Aufgabe, und darum sind wir auch nicht hier. Angenommen, er ist ein vorzüglicher Jefe, der beste, den wir seit Jahrzehnten gehabt haben. Das aber ist kein Grund für uns, unsere uralten Gebräuche in einem Tage, und nur zu seinen Gunsten, zu ändern. Es kann leicht geschehen, dass ein nächster Jefe nicht so gut ist wie Amalio, und wir könnten ihn dann nicht loswerden, wenn wir ihn loswerden möchten.«
»Die Republik ist tausendmal größer als Pebvil«, sagte Don Abelardo. »Und in dieser großen Republik ist Don Porfirio nun schon seit zweiunddreißig Jahren Jefe. Er ist wieder und wieder aufs neue gewählt worden. Das hat sich sehr gut bewährt. Mit jedem Jahre wurde er reicher an Erfahrungen, und er konnte diese Erfahrungen zum Wohl der Republik anwenden. Auch der Gouverneur dieses Staates, wie die Gouverneure in den übrigen Staaten der föderierten Staaten von Mexiko, wird immer wieder und wieder gewählt.«
Tomas wartete höflich eine Weile, um dem Sekretär Gelegenheit zu geben, noch etwas hinzuzusetzen.
Als aber Don Abelardo schwieg, sagte der Indianer: »Das ist gewiss recht gut und auch recht notwendig für die Ladinos. Aber darum braucht es noch lange nicht gut genug zu sein für uns, die wir Tsotsiles sind. Auch wir haben Jahrtausende gelebt, und wir sind nicht untergegangen, obwohl wir andere Gebräuche, andere Regierungssysteme hatten als die Ladinos. Und weil wir Jahrtausende unter unsern Gebräuchen leben und gedeihen konnten, ohne die Ladinos zu gebrauchen und ohne deren Rat einzuholen und ohne deren Sitten anzunehmen und ohne sie in unser Land zu rufen, darum sind wir sicher, dass unsere Gebräuche nicht schlechter sind als die der Ladinos. Wir haben Jahrtausende so gelebt, wie wir es für uns für gut und richtig hielten, und wir haben darum die Überzeugung gewonnen, dass wir unter unseren Systemen und Sitten weitere Jahrtausende leben können, ohne zu verderben und ohne unterzugehen. Wir haben erkannt, durch eine unendlich lange Erfahrung, dass es unserem Volke von Segen ist, in jedem Jahr einen neuen Jefe zu wählen, in jedem Jahr den Kandidaten für den Jefe aus einem anderen Barrio zu holen und niemals einen Mann, der einmal Jefe war, wieder zu wählen. Stünden wir in einem langen Kriege, wo wir den erfahrensten Krieger als Jefe brauchten, oder wären wir auf einer langen Volkswanderung nach neuen Regionen, dann möchte es sich wohl vielleicht empfehlen, den erfahrensten Mann länger im Amte zu lassen. Aber wir haben es in den Traditionen unseres Volkes, dass wir selbst in außerordentlichen Zeiten unsere Wahlordnung nie geändert haben. Niemals in unserer langen Geschichte ist ein Jefe länger im Amt gewesen als ein Jahr. Der neue Jefe, wenn es ihm an Erfahrung und Kenntnissen fehlte, fand jederzeit Hilfe, Rat und Beistand von früheren Häuptlingen, die mehr Erfahrung hatten als er. Denn es lebt kein Mann in unserem Volke, ob er nun Jefe ist oder nicht, ob er es war oder ob er es einst sein wird, der nicht alle seine Kenntnisse und Erfahrungen in den Dienst unserer Nation stellen wird, wenn das Volk seines Rates und seiner Hilfe bedarf. Darum haben wir nie Könige gehabt und nie Diktatoren und nie Despoten. Jeder Mann, auch der schlichteste, wenn er das Vertrauen der erwachsenen Männer seines Barrios hält oder gewinnt, kann für ein Jahr Jefe werden. Wir, und das weiß ich aus der Geschichte meines Abuelo, meines Großvaters, her, haben oft einen Jefe gehabt, der so klug und so tüchtig war, dass ein jeder im Volke es wohl gern gesehen haben würde, wenn er länger im Amte bleiben würde, um seine Pläne voll entfalten zu können. Aber meist geschah das Merkwürdige, dass der nächste Jefe noch klüger und besser war als der gewesene und der nächste wieder noch besser als der vorhergehende. Denn jeder, der folgt, hat als Volksgenosse von dem früheren gelernt, und jeder neue Jefe hat das eifrige Bestreben, den Mann, der vor ihm im Amt war und sich viel Lob verdiente, in der Arbeit und im Können zu überbieten, um sich noch größeres Lob zu verdienen. Je häufiger ein neuer Mann als Jefe gewählt werden kann, um so mehr Volksgenossen können Jefe werden. Je mehr Volksgenossen Jefe werden, um so mehr Männer lernen, wie regiert werden muss. Je mehr Männer das erfahren, um so besseren Rat können sie geben. Unser Bestreben ist, dass jeder einzelne Volksgenosse wenigstens einmal Jefe war. Dann kritisieren die Volksgenossen weniger, aber sie beraten besser. Sie bilden eine Einheit oder ein Parlament von Regenten. Männer, die einmal Jefe waren, kritisieren nicht so rasch und leichtfertig wie andere. Sie sind bessere Volksgenossen, weil sie gelernt haben, wie wichtig es ist, in notwendigen Fällen zu gehorchen, wenn etwas zum Wohl der Nation geschaffen werden soll. Jedoch das Wichtigste ist, dass jeder einzelne Mensch wenigstens eine Idee mit auf die Welt bringt, die wahrscheinlich kein anderer Mensch vor ihm gehabt hat. So bringt jeder neue Jefe in die Verwaltung unseres Volkes eine Idee, die ausgeprobt werden kann und von der es sich nun zeigen mag, ob sie nützlich oder schädlich ist. Jeder Mensch glaubt, dass er alles besser machen könnte als ein anderer, wenn er einmal im Amte sein dürfte. Wir geben allen unseren Volksgenossen diese Gelegenheit, zu zeigen, ob sie es besser machen können.
Jeder, der aus dem Amt zurücktritt, hat dann gelernt, wenn er es nicht schon vorher gewusst haben sollte, dass Mais gekocht oder geröstet werden muss, wenn man ihn essen und verdauen will. Das ist alles, was ich zu sagen im Auftrage meines Volkes hier hergekommen bin. Wir kritisieren nicht die Regierungssysteme der Ladinos. Aber wir geben niemand auf Erden, der nicht unseres Volkes ist, das Recht, unsere Sitten und Gebräuche nach seinem Gutdünken abzuändern. Wenn die Regierung uns zu überzeugen vermag, dass unser System uns zum Schaden ist, dann wollen wir überlegen und beraten und endlich tun, was wir für das Beste halten. Der große Nachteil, der in jenem System liegt, das die Regierung für uns anzuordnen gedenkt, ist der: Wenn ein Mann, der zum Jefe gewählt wurde, das Vertrauen seiner Wähler täuscht und nicht das ist, was das Volk von ihm erwartete, so kann er aus dem Amte nicht oder nur schwer entfernt werden. Ist er sogar ein Schurke, dem eigene Vorteile mehr gelten als die des Volkes, oder ein Mann, der eitel ist, herrschsüchtig, egoistisch, ruhmsüchtig, so wird er versuchen, durch Intrigen und durch Vergiftung der Volksmeinung im Amte zu bleiben. Das muss zu Korruption führen, zu Unfrieden und zu Rebellionen innerhalb des Volkes. Wir aber wollen in Frieden leben, unter uns und mit allen unseren Nachbarn, weil wir in Jahrtausenden gelernt haben, dass nur Friede und Eintracht den Menschen gedeihlich sind.«
12
Es ist nicht anzunehmen, dass der Sekretär verstand, was der Indianer sagte und was er wohl meinte. Zum Teil lag es daran, dass er nicht ganz hinhörte. Für ihn bestand der Decreto, und für ihn hatten die verlausten Indianer keine Berechtigung, den Decreto zu kritisieren. Sie waren Untertanen ohne Einfluss. Darum hatten sie zu gehorchen und das zu tun, was die Diktatur ihnen zu befehlen für gut hielt. Zum Teil lag sein Nichtverstehen der Rede des Wortführers darin, dass der Indianer von einer Welt und von einer Lebensanschauung sprach, die ihm, dem Sekretär, so fern lagen wie die Noten der Signale, die zum Jüngsten Gericht aufrufen. Aber eines verstand der Sekretär. Tomas hatte seine Rede sehr klug aufgebaut. Den Punkt, auf den es in diesem besonderen Falle ankam und der von dem Secretario als Anlass gebraucht worden war, jenen Decreto zu erreichen, hatte Tomas geschickt und wohlüberlegt an das Ende seiner Rede gesetzt.
