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B. Traven - Regierung (1931)
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ACHTES KAPITEL

1

Don Gabriel ließ seine Frau in Jovel zurück, wo sie ein Haus mietete, um hier ein neues Heim aufzuschlagen. Sie war über alle Maßen froh darüber, dass ihr Mann seine Stellung als Sekretär aufgegeben hatte und dass sie nicht mehr zurückzugehen brauchte in den indianischen Ort, wo sie ständig glaubte, der großen Einsamkeit wegen früh sterben zu müssen. In der Stadt war sie wieder unter ihresgleichen. Sie lobte ihren Mann, dass er so geschickt auf seinen wirtschaftlichen Vorteil bedacht gewesen sei, als sich ihm eine Gelegenheit bot, in ein ehrliches und christliches Geschäft einzutreten. Sie erkannte, dass ihre wirtschaftliche Zukunft jetzt endlich gesichert war. Daraufhin unternahm sie große Einkäufe an Möbeln, Kleidern und Hausgeräten. Es wurde ihr willig geborgt, als die Händler hörten, in welch ein sicheres und ertragreiches Geschäft Don Gabriel gerutscht war. Auf Empfehlung des Don Ramon hin bekam Don Gabriel sofort reichlichen Kredit von den Vertretern der Monterias, die in Tabasco ihre Hauptbüros unterhielten. Denn so willig, wie die Agenten arbeitskräftigen Indianern Kredite gaben, ebenso willig gaben die Kompanien und deren Vertreter den Agenten hohe Kredite. Empfangene Kredite waren größere Sicherheiten als geschriebene Verträge. Kredite mussten abgearbeitet werden, nicht nur von Indianern, sondern auch von Agenten. Je höher der gegebene Kredit war, den ein Agent besaß, um so kräftiger bemühte er sich, allgemeine und besondere Wünsche der Kompanien zu erfüllen. Don Gabriel war nunmehr ein Glied in der Kette, die von den Tiefen des
Dschungels bis zum Boudoir der Filmschauspielerin und dem Konferenzsaal eines Ministerrats reichte. Die Kette lief, und jedes Glied musste folgen, ob es wollte oder nicht.

 

2

Zwei Wochen war Don Gabriel auf der Reise gewesen. Während dieser Zeit hatte er seinen Bruder, Don Mateo, als stellvertretenden Sekretär im Ort zurückgelassen.
Don Mateo hatte diese zwei Wochen heftig ausgenützt. Er wollte zeigen, wie regiert werden müsste. Seiner Meinung nach hatte sein Bruder keine Idee von Regieren.
Sechs Mann waren im Gefängnis, die Don Mateo Trunkenheit wegen eingesperrt hielt, nachdem er ihnen reichlich Branntwein verkauft hatte, als sie bereits im Zustand von Trunkenheit waren. Jeden Mann bestrafte er mit fünf Pesos Multa für Störung des öffentlichen Friedens. Er wartete jetzt darauf, dass die Verhafteten oder ihre Verwandten das Geld beibrächten, damit sie das Gefängnis verlassen konnten.
Er ließ die Leute nicht müssig in der Carcel sitzen. Er schickte sie in den Busch, wo sie Holz schlagen mussten, das er zu verkaufen gedachte, sobald sich Gelegenheit dafür fände. Das Essen für die Leute hatten ihre Frauen oder Mütter zu liefern. Die Zahl der Gefangenen, die er im Laufe von zwei Wochen gemacht hatte, war bis auf fünfzehn gekommen. Jedoch die übrigen hatten die Multa zu bezahlen. Das waren fünfundvierzig Pesos in seine Tasche. Er verstand zu regieren.

 

3

Es war noch etwas anderes inzwischen geschehen. Als Don Gabriel ankam, fand er seinen Bruder mit einem verbundenen Arm herumlaufend.
»Wo hast du denn das weggekriegt?« fragte ihn Don Gabriel.
»Ja, was denkst du dir, wo ich das abbekommen habe?« fragte er. »Eines deiner Schäflein hat mich mit dem Machete erschlagen wollen. Aber ich habe den Hieb noch rechtzeitig mit meinem Arm auffangen können. Da siehst du, was du dir für eine Mörderbande hier erzogen hast. Wäre ich so lange Zeit Secretario hier gewesen wie du, dann hätte ich Ordnung geschafft. Dann könnte so etwas nicht vorkommen. Das sage ich dir, mein Brüderchen. «
»Warum hat dich denn der Bursche erschlagen wollen?«
»Wegen nichts. Wegen rein gar nichts. Aufsässig und rebellisch ist dieses verlauste Mörderpack hier. Das ist die ganze Sache.« Don Gabriel wusste, dass die Leute niemand zu erschlagen suchen, solange sie keinen klaren Grund haben. Aber er fragte nicht weiter. Er kannte seinen Bruder genügend, um zu wissen, dass er auf keinen Fall eine genaue Antwort erhalten würde.

