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B. Traven - Regierung (1931)
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VIERTES KAPITEL

1

Don Gabriel war in seiner Amtsstube und schichtete die Verordnungen und Briefe um, strich sie glatt, legte oben einen Stein auf als Beschwerer, öffnete das Tintenfläschchen, roch daran, schüttelte es, korkte es wieder zu, nahm die Feder auf, kratzte den Rost an seinem Haar ab, legte den Federhalter wieder neben das Tintenfläschchen, pustete den Staub vom Tisch und trat in die Tür, um eine Zigarette zu rauchen.
Als er zufällig hinübersah, wo der Pfad aus dem Busch auf den Ort zukam, bemerkte er, dass ein Trupp von Indianern auf dem Marsche war und den weiten Platz des Cabildo kreuzen wollte, um auf den Pfad zu gelangen, der nach Hucutsin führte. Zwei Männer, Ladinos, mit je einem schweren Revolver im Gurt, führten den Trupp. Sie saßen zu Pferde.
Sie gaben Kommando, dass hier auf dem weiten Platze alle halten und ein wenig rasten sollten, um die Nachzügler aufkommen zu lassen.
Jeder der Indianer trug einen schweren Packen mit seinen Decken, Lebensmitteln und Kleidungsstücken. Die beiden Ladinos ritten vor den Portico des Cabildo. Sie stiegen ab von ihren Pferden und kamen auf Don Gabriel zu. »Buenos dias«, grüßte der eine, »Sie sind der Secretario hier?«
»Ja«, bestätigte Don Gabriel, »pase, kommen Sie herein.«
»Haben Sie Comiteco?« fragte der eine. »Genügend«, sagte Don Gabriel.
»Dann füllen Sie uns hier unsere Flaschen, und einen werden wir gleich hier einheben. Einen für Sie, Señor Secretario.«
»Danke«, sagte Don Gabriel. »Setzen Sie sich nieder für einen Augenblick, ich habe den Branntwein in meiner Tienda. Wenn Sie oder die Leute, die Sie hier haben, etwas für den Weg brauchen sollten, meine Tienda ist die einzige hier am Orte; die nächsten acht Leguas, die Sie heute noch marschieren wollen, finden Sie keine Tienda.« Als er mit den Flaschen zu dem Laden kam, fand er seine Frau und Mateo schon emsig am Verkaufen von Tabakblättern, Zigaretten, Kampferstückchen, Salz, Chili und Bastseilen. Einige zwanzig der wandernden Leute umstanden in einem dicht Aufeinandergepressten Haufen die heruntergelassene Klappe, die den Ladentisch zu liefern hatte. Don Gabriel füllte die Flaschen der beiden Männer und goss drei Gläschen ein. Er kam zurück in die Amtsstube. Sie alle sagten »Salud!« und schossen den Comiteco hinunter.
»Bueno«, sagten die Männer und zogen ihren Leibgurt hoch, damit andeutend, dass sie reisefertig seien. »Vamonos, gehen wir. Haben einen langen kräftigen Weg vor uns.« Gerade als sie ihre Pferde von den Pfosten des Portico losbanden, kam Mateo um die Ecke des Hauses.
Auf dem weiten Platze war es unter den Indianern beweglich geworden. Sie hoben ihre Packen hoch und begannen, sich nach und nach in Marsch zu setzen.
»Wie viel Leute haben Sie denn hier mit sich?« fragte Mateo die Männer, die eben ihre Füße in den Steigbügel setzen wollten. »Achtzig«, antwortete der eine und setzte sich in den Sattel. »Hinunter zu den Kaffeeplantagen?« fragte Mateo. »Ja, in den Distrikt Soconusco.«
»Sie können doch aber hier nicht so ohne weiteres abmarschieren, Caballeros«, sagte Don Mateo, dicht an die Pferde tretend. »Como?« fragte der Mann. »Wie meinen Sie das, Señor?«
»Das wissen Sie doch, Sie müssen hier das Passiergeld für die
Leute bezahlen«, sagte Don Mateo, »zwanzig Centavos für jeden Mann.«
»Warum Passiergeld?« fragte der Mann. »Ich habe die Kontraktsteuer voll bezahlt.«
»Die Kontraktsteuer geht uns hier nichts an«, sagte Don Mateo. »Hier für den Ort haben wir Passiergeld zu erheben, Wegegeld. Ist Ortsverordnung. Das sollten Sie als Arbeiteragenten doch wissen, Caballeros. Es geht ja nicht aus Ihrer Tasche. Sie rechnen es den Leuten auf deren Konto an wie die Kontraktsteuern und wie die Anwerbekommissionen. Ihnen kann es ganz gewiss gleich sein. Aber wir haben hier das Recht, den Abmarsch der Leute zu verhindern, wenn das Passiergeld nicht entrichtet ist.«
Die beiden Agenten wussten natürlich, dass der Ort kein Recht hatte, Passiergeld zu erheben, weil weder Brücken noch Sumpfstege im Bereich des Ortes waren, die der Ort zu unterhalten verpflichtet war. Aber sie wussten auch, dass es sie um keinen Schritt weiterbrachte, wenn sie die Passiergelder nicht bezahlten. Mit ihren achtzig Mann hätten sie den Durchmarsch leicht erzwingen können. Sie hätten sich jedoch die Feindschaft des Sekretärs aufgeladen. Und eine solche Feindschaft ist störend. Sie waren nicht nur Anwerbeagenten von Indianern für Kaffeepflanzer, sondern sie waren auch Viehaufkäufer und Viehverkäufer, Fellhändler, und gelegentlich hatten sie einen Transport von Waren auf Maultierkarawanen zu befördern. Auf Reisen zu der wichtigen Schiffsverladestation des Grijalvastromes konnte dieser Ort nur mit einem Verlust von drei Tagen an Reisezeit umgangen werden. Es konnte freilich geschehen, dass sie die nächsten drei Jahre nicht durch diesen Ort zu reisen brauchten; aber es konnte ebenso gut geschehen, dass sie schon nach zwei Monaten wieder hier durchmussten. Das hing von ihren Geschäften ab. Den Secretario in irgendeinem Orte, den man auf Reisen oder in Geschäften zu berühren hatte, zum Feinde zu haben oder ihn auch nur unfreundlich zu wissen, konnte sehr kostspielig werden. Jeder, der hier reist, ob Händler oder Nichthändler, ist immer auf den guten Willen der Ortssekretäre angewiesen. Der Ortssekretär ist der einzige Nichtindianer am Ort, und er ist die Autorität, die einem Schutz geben oder verweigern kann.
Die Agenten bezahlten die sechzehn Pesos Passiergeld. Sie wollten eine Quittung haben. Aber Mateo sagte: »Wir haben die neuen Formulare noch nicht bekommen. Sie brauchen ja auch keine Quittung, Caballeros. Wir erheben hier das Geld nicht zweimal für denselben Trupp.«
Als der Transport außer Sichtweite war, sagte Don Mateo zu seinem Bruder: »Hast du gesehen, wie das gemacht wird? Du hättest die Burschen hier durchziehen lassen, ohne ein Wort zu sagen. Alles, was dir hier in den Weg kommt, muss gerupft werden, sonst bringst du es nie zu etwas. Wenn die Leute hier wieder zurückkommen und heimkehren von den Plantagen, dann marschieren sie allein, ohne Agenten. Dann nimmst du ihnen wieder zwanzig Centavos für jede Seele ab. Dann haben sie ihren Lohn in der Tasche. Wissen ja sonst nicht, was sie damit tun sollen. Und hängst ihnen ordentlich Comiteco auf. Kümmere dich nur nicht darum, dass die beiden Agenten sich beschweren werden wegen ungerechter Taxe. Auf keinen Fall, solange du hier Sekretär bist, und wenn du nicht mehr Sekretär hier bist, dann kann es dir gleich sein, und dann haben sie es längst vergessen, und sie wissen auch nie, ob du nicht irgendwo anders einen wichtigen Posten erhascht hast. Sie bezahlen es ja nicht selbst, die Muchachos müssen es bezahlen. Und die können nicht nachrechnen, das Konto ist zu groß.«

 