Amalio, der gegenwärtige Jefe, war in jener Schlusswendung nicht mit Namen erwähnt worden. Jedoch Don Abelardo hatte sofort verstanden, wer gemeint war. Und so gut durchdacht war das von Tomas gesprochen worden, dass jene Schlusswendung voll war von erbarmungslosen Hieben auf den Sekretär, ohne dass er hätte sagen können, er wäre beleidigt worden oder man habe ihn beschuldigt, die indianische Nation zu korrumpieren und zu spalten, um daraus persönliche Vorteile zu erzielen.
Er sah sich außerstande, die Rede zu erwidern. Er hätte nicht gewusst, wo er hätte ansetzen können. Die Rede des Indianers war gepanzert mit jenen tausend oder zehntausend Jahren, in denen die Nation, wahrscheinlich durch dauernde Zerwürfnisse innerhalb der Volksgenossen, die das Volk zu zerstören drohten, gelernt hatte, dieses Regierungssystem auszuarbeiten und anzuwenden. Gegen Erfolge, die in tausend Jahren Erfahrung wurzeln, lässt sich mit bloßem Reden nicht ankämpfen. Ohne auch nur den Versuch zu wagen, ob er nicht Einwände finden könnte, weil er sicher war, dass der Indianer ihn schlagen würde, sagte er nur: »Decreto ist Decreto, Tomas. Ihr habt diesem Decreto zu folgen. Das können Sie Ihren Leuten berichten. Amalio bleibt Jefe für das nächste Jahr. Und ob er noch weitere Jahre Jefe bleiben wird, das wird ein neuer Decreto anordnen, sobald die Zeit dafür gekommen ist.«
»Ich werde das getreulich an die Männer von Pebvil berichten«, sagte Tomas ruhig. »Ich habe weder Amt noch Auftrag, Ihnen, Don Abelardo, auf diese Ihre Antwort zu erwidern.« Er ging näher zum Tisch. Der Sekretär war aufgestanden, kam um den Tisch herum und trat ein wenig auf Tomas zu. Tomas berührte die Fingerspitzen der Hand, die ihm der Sekretär hinhielt, sagte: »Adios, Señor!«, verbeugte sich und verließ die Amtsstube. Die übrigen Männer der Abordnung verabschiedeten sich gleichfalls und folgten ihrem Wortführer. Im Portico nahmen sie ihre Machetes auf, warfen die Schrotflinten über die Schulter und marschierten ab. Sie redeten nicht miteinander.
13
Die ganze Nation wusste, dass die Abordnung beim Secretario war. Aber auch nicht ein einziger Mann aus dem Zentralort, an dessen Maguey-Einfriedigung die Abordnung jetzt entlangging, um heim nach ihrem Barrio zu wandern, kam herbei, um zu fragen, was das Ergebnis der Unterredung mit dem Secretario gezeitigt habe. Man hätte vielleicht glauben mögen, das wäre mangelndes Interesse der Indianer gewesen.
Aber in einem Falle wie diesem kennt der Indianer weder lebhaftes noch mangelndes Interesse. Er kennt in dieser Frage überhaupt kein Interesse.
Was geschieht und was zu geschehen hat, das weiß er; mehr braucht er nicht zu wissen.
Denn jedes Mitglied der Nation wusste, lange bevor jene Abordnung bestimmt wurde, dass die Verhandlung mit dem Secretario in Wahrheit keine Verhandlung ist, kein Versuch, einen Kompromiss zu schließen, kein parlamentarisches Ausgleichen der Parteien. Die Verhandlung mit dem Sekretär war die letzte Warnung. Nichts weiter.
Jedoch eine Kriegserklärung war es nicht. Die Nation wollte weder mit der Regierung noch mit den Ladinos Krieg führen. Sie waren nicht so dumm, mit Machetes und Schrotflinten gegen Maschinengewehre und Gebirgsartillerie anzurücken. Es sind zivilisierte Völker, die Krieg führen, um je zwei Millionen ihrer besten Männer zu verlieren und sich hundert Jahre für die Schulden zu versklaven.
Die unzivilisierten Indianer, die nicht lesen und schreiben konnten, die man darum also auch nicht so leicht zu Dummheiten verführen vermochte, dachten gar nicht daran, ihr Volk in eine so große Gefahr zu bringen und die Blüte und den Reichtum ihres Volkes zu vergeuden, wie das zivilisierte Völker tun. Sie waren ein Volk von Regenten, hatten weder ein Kriegsministerium, noch hatten sie Stahlkompanien oder Munitionsfabrikanten.
Und weil sie ein Volk von Regenten waren, reich an Männern, die in kurzer Regentschaft gelernt hatten, guten Rat geben und brauchbaren Rat richtig beurteilen zu können, sobald er hörbar wird, konnten sie nicht von einer Horde wild gewordener Schreier durcheinander gehetzt werden, um endlich alle in dieselbe Falle zu gehen.
Sie handelten wie barbarische Indianer. Aber sie handelten richtig, erfolgreich und unwiderruflich. Und pünktlich.
14
Der erste Januar war gekommen.
Die dichten Nebel des Morgens lagen noch schwer über der Erde, die im Tau badete.
Als der Tag auf Pebvil herunterfiel, die Nebel sich widerwillig trennten, lösten und verwehten, die Sonne wie in einem Sprung auf dem Rücken der Berge erschien, füllte sich der weite Platz in Pebvil mit Tausenden und Tausenden von Indianern. Die Massen waren so plötzlich da, als hätten sie während der Nacht irgendwo versteckt gelegen und als hätten sie nur auf den Sekundenschlag gewartet, an dem der erste Glimmer der Sonne auf einer Bergesspitze hervorflickerte, um den Platz zu füllen, so rasch und so dicht, dass man glauben mochte, diese Tausende von Menschen hätten zwischen den Grashalmen und in den natürlichen Furchen des Erdbodens gelegen und seien nun aufgestanden mit einem Ruck.
Ein Gewimmel war auf dem Platze, wie es nur während des wichtigsten Jahresfestes der Nation zu sein pflegte. Männer, Frauen, Kinder und Hunde in dicht gedrängten Gruppen und in weiten Versammlungen. Alle waren in fröhlichster Stimmung. Da war Lachen, Schreien, Schwatzen, Rufen, Singen, Musizieren über den ganzen weiten Platz hinweg. Einige Sippen trugen lange Stäbe mit bunten Federbüschen oben, die sie gleich Bannern inmitten ihrer Gruppe aufpflanzten. Andere Sippen waren mit Fahnen gekommen, auf die der heilige Antonio oder die Heilige Jungfrau schlecht und recht genäht waren. Zwischen den Massen sah man überall die Capitanes mit ihren Hüten, an denen lange vielfarbige Seidenbänder flatterten, als Zeichen ihrer Würde. Auch die so genannten Capitanes wurden von jeder Sippe in jedem Jahr neu gewählt. Sie waren die Abgeordneten ihrer Sippe oder Gruppe, die ihre Sippe bei den großen
Beratungen, denen der Jefe der Nation präsidierte, vertraten. Hier bei dieser Zusammenkunft der ganzen Nation zu einer außerordentlichen Gelegenheit waren sie die Führer und Ordner ihrer Gruppen. So stand jede Gruppe in jeder Minute stets mit dem Zentralrat der ganzen Nation in Verbindung. Alle Capitanes hatten in der letzten entscheidenden Ratsversammlung ihre Anordnungen erhalten, was sie mit ihren Gruppen bei bestimmten Vorgängen und zu bestimmten Zeiten tun sollten, und wie und wohin sie ihre Sippen zu führen hatten, sobald bestimmte Signale vom Zentralrat aus gegeben wurden.