 

4

Als der Jefe vernahm, dass Don Gabriel zurück sei, kam er, um ihn zu begrüßen. Und als die beiden allein waren, erfuhr Don Gabriel die Geschichte.
Ein junges Indianermädchen, dessen Vater und Mutter gestorben waren und das jetzt mit ihrem Onkel und ihrer Tante lebte, war in den Laden gekommen, um Zündhölzer zu kaufen. Sie gefiel Don Mateo, und er gab dem Jefe den Befehl, jenes Mädchen während des Tages in den Cabildo zu schicken, um für ihn zu kochen, weil er, Don Mateo, angeblich das Essen nicht verdauen könne, das die Köchin koche, die für Don Gabriel und dessen Frau im Hause arbeitete.
Das Mädchen war nur zwei Tage im Hause, als Don Mateo einen Angriff auf sie verübte, nachdem er stundenlang versucht hatte, mit schmierigen Worten und mit einigen Seidenbändern, die im Laden waren, von dem Mädchen Gefälligkeiten zu erwischen. Bei seinem gewaltsamen Angriff kam er nicht ganz zu seinem Ziel, nur zur Hälfte etwa. Das Mädchen lief schreiend aus dem Hause, ihren Rock in Fetzen.
Indianische Mädchen sind so zurückhaltend, dass sie über einen solchen Vorfall zu niemand reden. Vielleicht nur zu ihrer Mutter. Aber jeder Mensch im Orte, und ganz besonders die nächsten Angehörigen ihrer Sippe, wussten und verstanden sofort, was geschehen war. Das Mädchen war einem jungen Burschen seit zwei Jahren versprochen. Der Bursche arbeitete hart, um das Geld für die Geschenke an den Onkel des Mädchens und für die Hochzeit zusammenzubringen.
An dem Tage, als der Angriff auf das Mädchen geschah, war der Bursche im Busch gewesen, um Schlangen zu fangen, deren ausgegerbte Häute gut bezahlt wurden.
Am späten Abend, in schwarzer Dunkelheit, ging Don Mateo vor die Tür. Aus der Nacht heraus sprangen zwei Mann auf ihn zu, die mit dem Machete auf ihn einhieben. Da er die Tür offengelassen hatte, konnte er rasch ins Haus schlüpfen. Und das rettete ihm das Leben. Aber zwei gute Hiebe saßen ihm im Arm. Wer die beiden Angreifer gewesen waren, konnte weder er noch Don Gabriel aufklären. Sowohl der Bursche als auch der Onkel befanden sich im Hause des Cacique, und genau in jenem Augenblicke, als Don Mateo die Wunden erhielt. Das war sehr geschickt von den beiden gehandelt. Der Verlobte und der Onkel wären mit Sicherheit in den Verdacht gekommen, den Angriff auf den Beamten, der Don Mateo in jener Zeit war, verübt zu haben. Darum hatten sie sich zu einem freundschaftlichen Besuche bei dem Cacique eingefunden. Die Angelegenheit selbst wurde von Sippenangehörigen besorgt, auf die kein Verdacht fallen konnte. Die Sippen und Verwandtschaften kennen sich gegenseitig gut aus. Es ist aber schwer, wenn nicht gar aussichtslos, für Leute, die nicht zu den Indianern des Ortes gehören, herauszubekommen, wer zu welcher Sippe gehört und welche Burschen und Männer Blutsfreunde sind.

 