2

Im Ort war eine Hochzeit. Der junge Ehemann hatte die übliche Verpflichtung, sowohl seine eigenen Freunde als die Freunde der beiden Familien, die durch diese Hochzeit zusammenkamen, mit Branntwein zu bewirten. Er hatte den Branntwein schon einige Wochen vorher in Jovel gekauft, wo er ihn um ein Vielfaches billiger erhielt, als ihn Don Gabriel verkaufte. Das Fässchen war heimlich in den Ort geschmuggelt worden, und Don Gabriel erfuhr nichts davon. Weil zu erwarten war, dass sich einige Leute betrinken würden, kaufte der junge Indianer auch noch zehn Liter von Don Gabriel, um den Schein aufrechterhalten zu können, dass aller Branntwein, der auf der Hochzeit getrunken wurde, aus der Tienda des Sekretärs stamme.
»Du kannst mehr haben«, sagte ihm Don Gabriel, »auch wenn du jetzt nicht bezahlen kannst. Ich borge dir ganz gern.« Aber der junge Bursche erwiderte, dass er denke, mit den zehn Litern auszukommen.
Es liegt wohl in der Natur des Indianers, dass er sehr leicht und sehr rasch von Branntwein beeinflusst wird, besonders von jenem, der an Indianer verkauft wird. Viele Indianer verlieren unter dem Einfluss von Branntwein jegliche Kontrolle ihrer Handlungen. Jeder Mensch, der Indianer kennt, weiß das; und wenn er es nicht weiß, erfährt er es rascher, als ihm zuweilen angenehm ist. Zwei Tage und zwei Nächte hindurch wurde getanzt, nach der Musik eines Akkordeons und zweier Gitarren.
Die jungen Burschen tranken wenig. Selbst das wenige, was sie tranken, verlor sich in seiner Wirkung durch unermüdliches Tanzen, durch Trinken großer Mengen von Kaffee und noch viel größerer Mengen von Wasser. Die jungen Burschen, ohne Ausnahme, hatten auch den entschlossenen Wunsch, auf die
Mädchen im allgemeinen, und auf ein bestimmtes Mädchen im besonderen, einen guten Eindruck zu machen. Das indianische Mädchen schätzt die Nüchternheit bei einem Manne höher als eine körperlich angenehme Erscheinung. Diese Einschätzung eines jungen Mannes lehrt sie schon ihre Mutter. Die jungen indianischen Burschen wissen das, und sie wissen, dass sie, wenn sie keinen nüchternen Charakter haben, sie vielleicht doch eine Frau bekommen können, aber dass sie wohl schwerlich das Mädchen zur Frau bekommen, das sie gern haben möchten. Wie auch bei anderen Rassen ändert sich der Charakter des Mannes wie der der Frau von dem ursprünglich gezeigten oder vorgetäuschten, wenn es nicht mehr nötig erscheint, einen vortrefflichen Charakter zu haben. Das vollzieht sich, je nach der Ausdauer und Kraft der Heuchelei, entweder zwei Wochen nach der Eheschließung oder zwei Jahre oder zehn Jahre später. Viele Eheleute haben die Fähigkeit, sich zwanzig Jahre lang gegenseitig einen Charakter vorzuheucheln, den keiner von beiden wirklich besitzt. Es kann sogar geschehen, und geschieht in der Tat zuweilen, dass eine ausdauernde Verheuchelung des wahren Charakters so zur Gewohnheit wird, dass der geheuchelte Charakter beinahe der wirkliche Charakter wird. Beinahe. Völlig niemals. Darum ereignen sich auch so oft nach einer Ehe von fünfundzwanzig Jahren Geschehnisse, bei dem einen oder bei dem anderen, oder gleich bei beiden, die niemand jemals in dieser anscheinend so harmonischen Gemeinschaft erwartet hätte.
Es waren die verheirateten Männer, mit Frauen und Kindern wohl versorgt, die in einer desillusionierten Welt im Branntwein ihre letzte Zuflucht fanden. Wenn selbst hochzivilisierte Menschen nicht wissen und nicht erklären können, warum sie Champagner, Whisky und Cognac in sich hineingießen, nachdem der Drang, sich zu vergessen oder eine hochgeschraubte Stimmung in sich zu erzeugen, längst gesättigt ist, so kann man das von einem Indianer viel weniger verlangen.
Es ist vergebliche Mühe, es erklären zu wollen. Man findet sich am besten zurecht, wenn man die Tatsache gelten lässt, dass es sinnlose Trinker unter ihnen gibt, mäßige Trinker, volle Abstinenzler und Gelegenheitstrinker. Die sinnlosen Trinker und die Gelegenheitssäufer waren es, die jene Hochzeit benutzten, auf lange Freifahrt zu kommen. Es waren drei, die am frühen Morgen, halb ausgeschlafen von einem schweren Rausch am vorhergegangenen Nachmittag, zur Tienda des Don Gabriel kamen und mehr Branntwein verlangten. Auf der Hochzeit gab es keinen mehr für sie, weil die Hochzeit in ihrer langen Nachfeier sich nur auf den engen Kreis der beiden Familien erstreckte.
Sie brachten leere Literflaschen mit sich und Geld. Don Gabriel wollte ihnen keinen Aguardiente verkaufen, nicht etwa, weil er das Geschäft nicht hätte machen wollen, sondern weil er wusste, dass er wegen übergroßer Trunkenheit der Leute allerlei Scherereien haben konnte.
Don Mateo kam in diesem Augenblick herbei: »Was geht denn dich das an, wie viel die Leute trinken wollen! Du bist doch nicht deren Gesundheitsrat. Du hast dich nur darum zu bekümmern, ob sie bezahlen können und ob sie genügend wert sind, ihnen zu borgen.«
Don Gabriel gab ihnen den verlausten Aguardiente. Zwei Stunden darauf hörte er ein wildes Kreischen aus dem Ort; und eine Indianerin, ihren Säugling im Arm, kam zum Cabildo gelaufen, schreiend: »Er hat meinen Bruder erschlagen und schneidet ihm den Kopf ab.«
Don Gabriel und Don Mateo liefen hinüber zum Ort, wo sie innerhalb der Umzäunung eines kleinen Hofes, hinter einer Hütte, eine Anzahl von Männern sahen, die sich bemühten, Gregorio, einen der drei, denen am Morgen Branntwein verkauft worden war, zu überwältigen.
Gregorio schlug mit einem Machete um sich, das von Blut triefte. Gegen die Lehmwand der Hütte gelehnt, befand sich der Leichnam eines Burschen von etwa achtzehn Jahren, das Gesicht an mehreren Stellen zerhackt und der Körper aufgerissen von tiefen Wunden.
Die Männer, von denen die Mehrzahl selbst noch im schweren Trunk waren, versuchten den Rasenden mit Stangen zu erreichen und niederzuschlagen. Aber sie wagten sich nicht nahe genug heran, weil sie Furcht hatten, dass Gregorio sie mit dem Machete werfen konnte.
Der indianische Jefe kam herzu, weil er das Geschrei gehört hatte. Aber auch er war noch im Rausch und sah alle der Reihe nach mit verglasten Augen an, ohne zu begreifen, was hier geschah oder was geschehen war. Don Gabriel gab einem Jungen, der herumstand, den Auftrag, rasch zu seiner Frau zu laufen und sich den Lasso vom Sattel geben zu lassen. In wenigen Minuten war der Junge zurück. Don Gabriel gelang es nach einigen Versuchen, und nachdem er sich um die Hütte geschlichen hatte, Gregorio vom Rücken aus zu erhaschen, ihm den Lasso überzuwerfen und ihn zu Fall zu bringen. In dem Augenblick, als Gregorio fiel, sprangen einige der Indianer hinzu und banden ihn in den Lasso wie ein Paket ein, so dass der Mann sich nicht mehr rühren konnte. Dann schleppten sie ihn hinüber zum Cabildo und steckten ihn in das Gefängnis. Nun völlig ausgegeben in seiner Kraft, begann er einzuduseln und seinen Rausch auszuschlafen.
Auf dem Platze vor dem Cabildo befand sich noch ein halbes Dutzend Männer, die dort herumschrieen und blökten und nicht wussten, was sie mit sich tun sollten.
Don Mateo sagte, es sei das beste, diese Burschen auch ins Gefängnis zu stecken, damit sie nicht etwa noch mehr Unheil stifteten. Don Gabriel rief einige Männer, die genügend nüchtern schienen, herbei, und mit ihrer Hilfe gelang es, diese Burschen festzulegen. Alle Frauen im Ort, und alle Männer, die nüchtern  waren,  gaben Don  Gabriel  recht,  dass  er  die
Betrunkenen eingesperrt habe, um zu vermeiden, dass sich noch ein zweiter Totschlag ereigne. Aller Leute, besonders der Frauen, hatte sich eine hysterische Furcht bemächtigt. Vier Frauen kamen mit ihren Kindern zum Cabildo gelaufen, um hier Zuflucht vor ihren betrunkenen Männern oder Brüdern zu suchen und den Rest des Tages in dem Schulraum zu verbringen. Eine Frau kam schreiend zu Don Gabriel, ihn anflehend, ihren Mann ins Gefängnis zu sperren, weil er sie und ihre Kinder erschlagen wolle. Don Gabriel ließ den Mann herbeischleifen, sperrte ihn ein, und die Frau ging mit ihren Kindern zurück zu ihrem Jacal.
Gegen Mitte des Vormittags war völlige Ruhe im Ort eingekehrt. Die Betrunkenen schienen alle zu schlafen, und die übrigen sah man ihrer Arbeit in den Feldern nachgehen.