Don Abelardo, el Secretario, war höchst erstaunt, so früh am Morgen die ganze Nation auf dem Platze vor dem Cabildo versammelt zu sehen. Er konnte es sich nicht erklären. Es war kein Markttag und auch kein Heiligentag für irgendeinen der vier Barrios. Er war noch nicht zwei volle Jahre hier, und er kannte nicht alle Feste und Veranlassungen für Versammlungen der Nation. Darum beruhigte er sich vorerst. Dann fiel ihm ein, dass der heutige Tag der erste Januar sei. Und er glaubte, die Nation sei gekommen, um Neujahr zu feiern. Dass die Indianer Neujahr nicht feierten, war ihm unbekannt. Aber er hatte nun eine Erklärung und ging frühstücken.
Etwas später trat er dann wieder in den Portico und fragte einige Indianer, die da in der Nähe standen und miteinander redeten, was der Zweck jener Massenversammlung sei. Die Gefragten waren merkwürdig rasch mit ihrer Antwort. Sie sagten, sie seien gekommen, weil heute der erste Januar sei. Damit gab sich Don Abelardo zufrieden.
15
Er schickte Polizisten, Indianer, die in Pebvil wohnten, auf den Platz, damit sie auf Ordnung sehen sollten.
Während er noch herumstand und überlegte, was er nun weiter tun könne, um sehen und fühlen zu lassen, dass er hier die Autorität sei, begannen die Glocken der Kirche zu läuten.
Er sah hinüber zur Kirche und bemerkte, dass der niedrige Glockenturm mit einer Schar von Jungen besetzt war, die unter Schreien, Johlen und Kreischen die Räder der Glockengestelle wild herumschwangen.
Da kam aus dem Busch im Osten des Ortes eine Schar von Indianern mit lustiger Musik anmarschiert. Sie hatten Trommeln, Pauken, Flöten, Gitarren und Geigen und spielten Tänze. Die Leute trugen Stäbe mit Blumen und bunten Federn; die Kirchenfahnen ihres Barrios wurden von einigen Burschen, die sich würdig zu benehmen versuchten, vorangetragen. An den Fahnen erkannte der Sekretär, dass es der Barrio San Miguel war, der da in geschlossener Marschordnung angerückt kam.
Sobald die Massen auf dem Platze die Musik des anmarschierenden Barrios hörten, bemächtigte sich ihrer eine unglaubliche Erregung. Sie schrieen hinüber zu den Ankommenden, und junge Burschen in großer Anzahl stürmten ihnen entgegen, um die Marschierenden bei dem Einmarsch auf den Platz zu begleiten. In der einmarschierenden Schar erblickte man, dicht hinter den Fahnen, die Capitanes der Sippen des Barrio. Und zwischen jenen Capitanes marschierte Navidad, der Mann, den der Barrio San Miguel zum Jefe gewählt hatte.
Navidad trug seinen Hut ohne Bänder, weil die Bänder aufzustecken eine Handlung in der Zeremonie der Amtseinsetzung war. Aber er trug über der Brust zwei bunte Schärpen, die ihn von den übrigen Männern als Erwählten auszeichneten. Die Kolonne hatte kaum den äußeren Rand des Platzes erreicht, als Amalio, der Jefe, der im Amte war und laut Decreto im Amt bleiben sollte, in stürmendem Lauf auf den Cabildo zugerannt kam, die Tür der Amtsstube aufstieß und dem Secretario zurief: »Sie kommen, sie kommen, sie werden mich töten.«
»Unsinn, que loco«, sagte Don Abelardo, »niemand wird Sie töten, Don Amalio. Die Regierung schützt Sie.« Als der Sekretär das sagte, schien er aber doch nicht so ruhig und vertrauensvoll zu sein, wie er in seinen Worten auszudrücken versuchte. Er war bleich geworden, rückte seinen Revolvergurt herum, so dass der Revolver weiter nach vorn kam und gegen den vorderen Hüftknochen lehnte. Er sah an sich herunter und überzählte rasch die Revolverpatronen, die in seinem Gurt steckten. Er beruhigte sich ein wenig, als er fand, dass der Gurt bis zur letzten Öse voll gespickt mit fünfundvierziger Patronen war, alle Kerne abgeflacht und mit einer Feile eingekerbt. Die Abflachung der Kerne hatte den Zweck, jeden Schuss, der auf einen Knochen stieß, verheerend für den Getroffenen zu gestalten, während die eingefeilten Rinnen auf der Abflachung dazu dienten, dass sich in jenen Rinnen Schmutz und Mikroben ansammeln sollten, die selbst eine leichte Fleischwunde durch Infektion tödlich werden ließen. Darum trug er alle seine Patronen stets im Gürtel, damit sich jeglicher Unrat darin festsetzen konnte.
Als der indianische Cacique jetzt so hereingestürmt kam, mit einem Ausdruck des Schreckens auf dem Gesicht, wie er bei einem Indianer selten war, wusste Don Abelardo, warum diese Tausende von Indianern sich hier am Ort versammelten. Jedoch den vollen Ernst der Situation erkannte er nicht. Als Sekretär und als Bevollmächtigter der Regierung glaubte er sich stark genug, die drohende Lage allein kraft seiner Autorität besänftigen zu können.
16
Amalio jedoch, der wohl den Ernst der Vorgänge auf dem Platze richtiger beurteilte als der Sekretär, weil er ja die Sitten seines Volkes kannte, fühlte sich nicht sicher genug in der Amtsstube. Er trat in den Portico und sah sich um, wie er entschlüpfen könnte. Aber in einem weiten Halbkreise standen und lagen die Massen der Indianer gleich einer undurchbrechbaren Mauer. Sie lagen noch reichlich weit von dem Cabildo entfernt, weit genug, dass Amalio die einzelnen Gesichter der Männer nicht erkennen konnte. Aber ohne dass er die Mienen der Männer infolge der Entfernung zu lesen vermochte, fühlte er die Unerbittlichkeit der Masse gegen sich gerichtet. Ihm war, als habe die ganze Menge nur ein einziges Auge, und als sei dieses einzige Auge nur auf ihn gelenkt, unwiderruflich in der Entscheidung und ohne irgendein Erbarmen.
Da kam Don Abelardo in die Tür und sagte: »Don Amalio, haben Sie nur keine Furcht. Laut Decreto der Regierung und auf besonderen Befehl der Regierung haben Sie im Amt zu bleiben. Ich Telefoniere jetzt zur Garnison, dass man sofort eine Eskadron Kavallerie schickt mit Maschinengewehren. Gehen Sie oben in das Schulzimmer, da sind Sie sicherer als hier unten. Inzwischen kommen die Soldaten.«
Gegen den Befehl der Regierung durfte sich der Cacique nicht auflehnen. Das wäre ihm als Ungehorsam gegen die Regierung ausgelegt worden, und er wäre vielleicht für Jahre hinaus ins Gefängnis geraten. Es hätte böser noch ausfallen können dadurch, dass ein Richter seinen Ungehorsam gegen einen besonderen Decreto des Gouverneurs als versuchte Rebellion und Auflehnung gegen die Staatsgewalt beurteilte und man ihn füsilierte. Die Gelegenheit, abzudanken am selben Tage, als der
Decreto eintraf, mit der Begründung, dass er sich nicht länger fähig fühle, das Amt zu versehen, war von ihm verpasst worden!
Aber abgesehen von dem Befehl der Regierung, verbot ihm die Hartnäckigkeit seines indianischen Charakters und seine Ehre als Mann, im Augenblick drohender Gefahren nachzugeben und sich als besiegt zu erklären. Er wäre durch ein solches Verhalten so unter seiner Sippe und in der Nation entehrt worden, dass er die Nation hätte verlassen müssen, falls er es nicht vorzöge, in den Dschungel zu gehen und dort freiwillig zu verhungern oder sich von Tigerkatzen zerfleischen zu lassen.
Aus der Lage, in der er sich jetzt befand, gab es kein Entweichen. Es gab nur einen Ausweg: die Vorgänge hinzuzögern, bis die Soldaten kämen, ihn zu schützen.
17
Im oberen Stockwerk des Cabildo befand sich an der einen Seite der Schulraum und an der anderen Seite ein Raum, der durchreisenden Beamten und Händlern als Hotelraum diente. Von der östlichen Seite des Hauses führte außen eine hölzerne Treppe zu dem oberen Stockwerk hinauf. Das obere Stockwerk hatte rund um das Haus eine offene Veranda. Weder der Schulraum noch der Hotelraum hatten Fenster, das Licht zu diesen Räumen kam durch die offene Tür.