5

»Ich hätte nicht gedacht«, sagte Don Gabriel zu seinem Bruder, »dass du so ungeschickt sein könntest. Du solltest doch die Leute und deren Art nun wirklich genügend kennen, um solche Dummheiten zu vermeiden. Ein jungfräuliches Mädchen ist immer eine böse Sache hier. Ein Indianer respektiert sie, weil er weiß, dass es sein Leben kostet. Du kannst wirklich froh sein, dass du noch so gut davongekommen bist. Ich denke überhaupt, es ist nun wohl Zeit, dass du dich aufmachst. Du bist nicht länger mehr sicher hier, nicht im Ort, nicht auf den Wegen. Nur gerade hier im Cabildo.« Don Mateo setzte sich auf den Tisch, schaukelte mit den Beinen und sagte mit schiefem Munde: »Das hat mir noch gefehlt, dass du mich hier hinauswirfst. Schöner Bruder bist du mir! Aber tut nichts. Ich kann dir sagen, ich bin bereits halb auf dem Wege. Vorgestern kam Don Belisario hier durch, der syrische Händler. Er hat mir gute Nachricht gebracht. Der Polizeichef, mit dem ich Schüsse in Balun Canan wechselte, ist nach Huixtla versetzt worden, weil sein Compadre, den er dort hat, Bürgermeister geworden ist. Don Belisario sagte mir auch, dass der Chef mir nichts mehr nachträgt von wegen der Schießerei. Er ist lange wieder gut auf den Beinen. Übermorgen ziehe ich ab und reite hinunter nach Balun Canan. Da wird ja nun sicher etwas für mich offen sein. Vielleicht mache ich jetzt selbst den Polizeichef. Das Eisen werden wir schon sauber feilen. Nur keine Sorge.«
»So war das nun nicht gemeint mit dem Hinauswerfen«, sagte Don Gabriel ruhig. »Du weißt recht gut, dass ich meinen Bruder nicht ersaufen lasse, wenn er in Not ist. Was ich sagen wollte, ist nur, dass es für dich besser ist, du gehst. Ich habe heute hier genug gehört. Du bist völlig durch im Ort. Alle, ohne Ausnahme, haben dich schwer auf dem Korn. Ich weiß nicht, wie du das in den kurzen zwei Wochen so schön fertig gebracht hast. Ich will es nicht wissen. Das Geld, das du während meiner Abwesenheit hier herausgeholt hast, magst du behalten. Für die Reise.«
Don Mateo lachte laut heraus: »Ja, hast du vielleicht gedacht, dass ich dir das Geld gebe? Wenn du das gedacht hast, dann bist du ein Esel, Brüderchen. Das Geld habe ich hart und schwer genug verdient. Würdest du das ebenso machen, wie ich es dir gezeigt habe während der zwei Wochen, dann könntest du dir in zwei Jahren die schönste Finca im Staate kaufen. Aber so dumm, wie du geboren wurdest, so dumm bist du bis heute geblieben. Für dich ist keine Hoffnung. Das meine ich nicht böse. Ich sage dir das nur, damit du das nun endlich einmal weißt.«
Don Gabriel hatte seinem Bruder nichts davon gesagt, dass er jetzt Arbeiteragent geworden sei und damit einen Posten habe, nach dem Don Mateo springen würde wie ein Bock, der drei Monate eingeschlossen war, wenn er die erste Ziege sieht, nachdem er wieder frei ist. Er hatte es ihm jetzt sagen wollen. Da aber das Gespräch eine andere Wendung genommen hatte, hielt es Don Gabriel für klüger zu schweigen. Irgendein unbedachtes Wort hätte Don Mateo auf eine Idee bringen können, die dem neuen Geschäft nicht günstig war. Er wollte nicht unnötig einen unbequemen Konkurrenten aufziehen helfen.

 

6

Don Mateo konnte am folgenden Morgen nicht abreiten. Er fand keinen Burschen, der ihn begleitete. Alle Männer, die Don Gabriel im Orte aufsuchte, gaben irgendeine glaubhafte Ausrede, dass sie nicht gehen könnten, weil sie entweder in ihrer Milpa, ihrem Maisfeld, zu arbeiten hätten oder weil sie einen lahmen Fuß hätten oder weil ihre Frau krank sei oder weil sie sonst irgend etwas nicht vernachlässigen könnten.
Don Gabriel ersah daraus, dass keiner seinen Bruder begleiten wollte. Er versprach einen halben Peso Tagelohn für die Hinreise und einen halben für die Rückreise. Aber selbst das verlockte niemand, Don Mateo als Bursche zu begleiten. Am Nachmittag jedoch kam ein anderer arabischer Händler durch den Ort, der nach Achlumal reiste. Von Achlumal nach Balun Canan sind nur zwei Tagereisen zu Pferde, und auf dem Wege sind Ranchos, Fincas, Gehöfte und sogar einige kleine Ortschaften. Der Weg war einsam nur bis Achlumal. So beschloss Don Mateo, mit diesem Händler, Don Elias, bis Achlumal gemeinschaftlich zu reisen und von dort aus allein, vorausgesetzt, dass er in Achlumal keinen Burschen bekam. Was nun auf dem Weg nach Achlumal geschah, erfuhr Don Gabriel erst vier Jahre später, als er gelegentlich einmal jenen Händler in Yalanchen traf. Während jener vier Jahre hatte Don Gabriel in dem Glauben gelebt, sein Bruder sei in Balun Canan wohlbehalten zu guter Zeit angekommen. Dass sein Bruder ihm seine Ankunft brieflich oder Telefonisch mitteilen würde, hatte Don Gabriel ja gar nicht erwartet. Außerdem war er selbst vier Wochen später von dem Ort weggekommen und seitdem als Agent herumgezogen, so dass es leicht möglich schien, dass ein Brief seines Bruders, falls er wirklich geschrieben haben sollte, ihn verfehlt hätte.