 

3

Das Gefängnis war ein sehr kleiner Raum. Sardinen können in ihrer Büchse nicht dichter liegen, als die Gefangenen in jenem Raume aufeinander lagen.
Gegen Mittag kamen ihre Frauen, um ihnen Essen zu bringen. Aber keiner von ihnen war wach.
Am Abend kamen die Frauen wieder und steckten ihren Männern das Essen durch das Gitter der schweren Holztür. Dann zündeten sie vor der Tür ein Feuer für die Nacht an, das den Gefangenen einige Wärme bieten sollte.
Die Männer waren noch immer im Rausch. Den Frauen schien es wohl sicherer zu sein, dass ihre Männer noch im Gefängnis blieben. Keine ging zu Don Gabriel, um ihn zu ersuchen, ihren Mann herauszulassen.
Sie wussten auch aus früheren Erlebnissen und aus Erfahrungen, wenn ihre Männer in einer Marktstadt wegen Trunkenheit im Gefängnis waren, dass ein Herauskommen weniger einfach war als das Hineinkommen. Über der Tür vieler Gefängnisse in den kleinen Orten des Landes standen Merksprüche, die sich Polizisten und Wärter ausdachten und dann mit Kreide über die Tür schrieben. >Hüte dich, hier hineinzukommen, Brüderchen, denn wann du wieder herauskommst, niemand weiß es.< - >Leicht geht auf die Tür für jene, die hereinkommen; aber der Schlüssel ist schwer zu finden für die, die herausmöchten.< - >Bleib draußen, Freund, glaub mir, der drinnen war; kommst du herein, dann bleibst du hier nicht weniger als ein Jahr.< - >Der dich einschließt, Brüderchen, sitzt vor der Tür; der dich rauslasst, wohnt tausend Meilen von hier.<

 

4

Am nächsten Morgen kamen die Frauen schon gleich bei Sonnenaufgang und hockten sich, ihre Säuglinge auf dem Schoß, vor das Gefängnis und sprachen mit ihren Männern. Sie stellten die Kaffeekrügchen an das Feuer, das dort die ganze Nacht hindurch geglimmt hatte.
Indianer empfinden die Nacht unangenehm, wenn sie nicht zu ihren Füßen ein Feuer brennen oder wenigstens schwelen haben. Mit einem langen Stock, den ihnen am Abend eine Frau durch das Gitter gereicht hatte, schoben sie Knüppel im Feuer nach, damit es nicht verlösche, sobald der eine oder der andere in seinem Rausche einmal aufwachte und für Sekunden zur Besinnung kam. Don Gabriel hatte während der Zeit seines Hierseins bisher keine Gelegenheit gehabt, jemand in das Gefängnis zu stecken. Es gab viele Streitigkeiten im Ort, aber niemand war zu ihm gekommen, um jene Streitigkeiten zu schlichten. Alles wurde von ihrem eigenen Jefe geregelt und geschlichtet. Er hatte kein Recht, sich im Orte selbst in die Angelegenheiten der Bewohner hineinzumischen. Keiner kam auch je zu ihm, wenn Uneinigkeiten über Feldverteilung herrschten oder ein Streit über das Recht an einem erjagten Wild oder Unklarheit darüber, ob es die Ziege des Tomas oder die des Panfilo war, der ein herumirrendes Zicklein zugehörte, oder ob Elias mit Recht den Lino beschuldigte, dass er ihm ein Mädchen, das er zu heiraten gedenke, abwendig zu machen suchte.
Alles das ordnete ihr Häuptling Narciso zu ihrer Zufriedenheit. Don Gabriel hatte nur das Recht, in ganz bestimmten Fällen als Vertreter der Regierung einzugreifen. Ein solcher Fall war, wenn der öffentliche Friede in Bezug auf Land und Bewohner, die nicht unmittelbar zu dem indianischen Ort gehörten, gestört wurde. Was die Indianer innerhalb ihres Ortes unter sich taten und was irgendeinen ändern Staatsbürger nicht berührte, das war ihre eigene Sache. Jedoch hatte Don Gabriel das Recht und die Pflicht einzugreifen, wenn er gerufen wurde. Als die Frauen des Ortes keinen Ausweg wussten, wie sie sich vor ihren eigenen betrunkenen Männern schützen sollten, und ihr eigener Jefe unfähig war, den Mörder zu überwältigen sowie die übrigen Männer zur Ruhe zu bringen, weil er selbst schwer betrunken war, kamen sie zu Don Gabriel als ihrer letzten und einzigen Rettung. Es wäre den jungen Männern des Ortes, die nicht betrunken waren, leicht gewesen, Ordnung zu schaffen. Aber es ist gegen die indianische Sitte, dass Söhne oder junge Leute ihren Vätern und den älteren Männern ihrer Gemeinde Befehle geben und diese Befehle gar mit Gewalt durchsetzen. Keiner wird seinen Vater fesseln oder ihn niederwerfen, wenn der Vater in seiner sinnlosen Trunkenheit die Mutter erschlagen will. Der Sohn kann die Mutter nur in Sicherheit bringen, und wenn ihm das nicht glückt, dann fängt er für seine Mutter den tödlichen Hieb mit dem Machete auf. Der Vater in seinem Rausch und den Machete in der Hand ruft den Sohn an, zu ihm zu kommen, und der Sohn folgt aufs Wort, ohne gegen seinen Vater auch nur den Arm zur Abwehr zu erheben. Wenn er befürchtet, sein Vater könnte ihn in seiner Wut und Sinnlosigkeit erschlagen, dann geht er ihm rechtzeitig aus dem Wege; aber wenn ihn die Stimme seines Vaters erreicht, dann kommt er aus seinem schützenden Versteck heraus.
Aus diesen Gründen geschah es, dass Don Gabriel zu Hilfe gerufen werden musste.
Auch aus anderen Gründen wurden Sekretäre zuweilen gerufen, um selbst innere Streitigkeiten und Unklarheiten in rein privaten Angelegenheiten zu lösen.
Es gab Fälle, bei denen der Häuptling aus Klugheit keine Entscheidung traf, weil die Entscheidung ihm eine dauernde Feindschaft nicht nur eines Mannes, sondern einer ganzen Familie einbringen konnte. Der Ursachen mochten viele sein, warum aus seinem Urteil eine dauernde Feindschaft erwuchs. Er ließ dann den Secretario entscheiden. Der Sekretär galt als unparteiisch, weil er oder seine Familie oder einer seiner Freunde durch das Urteil nicht begünstigt werden konnte; denn er stand in seinem Besitz und in seinen Familienbeziehungen außerhalb der Gemeinde.
Es waren solche Fälle, die aus den Sitten, dem Charakter, den wirtschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen der Indianer unvermeidlich hervorgingen, die den Sekretären eine Macht und eine Autorität gaben, die in den Händen korrupter Beamter zu mitleidloser Ausbeutung und völliger Versklavung unabhängiger indianischer Gemeinden führten.

 

5

Wie alle Beamten unter der Diktatur betrachtete Don Gabriel sein Amt als ein Mittel, sich zu bereichern. Von Kindheit an sah der Mexikaner unter diesem Regierungssystem nichts anderes. Er lernte nichts anderes, und er hörte nichts anderes. Man sagte nicht von einem Beamten: >Der Mann hat einen schweren verantwortungsvollen Posten<, sondern man sagte: >Der Mann hat seine Schafe drinnen, er braucht sie nur noch zu scheren, er ist ja der Gouverneur.« Und von Jugend auf hatte Don Gabriel gelernt, dass selbst das kleinste Amt Einnahmen zu bringen hat, die um ein Vielfaches höher sein müssen als das Gehalt. Der Diktator Don Porfirio hatte die Welt dadurch in Erstaunen gesetzt, dass er den völlig zerrütteten Staatshaushalt der Republik Mexiko in kurzer Zeit so wohlgeordnet aufzeigen konnte, dass der Staatsschatz des Landes in einer Weise wuchs, die andere Länder neidisch machen musste. Die Statistiken bewiesen, dass ein großer Staatsmann das mexikanische Volk zu einer Höhe der Zivilisation und zu einer wirtschaftlichen Blüte gebracht habe, die man nie für möglich gehalten hätte. Er verstand es, die Ausgaben für den Staat lächerlich klein zu halten. Das war sehr leicht. Die Gehälter der Beamten waren in vielen Fällen so niedrig, dass kaum eine Maus davon hätte leben können. Und wenn ein Gouverneur oder ein Polizeichef oder ein Jefe Politico oder ein Richter leben wollte, wie es seiner Stellung entsprach, so musste er Nebenverdienste haben. Dass er die Machtbefugnisse seines Amtes dazu gebrauchte, die Nebenverdienste bis zur äußersten Grenze zu erhöhen, ergab sich von selbst. Der Staatsschatz wurde immer größer, die Schuldenlast des Landes, scheinbar immer geringer; die Armut des Volkes, die Unwissenheit, die Korruption, politische Spionage, klaffende Ungerechtigkeit dagegen wurden immer verheerender. Don Gabriel wusste, dass er dieses Amt habe, um sich zu bereichern, und dass er es nicht habe, um das Wohl des indianischen Ortes und seiner Bevölkerung zu fördern. Es fehlte ihm nur an Geschicklichkeit und an Schlauheit, aus dem Amt alles herauszuholen, was nur irgendwie darin verborgen war. Er sah nicht, dass in dem Transport indianischer Arbeiter, der durch den Ort kam, für ihn sechzehn Pesos enthalten waren, hätte es ihm sein Bruder Mateo nicht gezeigt. Don Mateo war reich an Erfahrung, gewonnen im Umgang mit vielen Beamten. Aber er hatte nicht nur Erfahrung, sondern, was bei einem Amte mehr gilt, er besaß Phantasie und Erfindungsgabe.
»Wenn das Amt nichts gibt«, sagte er zu Gabriel, täglich zehnmal, »dann musst du es gebend machen.«