Amalio verließ den Portico, ging um die Ecke des Hauses zur Treppe und stieg hinauf zu dem Schulraum, gesehen von den Tausenden, die auf dem Platze lagen.
Es mochte wohl sein, dass die Frau des Amalio gleichfalls von ferne sah, wie ihr Mann die Treppe hinaufging. Instinktiv fühlte sie, dass er darum in das obere Stockwerk gegangen sei, weil er sich unten nicht mehr sicher fühlte. Daraus erkannte die Frau, dass dies wohl die letzte Handlung ihres Gatten sei, die er noch freiwillig tun konnte.
Sie lief zur Hütte, nahm einen Krug mit Wasser, einen Topf mit Tamales, einen Ballen Frijoles, eingewickelt in Bananenblätter, rief ihre fünf Kinder herbei und eilte hinüber zum Cabildo. Ohne mit dem Sekretär, der am Telefon arbeitete, um Antwort zu bekommen, ein Wort zu reden, lief sie gleich zur Treppe, jagte ihre Kinder vor sich her auf der Treppe, zog das Tuch, in dem sie auf dem Rücken ihren Säugling trug, fest über der Brust zusammen, packte die Krüge und Esswaren, die sie für einen Augenblick auf der untersten Stufe abgelegt hatte, weil das Tuch über der Brust sich des raschen Laufens wegen löste, zwischen ihre Arme und folgte den Kindern hinauf zum Schulraum. Niemand unter den Tausenden, durch die sich die Frau mit ihren Kindern hatte drängen müssen, sprach zu ihr.
Niemand versuchte sie aufzuhalten in ihrem Lauf. Es bildete sich, als sie auf die Massen stieß, sofort eine Gasse. Ob die Gasse darum so schnell gebildet wurde, weil niemand sie berühren wollte, oder ob die Gasse darum so rasch sich formte, weil man der Frau die Flucht erleichtern wollte, konnte sie freilich nicht wissen, nicht einmal das Richtige vermuten.
18
Die Kolonne, mit dem erwählten neuen Häuptling in ihrer Mitte, war unterdessen fröhlich und guten Mutes weiter voranmarschiert, geradewegs auf den Cabildo zu.
Die Gruppe zog ihres Weges unbekümmert, als wüsste keiner von ihnen, was sich im Cabildo zutrug. Alles, was bisher über den Decreto und über das Verbleiben Amalios im Amte geredet worden war, schien, nach dem Verhalten dieser Kolonne zu urteilen, niemand für ernst zu nehmen. Sie handelten, als gäbe es keinen Decreto. Sie gingen voran, wie seit Hunderten von Jahren die Gruppe, die den neuen Häuptling in das Amt einsetzte, vorangegangen war. Sie handelten ihren alten ausgeprobten Sitten gehorchend. Und weil sie in ihrem Tun nichts erblicken oder erdenken konnten, was irgendjemandem, ob er nun zu dieser Nation gehörte oder zu einer anderen oder gar zu einer anderen Rasse, von Schaden sein konnte, so hätte sie niemand davon überzeugen können, dass sie eine Rebellion oder ein Verbrechen oder eine ungesetzliche Handlung begingen. Sie mischten sich nicht in die politischen Sitten und Gebräuche der Ladinos und vermochten darum nicht einzusehen, dass sie Rebellion begingen, wenn sie den Ladinos nicht erlaubten, sich in ihre politischen Gebräuche zu mischen und ihnen zu gestatten, ihre uralten Wahlmethoden aus reiner Laune heraus durch Gewalt abzuändern.
Ohne dass ein Signal geblasen worden wäre, ohne dass eine Fahne geschwenkt wurde, hörte plötzlich, wie mit einem Ruck, das Gesumme, das Gelärme, das Kreischen und Musizieren der Zehntausende von versammelten Indianern auf. Ein angstvolles, drückendes Schweigen erfüllte den Platz. Man hörte nur hin und wieder einen Säugling krächzen, der aber, kaum begonnen, in das allgemeine Schweigen einfiel, beruhigt von seiner Mutter.
Es versuchten einige Hunde zu bellen. Aber sie brachen mit einem kurzen Winseln ab, weil sie offenbar von ihrem Herrn einen Beruhigungstritt erhalten hatten.
Nur die Kolonne mit dem neuen Häuptling in ihrer Mitte blieb munter.
Sie marschierte ununterbrochen voran, auf ihr Ziel zu. In dieser Kolonne wurde musiziert, halb gesungen, fröhlich gelärmt. Hier wurden die Fahnen, einige in mexikanischen Farben mit dem aztekischen Adler darauf, andere mit Muttergottesbildern und Heiligenbildern aufgenäht, lustig und unter zurufenden Schreien hin und her geschwenkt. Der Kolonne vorauf und an den Seiten waren Männer mit grünen Schärpen, die nicht marschierten, sondern in einem halben Tanz umherhüpften, gestikulierten und dazu in monotoner Weise sangen. Einige dieser Tänzer trugen grimmige Masken vor ihren Gesichtern. Masken mit dem Gesicht eines Tigers, andere mit dem Gesicht von Dämonen, mit großen Ochsenhörnern oben aufgesteckt. Diese Ordner des Zuges trugen Peitschen, die sie, scheinbar wütend, durch die Luft zwitschten.
Die gelagerten Massen bildeten, ohne von den Ordnern dazu aufgerufen zu werden, eine ungemein weite Gasse, um der Kolonne den Weg ungehindert freizugeben.
19
Es war Sitte, dass die Amtsübergabe im vorderen Portico des Cabildo vor sich ging; in jenem Portico, von dem aus man in die Amtsstube gelangte.
Ein Sekretär hatte freilich in dieser Amtsübergabe, die eine ureigene Angelegenheit der Indianer war, weder Wort noch Handlung. Er war nur Zuschauer. Seine ganze Tätigkeit bestand darin, dass er, nachdem die Amtsübergabe vorüber war, den Namen des neu gewählten Jefe feststellte und diesen Namen der Regierung berichtete, damit sie die formelle Bestätigung geben konnte. Diesmal jedoch zog die Kolonne nicht auf den vorderen Portico zu, sondern sie marschierte gegen jene Seite des Cabildo, wo sich die Treppe zu dem Schulraum befand.
In den Massen der Indianer, die auf dem weit ausgedehnten Platze lagerten, machte sich nun eine Bewegung bemerkbar. Ein großer Teil jener Menge hatte gegenüber dem vorderen Portico gelagert. Diese Menschen zogen nun im Rücken der Massen hinüber auf die östliche Seite des Platzes, um im Angesicht der Zeremonie zu sein. Aber diese Massen Verschiebung vollzog sich ohne Lärmen, ohne Zurufe. Und weil diese Umschichtung so schweigend vor sich ging, wurde der Eindruck, den Don Abelardo erhielt, derart bedrückend, dass er sein Sattelzeug vom Pfosten abhob mit der Absicht, zu fliehen. Er hatte alle Türen bereits fest zugezogen und mit dem Vorlegebalken verriegelt. Er ging zur Küche und sagte seiner Frau, die ihr Jüngstes auf den Knien schaukelte, dass sie sich fertigmachen möge, weil er glaube, es sei besser, dass sie sich davonmachten, solange es noch Zeit sei. Er schickte seinen zehnjährigen Jungen auf die Weide, die Pferde zu suchen und heranzubringen.
Er beobachtete währenddessen die Vorgänge auf dem Platze durch die Spalten der Türen. Er bemerkte jetzt, dass einige Indianerjungen ihre Väter darauf aufmerksam machten, dass der Junge des Sekretärs vom Hause fort und auf die Weide zurannte.
Aber die Indianer schenkten dieser Neuheit keine Beachtung. Sie folgten nicht einmal mit dem Gesicht der Richtung, die ihre Jungen aufgeregt mit den Händen andeuteten. Daraus schloss Don Abelardo, dass niemand irgendein Interesse für ihn habe und dass seine Person und erst recht seine Familie sicher seien. Seit einer halben Stunde hatte er mehrfach versucht, in Telefonische Verbindung mit der Garnison in Jovel zu kommen. Zuweilen bekam er etwas Kontakt. Die Indianer hatten also die Telefonleitung nicht zerschnitten. Diese Tatsache bestärkte ihn in seiner Meinung, dass sie nicht in offener und feindlicher Rebellion gegen die Regierung waren.
20
Die Telefonleitungen in diesen fernen Gegenden sind in einem Zustande der Verwilderung, wo man die Frage, ob man sich in einem zivilisierten Lande befinde, nicht mehr aufwirft. Kilometerweit trifft man die Leitung auf dem Erdboden liegend an. Die Leitung wird selten an besonderen Leitungspfosten befestigt. Nur in Regionen, die reine Steppe sind, werden besondere Pfosten errichtet. Diese Pfosten sind Bäume, die abgehackt wurden im nächsten Busch. Sie sind krumm, schief, verbogen, verwachsen, wie eben Bäume im Busch wachsen. Diese Stämme werden nicht abgeschält. Das verursacht zu viel Arbeit. Sie werden eingerammt, wie sie sind. Und weil sie nicht abgeschält und petrolisiert werden, darum schlagen sie oft Wurzel und grünen. Oft fehlen Isolierglocken, oder die Glocken wurden zerschlagen. Der Draht wird dann einfach oben um den Stamm gewickelt. Weil die Pfosten so sorglos wie möglich eingerammt werden, darum fällt die Hälfte beim ersten starken Winde um, und der Draht liegt auf der Erde.
Wo die Leitung durch den Busch und durch bewaldetes Gelände zieht, da werden überhaupt keine Pfosten aufgestellt, sondern die Leitung wird einfach an den Bäumen befestigt, mit Glocken oder ohne Glocken, je nachdem, ob der Vorrat von Glocken ausreicht oder die Leitungsleger guter oder schlechter Laune sind. Bei den schweren Hurrikanen, die in den tropischen Zonen zuweilen ausbrechen, werden oft auch die dicksten Bäume entwurzelt oder ausgebrochen. Natürlich auch Bäume, an denen sich Telefonleitungen befinden; denn Hurrikane legen gewöhnlich nicht viel Wert darauf, ob die Menschen Telefon haben oder nicht. Wenn die Bäume selbst auch keine Leitungen an ihren Stämmen haben, so fallen die abbrechenden Äste und niedergehenden Bäume auf die Leitung und zerren sie auf die Erde oder auf nasses Gebüsch herunter.
Die Indianer, die ihres Weges wandern, treffen die Leitung auf der Erde liegend an. Sie könnten hier oder dort die Leitung aufnehmen und wieder an einem Baum notdürftig befestigen. Sie würden es vielleicht auch tun, aus reiner Hilfsbereitschaft. Aber wenn ein Beamter oder eine militärische Patrouille gerade des Weges kommen sollte, während ein Indianer sich an einer Leitung zu schaffen macht, so wird er, ganz gleich welche Entschuldigung er anbringt, an derselben Stelle füsiliert, weil der Verdacht besteht, dass er die Leitung zerstören wollte. Weil jeder Indianer das weiß, macht er einen großen Bogen um eine Leitung, die auf der Erde liegt. Es ziehen aber auch Farmer und Hacenderos zu Pferde des Weges entlang, gebildete Leute, die genau wissen, welchen Wert das Telefon für die Behörden und, in Fällen von Krankheit zum Herbeirufen eines Arztes, für sie persönlich hat. Aber selbst sie machen sich nie die Mühe, vom Pferde abzusteigen und die Leitung aufzuheben. Haben sie einen Burschen mit sich, dann geben sie ihm vielleicht den Auftrag, die Leitung aufzunehmen und über den nächsten grünen Busch am Wege zu legen. Meist jedoch lassen sie nicht einmal ihren Burschen anhalten, sondern sie sagen sich: »Was geht mich denn die Telefonleitung an; ich habe andere Sorgen!«
So ist es eigentlich nur seltenen Zufällen, die in sehr glücklicher Weise zusammentreffen und ineinander greifen müssen, zu danken, dass ein Sekretär ein Telefongespräch durchbekommt, wenn er es benötigt. Er bekommt die Verbindung meist nur dann, wenn die ganze Angelegenheit, die er durch Telefon zu erledigen gedachte, bereits durch einen Boten geordnet wurde. Oft sitzt der Sekretär den vollen Tag am Apparat und wartet auf den günstigen Augenblick, wenn alle Bäume und Büsche knochentrocken sind und sich keine Erdleitung bildet. Am frühen Morgen, wenn der schwere Tau auf Baum, Busch und Gras lagert, eine Telefonverbindung durchzubekommen, betrachtet der Sekretär als ein solches
Ereignis, dass er den Rest seines Lebens diesen Vorfall als das größte Wunder erzählt, das ihm je widerfahren ist. Warum jener ferne Staat unter solcher Nichtachtung der einfachsten Bauregeln einer Telefonleitung überhaupt eine Telefonleitung einrichtet und unterhält, wäre völlig unverständlich und ganz und gar unbegreiflich, würde man nicht das Leitmotiv der Melodie kennen. Der Staat wünscht als ein zivilisierter Staat angesehen zu werden. Aus diesem Grunde findet sich in der Statistik des Staates die Mitteilung, dass der Staat soundso viele tausend Kilometer Telefonleitung hat. Er besitzt wirklich diese zehntausend Kilometer Telefonleitung. Er hat sogar noch einige hundert Kilometer mehr. Aber benutzt kann diese Leitung nur dann werden, wenn es der Leitung einmal gefällt, sich benutzen zu lassen.
Don Abelardo hoffte auf den hohen Mittag, wenn aller Tau weggetrocknet ist und kein Regen fiel, dass er vielleicht in Jovel anfragen konnte, was er mit den Zehntausenden von Indianern, die auf der Plaza lagen, tun solle und tun könne.
21
Die Sonne war aufgegangen, und sie stand nun mit ihrem unteren Rande auf dem Rücken eines nahen Höhenzuges, der das Hochtal nach Osten hin abgrenzte.
Genau in diesem Augenblick war die Gruppe mit dem neuerwählten Häuptling an jener Seite des Cabildos angelangt, wo sich die Treppe befand.
Der niedere Thronsessel, mit rohgegerbten Rindfellen ausgeschlagen und mit der weiten Aushöhlung in der Mitte, wurde in einiger Entfernung vom Cabildo aufgestellt, um genügend Platz für die Zuschauer zu geben.
Ein Indianer brachte ein tönernes Öfchen herbei und fachte die Holzkohlen an.
Der Sessel, das Öfchen, wie alle anderen Dinge, die zur Zeremonie gebraucht wurden, waren in der Gruppe mitgetragen worden. Die Männer mit den Fahnen und mit den langen Stäben, an denen sich bunte Federn in dicken Büscheln befanden, stellten sich in einem Halbkreis auf.
Die Capitanes traten vor, sagten Sprüchlein auf und riefen dann Navidad, den gewählten Häuptling, auf, hervorzutreten. Navidad kam in den Halbkreis.
Die Capitanes riefen die Männer mit den Kirchenfahne n sowie die mit der Landesfahne herbei.
Navidad kniete nieder. Jeder Fahnenträger trat vor den knienden Navidad hin, schwenkte die Fahne dreimal vor ihm her. Dann ergriff Navidad einen Zipfel der Fahne und küsste sie. Die Capitanes schlugen nach jedem Kuss mit ihren Stäben drei Kreuze über das Haupt des Navidad hin und sagten dabei ein Sprüchlein her.
Wie alle Sprüchlein, die in der Zeremonie aufgesagt werden mussten, waren auch diese in indianischer Sprache. Die Sprüchlein, die man hörte, während die Kreuze über Navidad geschlagen wurden, waren katholischen Zeremonien entnommen oder wenigstens mit katholischen Gebetsformeln reichlich vermengt. Denn zwischen den indianischen Worten hörte man die Worte Maria, Ave, Pro nobis und einige andere hebräische und lateinische Sprachfetzen heraus.
Nun trat der Capitan Primero, der eigentliche Zeremonienmeister, auf.
Er trug zwei Schärpen über der Brust, und er hatte bunte Seidenbänder an seinem Hut. In der rechten Hand hielt er einen langen Stab, an dem sich oben ein dicker Busch aus langen bunten Federn befand.
In einem Spruch, den er in einem singenden Tonfall heruntersagte, rief er Amalio, den gegenwärtigen Häuptling, auf, herauszutreten, um begrüßt zu werden, den neuen Häuptling zu begrüßen und ihm den Amtsstab zu übergeben.