 

6

An diesem Morgen, als sie beim Frühstück saßen, sagte Mateo: »Jetzt hast du doch endlich ein fettes Schwein im Stall, Gabucho. Und eine zu melkende Kuh noch dazu.«
Gabriel hörte auf zu kauen: »Ich? Du bist wohl auch im Tran? Schwein und eine Kuh? Como? Wie meinst du das?«
»Bei dir kann man sagen: Perle vor die Säue, Hombre«, antwortete Mateo. »Ja, Mann der Mules und Klarinetten, bist du denn in allem Ernst so vernagelt, dass du den Haufen Pesos nicht siehst, wenn er vor dir liegt? Die Cárcel voll mit Säufern, die rauswollen, und du sitzt hier und hast kein Kissen unter dem Hintern. Ich glaube gar, du lässt den fetten Truthahn, den du in der Hand hast, fliegen und freust dich daran, wie er ab und in den Busch fliegt, und lässt die Burschen alle raus aus der Höhle, wo sie sich so mollig hineingesetzt haben. So ein Glück, alle selbst gekommen. Du hast nicht einmal einen gerufen. Sie haben sie dir alle freiwillig hergebracht.«
»Ich kann sie aber nicht ewig hier im Calabozo behalten, ich muss sie heute herauslassen, sonst brechen sie mir das ganze Haus in Stücke.«
»Habe nur keine Angst«, erwiderte Don Mateo, »das tun sie nicht. Die wissen, dass dann die Soldaten kommen und dass ihre Häuser und Felder verbrannt werden.«
Don Gabriel kam nicht dazu, etwas darauf zu sagen, weil er hörte, dass einige Männer vor der Tür der Amtsstube waren, die dort sprachen und offenbar auf ihn warteten. Er setzte seinen Hut auf, zog den Revolvergurt fest und ging um die Ecke des Hauses in den Portico, wo die Männer vor der geschlossenen Tür standen. Don Mateo, gleichfalls den Revolver umschnallend, folgte ihm. »Guten Morgen!« grüßte Don Gabriel. Die Männer erwiderten den Gruß.
Gabriel schloss die Tür auf, ging an seinen Tisch, schichtete die Verordnungen und Briefe um, korkte das Tintenfläschchen auf, roch daran, korkte es wieder zu und kratzte den Federhalter an seinem Haar sauber.
Die Männer kamen heran und setzten sich auf die Bank. Don Mateo setzte sich auf dieselbe Bank und drehte sich eine Zigarette. Dann begann einer der Männer zu reden: »Ich bin der Bruder des Isidro, der im Loch sitzt. Hier, das ist der Bruder der Frau des Isidro. Und das ist ein Halbbruder von Isidros Frau. Und dieses da ist der Bruder des Vaters von Isidro.«
»Warum hockt denn der Isidro im Gefängnis?« fragte Don Gabriel. Er wusste nicht, welcher seiner Gefangenen Isidro war, denn er kannte keinen der gefangenen Männer bei Namen. »Isidro ist der Mann, der nur betrunken war und soviel geschrieen hat, aber er meint es nicht so«, sagte der Bruder. »Wir möchten nun, dass du ihn herauslässt. Er ist jetzt nüchtern, und wenn er nicht nach seinem Mais sieht, dann hat er eine schlechte Ernte.« Gabriel stand auf und sagte: »Recht, ihr könnt ihn gleich haben.« Er wollte gehen und Isidro aus der Haft entlassen. »Warte«, sagte da Mateo, »du musst doch erst sagen, wie viel er Multa, Strafe, zu bezahlen hat.«
Die Indianer verstanden nur wenig Spanisch, aber sie begriffen, um was es sich handelte. Sie begriffen noch besser, dass Don Mateo die kostenlose Befreiung des Isidro verhinderte. Sie waren daran gewöhnt, dass eine Multa über sie verhängt wurde, wenn sie aus irgendeinem Grunde, meist wegen Trunkenheit, in einem Ort, wo sie zu Markte waren, ins Gefängnis gesteckt wurden. Wenn sie kein Geld hatten und keiner ihrer Verwandten oder Freunde, die mit ihnen waren, die Multa für sie bezahlte, so wurden sie eine Woche oder länger noch im Gefängnis behalten, und sie mussten an den Wegen oder an den Straßen oder in den Parks der Stadt arbeiten.
Hier aber waren sie in ihrem eigenen Ort, und Isidro hatte nichts weiter begangen, als herumzuschreien und sich zu weigern, ruhig in seine Hütte zu gehen.
»Die Multa für Isidro ist zehn Pesos«, sagte Don Mateo, »sobald er die zehn Pesos bezahlt, kann er gehen.«
»Wo soll denn Isidro zehn Pesos hernehmen?« fragte der Bruder des Isidro. »Er hat keine zehn Pesos, aber eine große Familie. Zehn Pesos? Ja, das ist beinahe der Wert von zwei sehr dicken Schweinen, wenn die Preise gut sind. Wenn die Preise so schlecht sind wie an dem Tage, als die Händler das letzte Mal hier waren, dann sind es vielleicht gar drei Schweine.«
»Gabriel«, rief Don Mateo, »steht das nicht da in der Verordnung, zehn Pesos Multa für Trunkenheit und Lärmen und Bedrohen?« Don Gabriel nahm ein gedrucktes Blatt auf und sagte: »Ja, das steht hier verordnet von der Regierung.«
»Dann können wir nichts daran ändern«, sagte Don Mateo, »das ist Gesetz.«
Inzwischen hatte Don Gabriel Zeit gehabt, zu begreifen, dass hier eine neue Geldquelle sich öffnete, an die er wohl schon früher einmal gedacht hatte, die aber aufzubohren er bisher gefürchtet hatte.
Nun traf es sich aber, dass die Bewohner des Ortes in der Zwangslage gewesen waren, aus Selbstschutz den Sekretär in der Festnahme der Betrunkenen zu unterstützen. Es mochte geschehen, dass einer oder der andere jemand erschlug oder ein Haus anzündete. Der eine Mord, der geschehen war, konnte leicht die Mordgier eines anderen, der die Kontrolle über seine Handlungen verloren hatte, wachrufen.
Sicher hätte Don Gabriel alle Gefangenen freigelassen, ohne ihnen Geld abzunehmen, wäre er allein gewesen. Nicht weil er etwa einsah, dass er durch den Verkauf von Branntwein eine Mitschuld an den Vorfällen trug oder weil er ein menschliches Verstehen für die Schwächen der Indianer in sich gefühlt hätte, sondern aus praktischen Gründen.
Einmal hatte er Furcht. Er kannte das Schicksal einiger anderer Sekretäre. Zum andern wollte er nicht so plötzlich, sondern nach und nach alle Quellen öffnen, die vorhanden waren. Er war durchaus nicht so stupid, wie sein Bruder von ihm glaubte. Im Grunde war er vielleicht klüger als sein Bruder Mateo, auf jeden Fall diplomatischer.
Mateo hatte es leicht, hier brüsk vorzugehen und den starken, mutigen Mann zu spielen. Er war nicht verantwortlich. Alle Folgen konnte er auf den Sekretär abwälzen. Er konnte auch rascher aus dem Ort verschwinden als Gabriel, der eine Frau hatte und einige Sachen, die er nicht verlieren wollte. Ob Mateo seinen Bruder absichtlich in eine schwierige Lage bringen wollte, war nicht zu ersehen. Gabriel wusste wohl, dass Mateo nicht sehr brüderlich ihm gegenüber fühlte. Dennoch glaubte er nicht, dass Mateo so teuflisch sein könnte, ihn bewusst in Gefahr zu bringen. Mateo sehnte sich nicht nach diesem Amte. Das war gewiss. Ob er es auf die Frau des Don Gabriel abgesehen hatte, war wenig wahrscheinlich.
Dagegen mochte es wohl sein, dass Don Mateo gern spielte. Konnte er nicht um Geld spielen, so spielte er mit Schicksalen anderer, um zu sehen, wie alles ausginge, und sich daran zu erfreuen, dass er der Mechaniker im Hintergrunde gewesen war.