Es verlangte die Sitte, dass, noch während der Spruch gesagt wurde, der scheidende Häuptling erscheinen musste, mit dem Amtsstab in seiner rechten Hand. War der Spruch zu Ende, dann hatte der scheidende Häuptling zu antworten. Er begrüßte, gleichfalls in Sprüchen, den Ersten Capitan, dann die übrigen Capitanes und endlich alle Männer, denen er dankte für die Ehre, die sie ihm angetan hätten, ihn in einer so wichtigen Angelegenheit zu besuchen.
Darauf begrüßte er den neuen Häuptling und sagte, dass er sich hochgeehrt fühle, sein Amt einem so würdigen Nachfolger, dessen Ehrsamkeit, dessen Weisheit, dessen Tapferkeit und dessen reiche Lebenserfahrung jedem Manne in jedem Barrio der edlen Nation wohlbekannt sei, übergeben zu dürfen. Er setzte hinzu, dass er mit seinen schwachen menschlichen Kräften nicht fähig gewesen wäre, alles das zu erfüllen, was die Nation von ihm erwartet habe, obgleich er sich die größte Mühe gegeben habe, allezeit gerecht zu jedem zu sein; aber er hoffe, dass sein so würdiger und angesehener Nachfolger das Amt, das er nun niederlege nach den Sitten seines Volkes, um vieles besser und erfolgreicher werde verwalten können, als er es habe tun können.
Nachdem das gesagt worden war, hatte der neue Häuptling vorzutreten und vor dem scheidenden Jefe niederzuknien. Der scheidende Häuptling schlug mit dem Amtsstab dreimal das Kreuz über das Haupt des neuen Jefe, dann reichte er ihm den Stab hin, worauf der neue Jefe den Stab küsste. Daraufhin nahm der neue Jefe den Stab in die Hand, stand auf und tat an die Stelle, wo der scheidende Jefe gestanden hatte, während dieser nun die Stelle einnahm, wo der neue Jefe zuerst gestanden hatte. Dann kniete der scheidende Jefe vor dem neuen Häuptling nieder. Der neue Häuptling reichte ihm den Stab hin, und der scheidende Jefe küsste den Stab. Nun schlug der neue Jefe mit dem Stabe drei Kreuze über den scheidenden Jefe. Der stand auf, reichte dem neuen Jefe die Hand, berührte mit seinen Backen die Backen des neuen Jefe und trat darauf zurück, um aus der Zeremonie völlig auszuscheiden.
Der neue Jefe sagte seine Sprüchlein herunter, die besagten, dass er, ein schwacher und irrender Mensch, ein schweres Amt zu verwalten bekommen habe; und dass er verspreche, dieses Amt zum Wohle des Volkes auszuüben, und dass er ferner ohne Ansehen der Person zu jedem gerecht sein werde.
War das gesagt, begannen die weiteren Zeremonien der Amtseinsetzung.
22
Jedoch alle diese Zeremonien, die seit vielen Hunderten von Jahren sich an jedem Neujahrstage stets in gleicher Weise und Form zugetragen hatten, vollzogen sich diesmal nicht. Fremde Mächte, die keine andere Berührung mit diesen Menschen hier besaßen als jene kalte Annäherung, die sich auf reine politische Macht stützte, fühlten sich berufen, Sitten und Gebräuche nach eigenem Gutdünken abzuändern, um die Welt nach europäischem Muster einzurichten und ihr dadurch den Ruf zu geben, sie sei nun zivilisiert.
Nachdem der Capitan seinen Spruch aufgesagt hatte, wurden die Massen auf dem Platze zum ersten Mal wirklich erregt. Alle Männer standen auf, als ob sie einem Befehl gehorchten. Aller Augen richteten sich auf die Tür des Schulraumes oben auf der Veranda. Die Tür blieb geschlossen. Der scheidende Jefe trat nicht mit dem Amtsstab in der Hand vor, wie es seine Pflicht war. Für einen solche n Vorfall hatten die Zeremonienmeister keinen gereimten Spruch in Bereitschaft; denn ein solches Verhalten eines scheidenden Häuptlings war nie erwartet worden. Ein solcher Vorgang wäre auch nicht eingetreten, wenn das Volk seinen alten Sitten hätte treu bleiben dürfen, bis es selbst entschied, dass neuen wirtschaftlichen Verhältnissen neue Gebräuche folgen müssen. Die Capitanes gingen nun ohne jegliche Zeremonie rasch entschlossen die Treppe hinauf. Sie pochten heftig an die Tür und riefen, Amalio möge herauskommen, weil sie mit ihm zu reden hätten.
Amalio sah wohl ein, dass die Tür ihn auf keinen Fall noch länger schützen konnte. Er öffnete und kam heraus.
In schlichten und ungereimten Worten sagten ihm jetzt die Capitanes, dass sie gekommen seien, um den neuen Jefe ins Amt zu setzen, und dass sie ihn dringend ersuchten, den Amtsstab zu übergeben, wie es Sitte sei und wie es seine Pflicht gebiete. Vielleicht war Amalio nun bereit, den Stab zu übergeben und ruhig nach Hause zu gehen. Aber seine Ehre ließ es gewiss nicht zu, jetzt nachzugeben, wo die Männer drohend vor ihm standen und jeder in der Nation gesagt haben würde, er habe aus nackter schlotternder Furcht nachgegeben im Augenblick, als er erkannte, dass es ernst wurde und keine Soldaten sichtbar waren. Er erklärte, der Gouverneur habe einen Decreto erlassen, und er werde auf Grund jenes Decretos noch ein weiteres Jahr im Amte bleiben, ob es der Nation nun gefalle oder nicht. Er fügte hinzu, dass er der Regierung gehorche und nicht der Nation, und tun werde, was der Gouverneur ihm befohlen habe. Darauf antworteten die Männer, dass sie ihm zwei Stunden Zeit zum ruhigen Überlegen geben würden, aber dass sie nach zwei Stunden erwarteten, dass er sich den Sitten und Gebräuchen der Nation füge, der er sein Leben und seine Existenz verdanke und die ihn geehrt habe, dass sie ihn im vorigen Jahre zu ihrem Häuptling erwählte. Sie sagten ferner: »Was die Regierung oder der Gouverneur gegen dich oder gegen uns tun werden, wenn wir den Decreto nicht befolgen, das wollen wir erst einmal abwarten. Wenn etwas geschieht von Seiten der Regierung, dann werden wir unsere Antwort geben. Dann ist es Zeit genug. Aber jetzt und in diesem Augenblick hast du zu tun, was die Nation von dir erwartet, und das ist, dein Amt dem zu Recht erwählten neuen Jefe, dem Navidad, zu übergeben. Du magst dir alles das, was infolge deines Verrates geschehen kann und geschehen würde, in den zwei Stunden wohl überdenken. Nach zwei Stunden gibt es keine neue Bedenkzeit mehr. Dann handeln wir. Und das weißt du, übel genug, dass du es so weit gebracht hast, die Festlichkeit zu verderben. Das allein wird dir nie vergessen werden, obgleich wir bereit sind, es nur als einen Irrtum anzusehen.«
Ohne seine Erwiderung abzuwarten, stiegen die Männer die Treppe hinunter und gingen zu ihrer Gruppe. Die Gruppe lagerte sich dicht bei der Treppe.
Niemand kam neugierig herbei, um zu erfahren, was Amalio gesagt habe. Und selbst hier in der Gruppe wurde von der Unterredung nicht gesprochen. Die Männer rauchten, schwatzten und lachten. Es wurde musiziert. An vielen Stellen des Platzes wurde getanzt. Kinder jagten kreischend herum.
23
Eine Stunde mochte verflossen sein, als Amalio die Treppe herunterkam.
Die Männer der Gruppe blieben auf dem Erdboden hocken. Sie sahen nur auf, als erwarteten sie, dass er sie ansprechen würde, um mitzuteilen, dass er zu einer Entscheidung gekommen wäre. Am Fuße der Treppe blieb er stehen. Den Amtsstab hielt er in der Hand.
Er fragte, ob die Männer etwas dagegen hätten, dass er zum Secretario gehe, um mit ihm zu sprechen.
Der Capitan erklärte, er möge gehen, wohin er wolle, denn er sei durchaus frei, zu sprechen, mit wem es ihm beliebe und was ihm beliebe, sie hätten erst wieder irgendwelches Interesse an ihm nach Ablauf der gegebenen zwei Stunden. Was er in diesen zwei Stunden zu tun gedenke, sei seine Sache, und es sei auch seine Sache, sich Rat zu holen, bei wem er wolle. Aber man werde ihm nicht erlauben, den Platz zu verlassen, ohne den Amtsstab übergeben zu haben. Wenn er wolle, dann möge er den Stab hier ohne jegliche Zeremonie abgeben. Aber abgeben müsse er ihn, ehe er den Platz verlasse.
Amalio ging zur Nordseite des Cabildo und pochte an die Tür der Amtsstube, gleichzeitig rufend, dass er, Amalio, an der Tür sei, um mit dem Secretario zu sprechen.
Don Abelardo öffnete die Tür einen Spalt weit und ließ Amalio ein. »Senor Secretario«, sagte Amalio, »ich weiß nicht, was zu tun ist. Es sieht sehr ernst aus. Meinen Sie nicht, es ist besser, ich gebe nach?«
Der Sekretär wusste seit jenem Augenblick, wo sein Junge ungefährdet zur Weide hatte gehen können, um die Pferde einzubringen, dass sein Fell sicher war und dass, wenn jemand geopfert würde, nicht er es sein würde, sondern Amalio: »Don Amalio, das dürfen Sie nicht. Sie dürfen nicht nachgeben gegen diese Rebellen. Sie sind el Presidente Municipal hier. Sie sind Beamter und haben auf Ihrem Posten zu stehen. Als Beamter haben Sie dem Decreto des Gouverneurs zu folgen. Wenn sie das nicht tun, werden Sie wegen Widerstands gegen einen Befehl der Regierung füsiliert. Ich habe soeben Verbindung mit Jovel bekommen. Die Soldaten, eine Escuadron Caballeria mit drei Maschinengewehren, sind bereits auf dem Wege hierher. Haben Sie nur keine Furcht, die Regierung steht hinter Ihnen mit ihrer vollen Heeresmacht, Sie zu schützen.« Von der vollen Heeresmacht zu sprechen klang schön und schwungvoll. Es war eben so poetisch und hirnverblödend wie die abgedroschene Phrase: >Das Volk marschiert gegen den Feind.< Das schmettert nur so, wenn es in dicken Lettern quer über die erste Seite der Extrablätter fegt. Auch die standfestesten Antis gegen etwas und alles fallen gegenüber einer solchen Phrase glatt auf das Rückgrat, das zwölf Stunden vorher durch Opportunitätsgeschäfte verkautschukt wurde und darum durch einen unerwarteten Fall nicht mehr gebrochen werden kann. Auf Amalio blieb jedoch die schöne Floskel von der vollen Heeresmacht ohne jeglichen Eindruck. Er kannte die Entfernung des Ortes von der Garnison, und er kannte sein Volk. Wenn nicht innerhalb zehn Minuten die Heeresmacht hier auf der Plaza eintraf, dann war es für ihn ohne irgendeinen Unterschied, ob die volle Heeresmacht der Regierung nur aus sechs Mann und einem Sergeanten bestand oder aus einer halben Million gut gedrillter Soldaten.
Er zögerte ein wenig und gedachte zu fragen, ob er nicht in der Amtsstube mit dem Sekretär bleiben könne. Aber der Sekretär hatte längst begriffen, dass eine derartige Gastfreundschaft für ihn gefährlich werden konnte. Es kann leicht ein Hieb danebenfallen, wenn Hiebe im selben Raum ausgeteilt werden. Und wenn Hiebe in der Luft herumflitzen, dann haben sie gewöhnlich keine Zeit, lange zu überlegen, ob sie aus Versehen auf einen Sekretär heruntersausen.
Darum ließ Don Abelardo dem Jefe gar keine Gelegenheit, eine solche Gastfreundschaft nachzusuchen. Er sagte rechtzeitig: »Es ist das beste für Sie, Don Amalio, dass Sie nun wieder hinauf in die Schulstube gehen. Sie sind hier, in meiner Amtsstube, ohne Ihre Delegierten. Das möchte leicht den Verdacht erwecken, dass wir beide hier Böses gegen die Nation aushecken. So etwas würde man Ihnen sehr übel nehmen, und gegen mich könnte man eine Beschwerde einbringen unredlicher Amtsführung und ungesetzlicher Bevorzugung wegen. Gehen Sie nur ganz ruhig wieder hinauf in die Escuela. Es geschieht Ihnen nichts. Sie stehen unter dem vollen Schutz des Gouverneurs.«
Der Indianer ging zur Tür, ohne noch ein Wort zu sagen. Don Abelardo öffnete die Tür wieder einen Spalt weit, so dass sich Amalio gerade noch durchzwängen konnte. Sobald sich der Jefe hinausgequetscht hatte, zog der Sekretär die Tür rasch wieder zu und verrammelte sie heftig.
Es bewegte ihn nicht, dass er Amalio schmählich angelogen hatte. Bis jetzt hatte er noch keine Verbindung mit Jovel bekommen können, und aus diesem Grunde waren auch keine Soldaten auf dem Marsche, um die politische Laune eines habgierigen Gouverneurs mit Hilfe von Maschinengewehren zu einem Gesetz zu machen.
Die alten Sitten der indianischen Nation lagen weit außerhalb jeglichen Gesichtswinkels des Gouverneurs. Und darum glaubte er, dass ein Decreto von ihm die Sitten eines Volkes über Nacht ändern würde.
Amalio ging die Treppe wieder hinauf, ohne von irgendwem gehindert oder befragt zu werden. Niemand schien ihn zu beachten.
Die Gruppe, die unten vor der Treppe lagerte, ließ sich in keiner Weise stören. Es wurde weitergeschwatzt. Einige Burschen musizierten lustig auf Mundharmonikas und Gitarren. Man gewann den Eindruck, als ob die Massen auf dem Platze fröhlicher würden. Bei vielen Gruppen begannen die üblichen Tänze.
24
Aber dann, wie mit einem Schlage, fiel auf die Menge ein bedrückendes Schweigen. Jede Lustbarkeit war ausgelöscht. Zahlreiche Gruppen wurden rührig und packten auf. Die Kinder wurden herbeigerufen und dicht bei ihren Vätern und Müttern gehalten. Säuglinge wurden eingehüllt und den Frauen auf den Rücken gebunden. Die Männer nahmen ihre Packen auf. Jedoch alle saßen nieder. Aller Augen richteten sich nun auf den Cabildo.
Die Gruppe, die den neuerwählten Häuptling gebracht hatte, stand auf und trat einige zwanzig Schritte zurück von der Treppe. Nun traten die drei Capitanes vor und gingen auf die Treppe zu. Sie riefen von unten laut hinauf: »Amalio, die zwei Stunden sind um. Wir sind gekommen, den Amtsstab zu übernehmen, um ihn dem neuen Häuptling, Navidad, zu übergeben. Navidad ist mit Recht und nach aller Sitte von den erwachsenen Männern unseres Barrios erwählt worden. Deine Zeit ist um. Übergib den Stab.« Amalio war aus dem Schulraum getreten und stand nun an der Brüstung der Veranda. Als die Capitanes mit ihren Worten zu Ende waren, sagte er: »Der Decreto des Gobernador befiehlt mir, den Stab nicht zu übergeben, sondern ihn für ein weiteres Jahr zu behalten.«
Weder die Capitanes noch sonst irgendeiner in der Gruppe antwortete darauf.
Jedoch, als habe die ganze Volksmenge auf der Plaza jedes Wort gehört, das Amalio gesagt hatte, standen nun alle die zehntausend Männer auf. Es wäre wie eine Erlösung aus drückender Schwüle gewesen, hätten die Männer geschrieen oder gejohlt. Aber sie blieben schweigsam. Nur einige kleine Kinder winselten, und einige Hunde bellten, aufgeweckt und aufgescheucht von dem Erheben der Massen.
Und nun, nicht aus der Gruppe der Bevollmächtigten, sondern aus einer anderen Gruppe heraus, die weit hinten, am äußersten Rande der Massen, wie angeklebt an einem Zipfel der wogenden Menge, lagerte, sprangen mehrere junge Männer hervor. Sie liefen in einem gedrängten Knäuel. Darum vermochte man nicht zu zählen, wie viele es waren. Es konnten wohl sechs Mann sein, es konnten aber auch zehn sein.
Halb gleich flüchtigen Rehen, halb gleich angreifenden Pumas stürmten sie außen um die Massen der Indianer herum und auf den Cabildo zu.