 

7

Ob so oder so die Gründe waren, Don Gabriel war in eine Lage gebracht worden, wo er so festsaß, dass er keine Spalte sah, durch die er entweichen konnte.
Don Mateo hatte die Höhe der Multa genannt und sie mit einer Verordnung begründet. Don Gabriel konnte jetzt nicht mehr sagen, die Multa brauche nicht bezahlt zu werden. Er musste nun rücksichtslos auf die Bezahlung der Geldstrafe dringen. Das Hauptgeschäft seines Amtes hatte er ja aufgebaut auf jene Geldstrafen, die er, sobald er erst einmal genügend sicher war, bei jeder nur irgend zulässigen Gelegenheit festsetzen und mit unerbittlicher Strenge eintreiben würde. Aber für dieses Geschäft hatte er gehofft, sich den Jefe der Indianer nach und nach zu erziehen, um ihn zur Unterstützung zu haben.
Er sah ein, dass, wenn er jetzt nachgebe, nachdem Mateo ihn festgetrieben hatte, er sehr lange Zeit brauchen würde, ehe er die Leute hätte überzeugen können, dass die Geldstrafen nötig seien, um Ordnung und Frieden im Ort zu wahren. Jeder würde sich darauf berufen, dass er die bösesten Friedensstörer freigelassen habe, ohne dass sie zu bezahlen brauchten, während er bei geringeren Versehen gegen angebliche Verordnungen unerbittlich sei. Das Entscheidende jedoch war, dass er sich vor Mateos Spott fürchtete. Griff er jetzt nicht zu, wie er zugriff, als Don Mateo ihm das Passiergeld des Arbeitertransportes zuschob, dann würde das Verhöhnen und Verspotten Mateos ihm gegenüber in den folgenden Wochen nicht zu ertragen sein, weil er die Truthühner, die er so schön in der Hand hielt, wieder in den Busch zurückfliegen ließ. Seine eigene Frau, mehr auf Geld bedacht als er, würde mit Freuden jede Bissigkeit Mateos unterstützen, bis er es selbst glauben würde, dass er der größte Narr sei, dem Gott je die Gnade erwiesen hatte, ihn mit einem
Amte zu segnen.
Don Mateo stand auf und nahm seinen Bruder zur Seite. Er tat so und redete in einer solchen Weise leise auf ihn ein, dass die anwesenden Indianer glaubten, er rede seinem Bruder zu, gnädig mit den Gefangenen zu verfahren.
In Wahrheit jedoch sagte er: »Hombre, so gut wie diesmal triffst du es nie wieder, und wenn du hundert Jahre hier Ortssekretär sein solltest. Lass dir diese gute Gelegenheit nicht entwischen. Wer weiß, ob sie jemals wieder so gut kommt. Du hast keinen einzigen eigenmächtig eingesperrt. Die Männer und die Frauen haben dich gebeten, die Betrunkenen und die Herumschreier in den Calabozo zu setzen. El Jefe hat nach deren Meinung es bestätigt, weil er nichts dazu gesagt hat. Dein Glück, dass er mehr besoffen war als alle übrigen. Jetzt hast du genug hier beisammen mit voller Unterstützung des ganzen Ortes. Lasse sie gut bezahlen, um wieder herauszukommen. Von nun an geht das wie von selbst. Jede Woche kannst du jetzt zwei oder drei verhaften lassen. Immer findet sich etwas. Du kannst so viele Verordnungen machen, wie du willst. Die können keine lesen. Wenn sie damit nicht zufrieden sind, werden sie wütend auf die Regierung. Das geht dich nichts an, und die Regierung ist weit. Selbst wenn sie eine Abordnung schicken und der Gouverneur macht sich wirklich die Mühe, sie für fünf Minuten zu empfangen, sie können nicht mit ihm sprechen, er versteht kein Wort Idioma. Er fragt sie nach ihrem Namen, gibt jedem die Hand, bezahlt für sie in einer Fonda ein Essen für einen halben Peso und schreibt dir einen amtlichen Brief, um zu erfahren, was sie wollten. Du kannst ihm antworten, was du willst. Er legt den Brief auf alle Fälle beiseite, denn er hat die verlausten Indios inzwischen lange vergessen, wenn er überhaupt noch Gouverneur ist und nicht schon ein anderer an seinem Platze sitzt, der überhaupt nichts weiß und sich nur darum kümmert, wie viel Extrataxen er aus den Kaffeepflanzern herauspressen kann für Automobilstraßen und Eisenbahnen, die nie gebaut werden.«
Don Gabriel begriff, dass alles so war, wie sein Bruder sagte. Wollte er sich sein Amt nicht für immer verderben, dann musste er nun den Speck anschneiden, der vor ihm lag.
Auch die Indianer, die auf der Bank saßen, hatten inzwischen unter sich gesprochen und beraten, was sie tun könnten. Als Gabriel und Mateo wieder in den Amtsraum traten, sagte der Mann, der sich als Bruder Isidros vorgestellt hatte: »Hören Sie, Señor Secretario, wir wollen vier Pesos Multa für Isidro bezahlen, damit er nach Hause gehen kann zu seiner Frau und seinen Kindern.«
Mateo ließ Gabriel nicht antworten. Er sagte sofort: »Die Verordnung bestimmt zehn Pesos Geldstrafe. Aber ich bin ja nicht der Secretario. Wenn Don Gabriel es für weniger tun kann, dann muss er es vor der Regierung verantworten.«
»Gut«, sagte Don Gabriel, »no soy un Tirano, kein Despot. Wir wollen sagen, acht Pesos. Isidro ist arm, und er hat eine große Familie.«
»Fünf Pesos«, antwortete darauf der Bruder Isidros. »Fünf Pesos wollen wir wohl bezahlen, soviel kann er uns zurückbezahlen, wenn er Ziegen verkauft.«
Nach Hin- und Herreden einigten sich alle auf sechs Pesos Multa für Isidro. Die Männer gingen zu ihren Häusern, und Isidros Bruder kam nach einer Viertelstunde zurück mit den sechs Pesos. Don Gabriel stellte keine Quittung für die Geldstrafe aus. Trotzdem fühlte sich Mateo veranlasst, ihm zu raten: »Quittungen musst du nie ausstellen, niemals. Dann kann man dir nie etwas nachrechnen, nie etwas beweisen, wenn die Läusefresser hier vielleicht gar unruhig werden sollten und rebellieren. Musst sie immer und immer glauben machen, dass die Regierung jene Verordnungen bestimmt und dass du nur ein angestellter Beamter bist, der die Verordnungen durchzusetzen hat, und wenn er sie nicht durchsetzt, dann selbst ins Gefängnis gesteckt wird. Überhaupt, warum so viele Worte. Die verlangen gar keine Quittung. Ihnen fehlt der Begriff dafür. Hier ist die Ware und hier ist das Geld, und wenn geborgt wird, dann nur gegen Bürgschaft eines anderen.«
»Ich möchte nur wissen, warum man dich noch nicht zu einem Sekretär gemacht hat«, sagte Don Gabriel lachend. »Geht mir zu langsam, Manito«, erwiderte Mateo, »ich habe auch nicht die Ruhe, die du hast. Ich wäre zu rasch, und dann habe ich sie alle auf dem Halse. Die Wahrheit, Gabucho, ich hätte Angst, so allein zu sein, hier mit einem ganzen Dorf voll von Indianern, an denen ich verdienen will.«
Gabriel warf seine Zigarette fort, trat darauf und sagte: »Also so kommst du mir heraus, Brüderchen. Mich willst du hier fest einklammern, und du bist fort, wenn es brennt!«
»Dir geschieht das nicht, Gabucho, du bist zu dumm dazu. Du kannst ein Schafsgesicht machen. Ich nicht. Darum bist du sicher auf einem solchen Posten.«

 

8

Gegen Mittag waren alle Gefangenen für je sechs Pesos Multa freigelassen. Teils war das Geld gleich bezahlt worden, teils hatte es Don Gabriel gegen Bürgschaft zweier Verwandten dem Verhafteten auf Konto geschrieben.
Für den Mann, der in seiner Trunkenheit gedroht hatte, seine Frau und seine Kinder zu erschlagen, und dessen eigene Frau den Sekretär angefleht hatte, ihren Mann ins Gefängnis zu stecken, bis er wieder nüchtern sei, setzte er eine Multa von zwanzig Pesos fest. Zwanzig Pesos bedeuteten wohl die halbe Ernte des Mannes an Mais oder die doppelte Anzahl von verkäuflichen Schweinen, die er besaß.
Seine Brüder und Onkel und andere seiner Sippe kamen, um für ihn zu handeln. Nach einer Sitzung von drei Stunden einigten sich alle auf zwölf Pesos, die dem Manne auf sein Konto geschrieben wurden. Alle Anwesenden bürgten dafür, dass die Summe innerhalb von sechs Wochen mit drei Pesos Zins bezahlt werden würde. Für den Mörder Gregorio zu verhandeln, war noch niemand gekommen. Es hatte ihm nur seine Frau regelmäßig das Essen gebracht. Jedes Mal hockte sie sich, ein Kind an der Brust und drei um sie herumlaufend, vor der Tür des Gefängnisses hin, und hier blieb sie jedes Mal, wenn sie kam, drei Stunden und länger hocken. Ihr Mann sprach nicht viel zu ihr und sie so gut wie nichts zu ihm. Sie betrachtete es als ihre Pflicht, ihrem Manne nahe zu sein. Zuweilen weinte sie still vor sich hin.
Abends kam sie nur mit ihrem Säugling. Sie brachte ihrem Manne schwarze Bohnen, Tortillas und ein Krügchen Kaffee. Vor der Tür zündete sie ein Feuer an, wärmte das Essen auf, reichte es ihrem Mann durch das Gitter, sah ihm zu, wie er aß, fragte ihn, ob er mehr Salz haben wolle oder mehr Wasser.
Nachdem er gegessen hatte, reichte sie ihm Tabakblätter zu, und er rollte sich dicke Zigarren. Er lehnte gegen die Lehmwand des Gefängnisses, rauchte und fragte gelegentlich nach irgend etwas, was im Hause geschah, und er gab ihr kurze Anweisungen über Arbeiten, die getan werden sollten und auf welche Dinge und auf welche Tiere geachtet werden müsste. Dann schlief er ein, ausgestreckt auf dem dünnen Petate, den ihm seine Frau gebracht hatte, und zugedeckt mit einer dünnen, überall zerlöcherten Wolldecke. Die Frau blieb vor der Tür beim Feuer geduldig hocken. Sie schürte das Feuer auf, presste ihren Säugling gegen ihre nackte Brust, rauchte eine Zigarre, die ihr Mann ihr gegeben hatte, schlief ein, ohne ihre hockende Stellung zu verändern, wachte auf, wenn das Feuer verglimmen wollte, sprach leise und zärtlich zu ihrem Kleinen, presste ihn wieder an sich, legte Holz im Feuer nach, zündete die verlöschte Zigarre wieder an, rauchte einige Züge, schlief wieder ein und wachte auf, wenn das Feuer auszugehen drohte. Ihr Mann schlief ruhig und sanft, von keinem Schuldbewusstsein in seinen Träumen gestört.
Als die Nacht bleich zu werden begann, richtete sich die Frau auf, trabte mit kurzen Schritten zur heimatlichen Hütte, um ihrem Manne das Frühstück zu bereiten.

 

9

Die Tür des Gefängnisses war aus dicken gehackten Mahagonibrettern gefertigt, die ohne Nägel zusammengefügt waren. Das Gitter bestand aus dicken Stäben der Länge und der Breite, an den Kreuzungen so eingekerbt, dass die Stäbe ineinander griffen. Die einzelnen Gitterfensterchen waren genügend weit, dass der Gefangene leicht seinen Kopf hindurchstecken konnte, wenn er dazu Lust spürte.
Die Tür hatte kein Schloss. In den Türpfosten war eine eiserne Kramme eingetrieben. Sie war völlig verrostet. Hätte man einen Stock in diese Kramme geschoben und die Kramme verdreht, so hätte sie mit einem leichten Knacken ihren letzten irdischen Seufzer ausgestoßen, um zu keiner irgendwie nützlichen Auferstehung gebraucht werden zu können.
Durch eine Querstange des Gitters, dessen Fensterchen dem Pfosten am nächsten lag, war eine Kette in einer doppelten Schlinge gelegt. Diese Kette gehörte zu derselben tuberkulösen Familie, der auch die Kramme angehörte. Ihre Glieder waren so von Rost zerfressen und zernagt, dass man leicht das eine oder andere Glied dieser Kette mit einem Handdruck hätte zerpressen können. Durch die zwei Endglieder der Kette und durch die Öffnung der Kramme steckte ein Vorhängeschloss. Aber das Schloss arbeitete nicht, denn es war so verrostet, dass der innere Mechanismus sich nicht mehr bewegen ließ. Aber ob sich dieser Mechanismus bewegen ließ oder nicht, kam nicht in Frage; denn Don Gabriel hatte keinen Schlüssel zu jenem Schloss. Wenn er den Gefangenen einschloss, so drückte er nur den Bügel des Schlosses so weit ein, wie sich der Bügel das gefallen ließ. Weil der Mechanismus des Schlosses den Lauf der hastenden Welt nicht mehr mitzumachen sich vorgenommen hatte, so schnappte das Schloss nicht mehr ein. Wenn der Gefangene herausgelassen werden sollte, zog Don Gabriel den Bügel einfach auf.
Er ließ den Gefangenen mehrere Male des Tages auf zehn Minuten hinaus. Während dieser Zeit ging Don Gabriel in den Schulraum oder zu seiner Frau in die Küche. Weil er ja wusste, was der Gefangene während dieser zehn Minuten tat, denn er musste es tun, so fühlte Don Gabriel keine besondere Lust zuzusehen, wie es vor sich ging.
War der Gefangene fertig mit seinem Opfer, das er der Erde bot, so setzte er sich vor die Gefängnistür, wo er geduldig wartete, bis Don Gabriel wieder erschien, um ihn aufs neue einzuschließen. Wie das ganze Amtsgebäude, so bestanden auch die Wände des Gefängnisses, das eine Ecke im Amtshause einnahm, nur aus dünnen Staketen, die dick mit Lehm bekleidet waren. Mit ein paar Fußtritten konnte die Wand sowohl von außen wie von innen ohne Mühe durchgestoßen werden. Jeder beliebige Mann konnte das Schloss ebenso leicht öffnen, wie es Don Gabriel tat. Und jeder Mann im Orte wusste, wie das Schloss geöffnet und wieder geschlossen wurde.
Dennoch, selbst wenn der Gefangene in jenem Gefängnis auf die Vollstreckung seines Todesurteils einige Wochen hätte warten müssen, er wäre nicht entwischt, und niemand von seinen Freunden würde ihn befreit haben.
So wie die Tür eines Hauses für einen Indianer als geschlossen gilt, wenn sie nur mit einem Bastband zugebunden ist, so gilt für ihn die Gefängnistür als geschlossen, auch wenn sie nur mit einem gekrümmten Finger aufgerissen werden könnte.

 