Sie rannten nicht eigentlich, sondern sie jagten voran in langen springenden Sätzen. Ihre Körper lagen beinahe waagerecht zum Erdboden, während sie so dahinstürmten.
Jeder von ihnen trug einen Machete in der Hand. Im Lauf waren diese Machetes den Körpern weit voraus.
Die Männer waren barfüßig. Die Beine nackt bis zum Gesäß hinauf. Um den Oberkörper bauschten zerflickte, aber weiß gewaschene blusenartige Hemden, die an den Oberschenkeln, dicht unter dem Gesäß, aufgerafft und verknotet waren. So aufeinander gedrängt hielten sich die Läufer in ihrer Jagd, dass niemand unter den Massen das Gesicht eines einzelnen erkennen konnte. Infolge der Heftigkeit ihrer Sprünge und Sätze waren die Gesichter aller auseinandergezerrt, ihre Mäuler weit aufgerissen, und ihre Augen waren zu einem winzigen Schlitz zugekniffen, die Stirnen von dicken und dunklen Falten tiefer Erregung zerfurcht. Ihr langes schwarzes Haar flatterte ihnen dick um ihre Köpfe. Alles das veränderte ihre Gesichter so weit, dass wohl kaum eine Spur ihrer wahren Gesichter gesehen werden konnte. Es waren nur Sekunden, die sie brauchten, um von ihrer fernen Randgruppe bis zur Treppe zu gelangen.
Die Treppe nahmen sie in zwei Sprüngen. Dann befanden sie sich auf der Veranda.
Amalio, der von der Veranda aus die Massen bis zu ihren
Gruppen übersehen konnte, hatte den Aufsprung jener Männer bemerkt. Er wusste sofort, was es bedeutete.
Er flog in den Schulraum hinein, rief ein rasches Wort seiner Frau und seinen Kindern entgegen und zog die Tür fest zu. Die Tür hatte nur ein Vorlegeschloss von außen. Von innen wurde sie zugehalten von einem hölzernen Knebel, der angebracht worden war, damit Reisende, die in dem Schulraum übernachteten, die Tür auch von innen notdürftig geschlossen halten konnten. Zwei der Männer warfen sich mit ihren Schultern gegen die Tür. Die Tür sprang gleich so gewaltig auf, dass sie aus den Angeln, die aus hartem Holz bestanden, gerissen wurde. Ein entsetzlich schriller Schrei, der das bedrückende Schweigen auf der Plaza zerriss, als ob er die Luft mit einem kurzen Hieb auseinanderfetzen wollte, pfiff aus dem Schulraum heraus unter die Massen.
Der Schrei war von der Frau des Amalio gekommen. Er war das einzige Geräusch, das auf der Plaza von den Mengen aufgenommen wurde. Die Gruppe des neuen Häuptlings, die am nächsten zum Cabildo stand, hörte nur ein rasches Rumoren aus dem Schulraum und ein dumpfes kurzes Fallen von Körpern.
Für den abgehackten Bruchteil einer Sekunde stand einer der Männer an der Brüstung der Veranda, rief: »Ahoa!« und warf den Amtsstab dem Ersten Capitan so geschickt zu, dass der ihn mit den Händen auffangen konnte, ohne ihn zu Boden fallen zu lassen. Die Gruppe des neuen Häuptlings sah dies als ein Glück verheißendes Zeichen an; denn es galt als Schmach, wenn der Amtsstab eines Häuptlings irgendwo und irgendwann auf dem Erdboden lag. Der Häuptlingsstab, für den Indianer ein so würdiges, ja heiliges Symbol wie für den König eines zivilisierten Landes das Zepter, musste stets in den Händen eines Häuptlings ruhen, und wenn der Häuptling arbeitete oder sich zum Schlafe niederlegte, so musste der Amtsstab entweder auf dem kleinen Hausaltar vor dem Bilde des Heiligen niedergelegt werden, oder er musste an das Kreuz, das sich in der Hütte des
Häuptlings aufgestellt fand, mit dem Kopftuch des Indianers oder mit seinem wollenen Sash, den er während des Tages um die Hüften trug, angebunden werden. Der Mann, der gleich einer Erscheinung für einen Viertelsekundenschlag an der Brüstung gestanden hatte, war sofort wieder verschwunden.
Und nun flogen aus dem Schulraum über die Brüstung der Veranda hinweg, auf den grasigen Erdboden der Plaza hin, zuerst der abgeschnittene Kopf des Amalio, dann die Köpfe seiner Frau und seiner Kinder. Gleich hinterher folgten die zerhackten Stücke der Körper der Enthaupteten.
Das alles trug sich so rasch zu, dass es für die Massen, die ihre Augen auf den Cabildo gerichtet hielten, wie ein wüster Traum erscheinen musste. Von dem Augenblick an, wo die jagenden Indianer am Fuße der Treppe angekommen waren, bis zu jenem Moment, wo das letzte zerhackte Stück der Körper über die Brüstung im weiten Bogen geschleudert wurde, waren kaum mehr als zehn Sekunden vergangen.
Und jetzt kamen die Männer heraus. Aber es war nicht eigentlich ein Herauskommen.
Sie sprangen in einer geschlossenen Gruppe in einem Satz über die Brüstung hinweg, kollerten einige Rucke auf dem Erdboden herum, sprangen am Rande der Massen in ihren gezogenen Sätzen entlang, und ehe man sie mit den Augen erhaschen konnte, waren sie im Busch, der an jener Seite die Plaza abschloss, verschwunden.
Alle, die aus irgendeinem Grunde bisher nicht gestanden hatten, standen jetzt auf. Auch die Frauen standen nun. Einige hielten ihre Kinder hoch.
Aller Augen wandten sich dem neuen Häuptling zu. Die Capitanes hoben ihn hoch auf ihre Schultern, damit er von allen Angehörigen der Nation gesehen werden sollte. Hoch in seiner rechten Hand hielt er den Amtsstab mit dem silbernen Knopf und mit der schwarzen seidenen Troddel unter dem Knopf um den Stab gebunden. Die schwarzseidene Troddel war das Zeichen, dass der Stab nicht zu einem kleinen Pueblo oder nur zu einem kleinen Stamm gehörte, sondern zu einer großen Nation, die aus mehreren Stämmen und Barrios bestand. Als Navidad den Stab nun einige Male hin und her schwenkte, um die Männer der Nation zu grüßen, erhob sich ein einziger Jubelschrei unter den Tausenden der Männer, Frauen und Kinder. Es war der jauchzende Siegesschrei eines Volkes, das einer fremden Macht, die seine Geschicke beeinflussen wollte, Trotz geboten hatte. Der Trutzschrei des Indianers gegen die Herrschsucht und Habgier einer ihm fremden und unwillkommenen Rasse.
25
Die Menge war nun fertig zum Abmarsch, in voller Klarheit über das, was geschehen würde. Der Siegesschrei war ihre letzte allgemeine Handlung als zusammengehöriges Volk gewesen. Der Atem ihres Trutzschreies, des einzigen Nationalliedes, das sie kannten und zu singen vermochten, schwebte noch über den Massen, als auch schon die Tausende auseinanderzubröckeln begannen. Sie wurden jetzt wieder Sippen, Familien, Gruppen und Individuen. Jeder hatte seinen eigenen Weg, die einen einen sehr beschwerlichen Weg über steile Berge, die andern einen leichten Weg über Prärieland. Und jeder hatte seinen eigenen Weg allein zu gehen, um ihn unbehinderter gehen zu können, je nach seiner ureigenen Gefälligkeit und seiner eigenen Wahl und Vorliebe.
Die Massen fielen so rasch auseinander und lösten sich in Brocken und Fetzen mit solcher Eile auf, dass in weniger als einer halben Stunde nach dem jauchzenden Schrei das weite Feld so leer lag, als habe ein Wind jeden Gegenstand und jedes Menschlein in einem Zug heruntergefegt.
Nicht einmal ein Stückchen Zeitungspapier war liegen geblieben, um zu beweisen, dass hier auf der großen Plaza seit den ersten Stunden des neuen Tages Tausende von Menschen gelagert hatten, zu keinem anderen Zweck, als zu offenbaren, dass sie am Leben seien, und kundzutun, dass sie, solange sie am Leben seien, das zu verteidigen gedachten, was sie als recht und sittlich anzusehen von ihren Vorfahren gelernt hatten. |
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