10

Ein Indianer, der ein Verbrechen begeht, versucht wie jeder andere Mensch zu entweichen, ehe er ergriffen wird. Ist er jedoch einmal verhaftet, dann ergibt er sich in sein Schicksal mit einer Gleichgültigkeit, die ein Europäer nicht versteht. Er versucht weder zu entfliehen noch sich zu verteidigen. Seine Tat beschönigt er nicht, und er sucht nach keiner Rechtfertigung. Wird er um Angabe von Gründen für seine Tat ersucht, so nennt er Gründe, die an sich mit der Tat kaum etwas zu tun haben, nach Meinung dessen, der ihn verhört und nach Ansicht eines Nicht-Indianers. Es geschieht, dass er sagt: »Ich fühlte das Bedürfnis, jemand zu ermorden, und darum erschlug ich ihn.« Meist jedoch gibt er überhaupt keine Erklärung. Möglicherweise hat er keine Erklärung. Oder sie ruht so tief in seinem Wesen, in seinem Unterbewusstsein, in seinen geheimen Ängsten, in seinen intimen Wünschen, in seiner ihm unklaren Einstellung zur Umwelt und Mitwelt, dass er nicht die Intelligenz, ja nicht einmal die Fähigkeit hat, mit Worten und klaren Sätzen die treibenden Kräfte seiner Seele irgendeinem ändern Menschen, nun gar einem Richter oder einem Polizeibeamten, verständlich zu machen. Wahrscheinlich fühlt er instinktiv, dass kein anderer Mensch ihn verstehen kann, auch wenn er tagelang reden würde. Und weil er das fühlt, darum ermüdet ihn jedes Wort, das er zu seiner Verteidigung sagen könnte. Der Richter, in aller seiner Würde, sitzt vor ihm und redet und schreit auf ihn ein und sagt ihm, dass er ein eigensinniger, starrköpfiger, hinterhältiger Bursche sei, der zum Verbrecher geboren wurde. Das Urteil nimmt er hin, wie er seine Geburt hingenommen hat. Er bemüht sich nicht, daran etwas zu ändern oder etwas dazu zu sagen. Er fühlt nur die eine tiefe Erlösung, dass mit dem Urteil seine Qual zu Ende ist, dass nicht länger mehr in ihm herumgebohrt wird, dass er nicht länger mehr gefragt wird nach Erklärungen, die er nicht geben kann, weil er keine hat. Er ergibt sich in sein Urteil völlig. Wenn es ein Todesurteil ist, dann steht er vor den Mündungen der auf ihn gerichteten Gewehre mit derselben Gleichgültigkeit, mit der er vor seinen Richtern stand, und lacht die Soldaten, die auf ihn schießen, offen und ehrlich an. Er trägt weder für seine Richter noch für die Soldaten, die ihn erschießen, Hass oder Wut mit sich hinüber in das ewige Schweigen. Er empfindet nicht einmal, dass ihm ein Unrecht geschehen sei. Vielleicht denkt er, dass sein Schicksal es von Anbeginn der Welt so für ihn bestimmt habe und dass niemand seinem Schicksal entweichen könne und kein Mensch auf Erden irgendeine Schuld habe, wenn sich das Schicksal so vollziehen müsse, wie es nun geschieht. Der Beobachter dieses Vorganges, der kein Indianer ist und der das Wesen des Indianers nicht kennt, legt die erschütternde Furchtlosigkeit des Indianers angesichts seines sicheren Todes als Tapferkeit aus. Aber jene Furchtlosigkeit, jenes Anlachen der Soldaten, die auf ihn angelegt haben, der Eindruck, den er erweckt, als handele es sich um ein Spiel, alle diese Erscheinungen haben nichts mit Tapferkeit zu tun. Der Indianer, einmal drin in dieser Lage, ist weder tapfer noch schwächlich; er ist lediglich unsagbar gleichgültig. So gleichgültig in der Tat, dass er völlig außerhalb aller irdischen Sinne und Empfindungen steht. Tapfer ist nur der Mensch, der gegen eine Gefahr nicht gleichgültig ist und nicht gleichgültig bleibt. Im Kriege und in blutigen Händeln ist der Mensch am tapfersten, der am wenigsten innere Kultur besitzt und dessen Geist die geringste Sensibilität aufweist, der Mensch, der keine Phantasie hat und in seinem Wesen und Charakter einem Bullen am nächsten kommt. Wer den inneren, den geistigen Wert des Lebens in sich empfindet, ist niemals wirklich tapfer auf jenen Gebieten, wo gewöhnlich Tapferkeit verherrlicht wird. Wird der Indianer freigesprochen und darf er unbehelligt seines Weges ziehen, so bedankt er sich bei niemand dafür. Er nimmt diesen Freispruch ebenso gleichgültig hin wie sein Todesurteil. Es macht für ihn, in seinem Wesen, keinen Unterschied aus. Es bleibt in ihm dennoch die Gewissheit bestehen, dass die Gründe seines Handelns nicht verstanden wurden und dass er sie niemandem klarmachen kann. Er fühlt die Gründe, und er fühlt sie gewiss völlig richtig im Einklang mit seinem Wesen und mit der Umwelt, wie sie sich vor seinen Augen zeigt. Aber er vermag jene Gründe weder sich selbst gegenüber in seinen Gedanken klarzumachen, noch vermag er sie seinem besten Freunde zu erklären. Jedoch sein Freund, ein Indianer, seiner Sippe zugehörig, aus demselben Stamme, in der gleichen Umwelt, unter den gleichen Traditionen und Sitten aufgewachsen wie er, versteht das Handeln, versteht die Gründe; aber auch er könnte sie niemandem verständlich machen, der nicht so eng zu der Rasse gehört, dass er ohne erklärende Worte die Gründe einer Handlung in seiner Seele versteht. Der zivilisierte Indianer und der Indianer der Städte stehen dem primitiven Indianer genau so fern im instinktiven Nachfühlen verborgener und unerklärbarer Gründe von Handlungen wie ein Europäer.
Gesetze werden so gemacht, dass sie dem Durchschnitt angepasst werden können. Gesetze in einer europäischen Nation, die in Rasse, Sprache, Grundreligion, Geschichte und Sitten einheitlichen Charakters ist, soweit eine solche Einheitlichkeit überhaupt je erreicht werden konnte, kommen, wenigstens scheinbar, einer aufgepuderten Gerechtigkeit nahe. Geschickt geleitete Erziehung durch Staat und Kirche machen die Menschen glauben, dass sie eine gerechte Gesetzgebung haben. Dieser Glaube der Staatsbürger ist notwendig, damit Gesetze respektiert werden. Gesetze, die von der Mehrheit als ungerecht angesehen werden, lassen sich für die Dauer nicht aufrechterhalten. Werden sie gewaltsam in Kraft gehalten, führen sie zu Revolutionen.
Wie gut aber auch Gesetze sein mögen, in einem Lande wie Mexiko können die allgemeinen Landesgesetze immer nur für einen geringen Teil der Gesamtbevölkerung gerechte Gesetze in ihrer Wirkung sein. Die Gesetze in Mexiko setzen, wie es überall Gesetze tun, eine Bevölkerung voraus, die in ihrer Bildung, in ihrer Rasse, in ihrer Sprache, in ihren Traditionen, in ihren Sitten, in ihrer ökonomischen Struktur einheitlich ist. Infolge der Anwendung dieser Landesgesetze auf die gesamte Bevölkerung ohne Unterschied und ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit in der Zusammensetzung des Volkes aus zahlreichen, in jeder Hinsicht voneinander getrennten Schichtungen geben diese Gesetze die Möglichkeit, Ungerechtigkeiten in unerhörten Ausmaßen zu begehen, ohne dass sie als Ungerechtigkeiten nach dem Landesgesetz gelten können.
Der Mord, den ein zivilisierter Mexikaner begeht, ist nach dem Gesetz derselbe Mord, den ein Indianer begeht, der in seiner Seele, seinen Empfindungen, seinen wirtschaftlichen Lebensbedingungen gar keine Ähnlichkeit mit dem zivilisierten Mexikaner aufweist. Der Mord, den ein Indianer begeht, wurzelt in Motiven, die der zivilisierte Mexikaner weder kennt, noch fühlt, noch versteht. Der Zivilisierte weiß, dass das Gesetz ihn schützt, und dass es ihn rächt, wenn jemand an ihm ein Unrecht begangen haben sollte. Der Indianer dahingegen hat ein solches Verständnis für das Gesetz nicht. Fühlt er sich beleidigt oder bestohlen oder nichtswürdig behandelt, so ist das Gleichgewicht in seinem Gefühl für Gerechtigkeit und für Vergeltung nicht dadurch wiederhergestellt, dass ein Richter in einer weit entfernten Stadt den Mann, der an diesem Indianer irgendein Unrecht verübte, mit einem Jahr Gefängnis bestraft. Selbst dann fühlte er die Harmonie in Untat und Vergeltung nicht erreicht, wenn der Mann, der seinen Sohn erschlug, irgendwo im Lande dafür zum Tode verurteilt und erschossen wird.
Der Caballero kann nur weiterleben, wenn er den Schänder seiner Ehre im Duell erschlagen hat, oder, wenn er ihn nicht erschlagen kann, zieht er es vor, selbst erschlagen zu werden. Es genügt ihm nicht, dass ein Richter, der diese Ehrenschändung als alltäglich betrachtet, den Beleidiger mit einer Geldstrafe oder mit vier Wochen Gefängnis bestraft. Diese Ansicht des Caballeros ist primitiv. Vielleicht. Aber dann ist die Beleidigung einer Nation durch eine andere Nation gleichfalls primitiv. Dennoch ziehen hochzivilisierte Völker heute noch in den Krieg. Solange sie das tun, kann der unbegreiflich erscheinende Mord eines Indianers nicht von einem Außenstehenden beurteilt werden.
Der Mord, den ein Indianer in seiner Kommune begeht, ist niemals ein Raubmord, wie weit auch immer dieser Begriff ausgelegt werden mag. Das Verbrechen, das ein Mensch begeht, der Ursache, Zweck, Wert und Wirkung von Gesetzen kennt, ist nicht das gleiche Verbrechen, das ein primitiver Indianer begeht. Ja, es ist nicht einmal dasselbe Verbrechen, das ein wenig gebildeter, hart arbeitender und schlecht bezahlter Proletarier in einem zivilisierten Lande begeht.
Eine Börsenschiebung ist ein Raub, sie ist ein Taschendiebstahl. Die Börsenschiebung ist gesetzlich zulässig, der Taschendiebstahl wird bestraft. Jedoch in beiden Fällen werden Unvorsichtige beraubt von dem, der zupackt. Spekulation in Kaffee und Getreide, wobei die Erzeuger dieser Produkte ihr Land und alles, was sie sonst an Eigentum besitzen, verlieren, ohne dass sie etwas dazu tun können, um jene Spekulation zu verhindern, ist gesetzlich zulässig. Das Stehlen eines Sackes Kaffee oder eines Sackes Getreide aus dem Lager des Spekulanten dagegen ist schwerer Einbruch und wird hart bestraft. Beide Handlungen, die Spekulation wie auch das Stehlen eines Sackes Kaffee, sind sowohl in der Absicht als auch im Effekt auf die Betroffenen durchaus gleich. Vor dem Gesetz aber gilt das eine als einwandfreies und gesetzlich geschütztes Geschäft, das andere jedoch als Raub. Diese Ungerechtigkeit oder, genauer gesagt, diese Unvollkommenheit in den Gesetzen sehen wir ein, verstehen wir und können wir besprechen. Sowenig wie der Getreideproduzent sich vom Gesetz geschützt sieht gegenüber dem Raub der Spekulanten, sowenig sieht sich der Indianer durch ein Gesetz vergolten, das mit keinem Worte, mit keiner Idee es vermag, auch wenn es so wollte, ihm die Harmonie seines Lebens wiederzugeben, die durch eine Handlung seines Nachbars zerbrochen wurde. Der Indianer mag einem Weißen, der keine Beziehung zu seinem Leben hat, eine Tat vergeben, die er seinem Nachbarn nicht vergeben kann. Er weiß und fühlt, dass der Weiße in einer anderen Welt lebt. Darum beurteilt er ihn milde. Seinen Nachbarn dagegen beurteilt er hart und gerecht; denn von seinem Nachbarn weiß er, dass ihm seine Sitten und Gefühle vertraut sind wie seine eigenen.
Und über einen Mord und Mörder, verwachsen in solcher schwierigen Umgebung, war Don Gabriel, kraft seines Amtes, zum Richter gesetzt.

 

11

Nach der Auffassung, die unter der Diktatur galt, unterscheidet sich ein Indianer von einem Tiere nur dadurch, dass er sprechen kann. Er hat weder menschliche Rechte noch eine menschliche Seele. Die Handlungen der Beamten gegenüber dem unzivilisierten Indianer müssen aus dieser Auffassung heraus verstanden werden. Sie dürfen dem Mexikaner, aufgewachsen und erzogen im Geiste jener Diktatur, nicht derart angerechnet werden, um über ihn ein Urteil zu fällen hinsichtlich dessen, was in ihm gut oder böse ist. Im zivilisierten Rom Sklaven oder Christen den Löwen vorzuwerfen und sich in der Arena an diesem ungleichen Kampfe zu erfreuen, galt durchaus so sittlich und moralisch gerechtfertigt, wie es heute als durchaus gerechtfertigt angesehen wird, dass der Staat Menschen gegen ihren Willen in die Armee einreiht, sie mehr oder weniger unmenschlich behandelt, ihren Willen und ihre Freiheit gewaltsam bricht und sie gegen ihren Willen auf Befehl des Landespräsidenten in die Arena gegen die Armee eines anderen Landes schickt, um hier zu morden und sich morden zu lassen für Dinge, die dem Proletarier, der die Masse der Arenasklaven zu stellen hat, ebenso gleichgültig sind, wie dem Sklaven in der Arena die Zahl der Zuschauer und die Höhe der vereinbarten Eintrittsgelder gleichgültig sind und sein müssen, weil sie an seinem Schicksal sowenig ändern, wie an dem Schicksal des Proletariers geändert wird, der im Kriege verblutet. Er kämpft für das Schicksal der Überlebenden, die auf den Ausgang des Kampfes in der Arena gewettet haben.
Das Unrecht, das die Diktatur an dem Indianer beging, beruhte nicht darin, dass sie den Indianer als ein sprechendes Tier betrachtete, sondern darin, dass sie nichts dazu tat, den Indianer aus jener unzivilisierten Stufe so hoch zu erheben, dass jeder Mensch in dem Indianer wenn auch vielleicht nicht einen
Bruder, so aber doch ein menschliches Wesen von gleicher Art und gleicher seelischer Zusammensetzung wie die eines zivilisierten Mexikaners erblickte. So besteht auch das Unrecht der Staaten und ihrer Regenten nicht so sehr darin, dass sie Landesangehörige gegen ihren Willen, gleich Sklaven, in die Arena der Kriege schicken, sondern dass sie ihre Landesangehörigen nicht auf eine solche Stufe der Zivilisation erheben, dass sie sich weigern, sich als willenlose Herde von Sklaven gebrauchen zu lassen. Das würde freilich die Staaten zwingen, so gute Gründe für die Notwendigkeit eines Krieges nachzuweisen, dass die Landesangehörigen freiwillig ihren Staat verteidigen, und dies um so williger, je berechtigter sie, auf Grund ihrer Zivilisation, die Entscheidung ihrer Staatsmänner ansehen.

 

12

Don Gabriel überlegte, ob er aus dem Mord nicht irgendwie Geld für sich machen könnte. Aber weder er noch Don Mateo sahen hier eine Möglichkeit offen, die Einnahmen des Sekretärs zu erhöhen. Ob der Mann einen anderen Indianer oder zwei Dutzend Indianer ermordet hatte, das war ihnen gleichgültig. Tausend Indianer dieser Sorte mehr oder weniger in der Welt machte für Mexiko keinen Unterschied in seiner wirtschaftlichen Lage; und weil tausend Indianer dieser Art erst recht keinen Unterschied ausmachten in den persönlichen Einnahmen eines Gouverneurs oder eines Generals oder eines Steuerverwalters, so war ihr Fehlen oder ihr Vorhandensein nicht wichtiger als das Fehlen oder das Vorhandensein von tausend Stück Wild in den Savannen oder in den Wäldern. Die revolutionäre Regierung, zwanzig Jahre nach dem Fall der Diktatur, zählt den Indianer, jeden Indianer, als mexikanischen Bürger, dessen Rechte gleichstehen mit jedem anderen Bürger, für dessen Wohlergehen sich die Regierung verpflichtet fühlt und dem sie ertragfähiges Land zuweist, wo immer das Bedürfnis vorliegt. Wo die Handlungen des Indianers, die er innerhalb seiner Kommune begeht, nicht in Konflikt kommen mit den Rechten, der Sicherheit und dem Leben anderer Menschen, die außerhalb jenes engen Kreises stehen, lässt die Regierung den Indianern freie Hand, ihre Händel unter sich zu schlichten, und sie greift nur dann ein, wenn sie zur Entscheidung angerufen wird. Nur wird leider auch hiervon Gouverneuren, Generalen und anderen Beamten in fernen Distrikten auch jetzt noch nur zu oft nach dem System des Diktators gewirtschaftet, gerichtet und gehandelt, ein System bekannt unter dem Namen Caciquismo.
Don Gabriel gedachte den Mann mit fünfzig Pesos Multa zu bestrafen. Er hätte diese fünfzig Pesos natürlich gern gehabt.
Aber der Indianer hatte sie nicht. Er hätte sie auch in drei Jahren nicht aufbringen können, wenn Don Gabriel ihm die Summe mit weiteren fünfzig Pesos Zinsen geliehen haben würde. Don Gabriel versuchte es; aber der Mann konnte keinen Bürgen beibringen. Niemand wollte für ihn Bürge sein, weil die Möglichkeit sehr nahe lag, dass der Mann von einem Angehörigen des Ermordeten als Vergeltung wieder erschlagen wurde und der Bürge für die Summe einstehen musste.
Blutrache kennt der Indianer nicht, von wenigen kleinen Stämmen vielleicht abgesehen. Erschlägt ein Indianer einen anderen, so weiß das ganze Dorf, warum der Mord geschah. Jeder kennt die Gründe in ihrem ganzen Umfange, in ihrem Entstehen, in ihren sittlichen oder traditionellen Motiven. Wird der Mord nach jenen Motiven als gerechtfertigt und unvermeidlich beurteilt, so wird weder der Bruder noch der Vater, noch der Sohn des Ermordeten den Mörder verfolgen. Die Meinung herrscht, dass der Erschlagene sein Los verdient hat und dass er es sich durch sein Verhalten selbst zugezogen hat.
Es kann freilich geschehen, dass ein Angehöriger der Sippe, der vielleicht besser die wahren Gründe kennt, die Meinung des Dorfes nicht teilt. Er sinnt auf Vergeltung und verübt sie, sobald sich ein Anlass bei einer Streitigkeit in der Trunkenheit oder auf einem Feste dazu findet.
Ist die allgemeine Ansicht des Ortes die, dass der Mord zu Unrecht geschah, so weiß es der Mörder, wenn er aus seiner Trunkenheit erwacht oder sich aus seiner Wut erholt, ganz von selbst. Er nimmt seine Familie und verlässt freiwillig das Dorf. Niemand verfolgt ihn. Geht er jedoch nicht, sondern bleibt er im Orte wohnen, als wäre nichts geschehen, so findet man ihn, ehe der Mond sich voll geändert hat, eines Tages erschlagen im Busch oder auf seinem Acker.
Ist die Meinung im Dorf in der Weise geteilt, dass die eine Sippe erklärt, der Mord sei ungerechtfertigt, die andere dagegen erklärt, der Täter glaube, im Recht zu sein, oder er war bewusstlos betrunken, oder er handelte übereilt, und es reut ihn jetzt, dann wird ihm vom Häuptling angeraten, das Dorf zu verlassen und sich weit draußen im Dschungel anzusiedeln. Folgt er diesem Rat, dann sind alle Familien im Ort mit ihm ausgesöhnt. Es wäre einfach gewesen, den Mörder dem Jefe des Ortes zu übergeben. Aber Don Gabriel sah sich in einer Lage, wo er das nicht tun konnte.
Er war von den Männern gerufen worden, den Mörder, der sich in einer solchen Trunkenheit befand, dass er jeden zu erschlagen drohte, der ihm zu nahe kam, ins Gefängnis zu setzen zur Sicherheit des Ortes.
Hätte er ihn jetzt ohne weiteres herausgegeben, so würde er an seiner Autorität eingebüßt haben. Diese Autorität gebrauchte er aber, um Geschäfte zu machen. Er würde vielleicht gar den Eindruck erweckt haben, dass er Furcht vor dem Mörder oder vor dessen Sippe habe. Aber Furcht durfte er nie zeigen, wenn er hier Sekretär bleiben und Extrasteuern und Geldstrafen aus dem Ort herauswirtschaften wollte.
Den Mann mit zehn Pesos zu bestrafen, eine Summe, die er vielleicht irgendwie hätte beschaffen können, wäre unklug gewesen. Es konnte darauf geschehen, dass Händler oder Reisende überfallen und ermordet wurden in der Gewissheit, dass mit zehn Pesos Geldstrafe der Sekretär die Sache beilegen und vergessen würde, während man gleichzeitig bei dem Raube hundert Pesos, die der Händler bei sich führte, gewinnen könne. Die Gedankengänge unzivilisierter Indianer, wie die der meisten unzivilisierten Menschen, sind oft recht merkwürdig; aber sie haben stets irgendwo einen durchaus verständlichen Ausgangspunkt. Dasselbe, was auch Richter und Polizeiinspektoren, die nicht genau wissen, was sie mit einem Verhafteten anfangen sollen, in anderen Ländern tun, das tat nun Don Gabriel hier. Er ließ den Mann erst einmal ruhig einige Zeit im Gefängnis sitzen, ohne ihm zu sagen, was er mit ihm zu tun gedenke, in der Hoffnung, dass sich irgend etwas ereignen möchte, das ihn entweder überhaupt davor bewahrte, eine Entscheidung zu treffen, oder das ihm eine Entscheidung in die offene Hand legte.

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