 

7

Don Mateo war mit Don Elias früh am Morgen abgeritten. Obgleich der Weg bis Hucutsin sehr einsam war, so geschah auf diesem Wege nichts. Die beiden Reisenden kamen mit zwei Tragtieren des Händlers am dritten Tage, am frühen Nachmittag, in Hucutsin an.
Der Händler hatte hier einige Geschäfte zu erledigen und Geld, das man ihm am Orte von früheren Verkäufen her schuldete, einkassiert. Darum blieben die beiden hier einen vollen Tag. Am nächsten Tage zogen sie weiter, hin auf dem Wege nach Achlumal. Der Weg ist einsam. Es liegen am Wege einige große Fincas, die so groß sind, dass man von dem Herrenhaus der einen etwa vier Stunden bis zum Herrenhaus der andern zu reiten hat. Einige kleine Ranchos, deren Besitzer Indianer oder Halbindianer sind, liegen abseits von dem Wege. Als die Reisenden den Jatate-Fluß durchkreuzt hatten und auf schmalem Pfad durch dichten Busch ritten, bemerkten sie, dass zuweilen, bald links von ihnen, bald rechts, Äste brachen, als ob jemand dort herumkröche. Zuerst dachten sie, es seien Kühe, die im Busch herumstreiften, um Blätter gewisser Bäume und Sträucher, die sie dem drahtigen Gras der Weiden vorzogen, abzustreifen. Aber bald wussten sie, dass es weder Kühe noch Antilopen sein könnten, was dort herumvagierte.
So kamen sie zu der Überzeugung, dass sie verfolgt würden. Don Elias bekam Furcht. Er glaubte, dass ihm Leute aus Hucutsin folgten, um ihm das Geld abzunehmen, das er dort einkassiert hatte. Er wollte umkehren. Aber Don Mateo sagte ihm, dass dies keinen Zweck habe, denn wenn man es auf sein Geld abgesehen habe, so könnten sie auf einem Rückmarsch ebenso gut überfallen werden, wie wenn sie weiter voranritten. Es war nichts  anderes  zu tun,  als  nun  auf dem  Weg weiterzureiten. Sie ritten nebeneinander, um sich zu unterhalten. Die beiden Packmules, die den Weg oft genug gegangen waren und ihn gut kannten, marschierten gemächlich voran, und die beiden Reiter folgten. Don Mateo redete scheinbar ruhig weiter, aber er beobachtete doch aufmerksam den Busch zu beiden Seiten, in der Hoffnung, vielleicht endlich einmal zu sehen, wer es sei, der ihnen hier auf der Lauer war.
Er ärgerte sich jetzt, dass er zusammen mit dem Händler aufgebrochen war. Er war überzeugt, dass die Banditen es nur auf das Geld des Händlers abgesehen hatten, aber dass sie, sobald sie eine geeignete Stelle für den Überfall gefunden haben würden, nicht nur den Händler ermorden würden, sondern auch ihn, um Zeugen zu beseitigen. Nach seiner Meinung wäre er zweifellos besser daran gewesen, wenn er allein geritten wäre. Die Packmules liefen nur im Schritt, ihrer Lasten wegen. So konnte er auch nicht gut austraben, um aus jenen Hohlpfaden, die am gefährlichsten waren, rasch hinauszustürmen, falls sich jemand in den Weg stellen sollte. »Da«, rief er plötzlich, seine Unterhaltung abbrechend, »da habe ich einen gesehen. Ist ein Indianer mit Schrotflinte.« Don Elias, sich Mut einredend, sagte mit heiserer Stimme: »Dann ist es nichts weiter. Das sind Indianer von einer Finca hier, die auf der Jagd herumstreifen. Wahrscheinlich haben sie die Fährten einer Antilope entdeckt.«
Don Mateo zog seinen Revolver, nahm die Zügel in die linke Hand und hielt den Revolver schussbereit in der rechten. Als sie so etwa hundert Schritte weitergeritten waren, blickte Don Mateo rasch zur rechten Seite und rief: »Steh, du Cabron, du Hurensohn, komm heraus da, oder ich schieße!« Die Bewegung in dem dichten Blätter- und Ästegewirr des Busches erstarb im Augenblick.
Don Mateo feuerte rasch hintereinander drei Schüsse in das verwickelte Grün, das sich bewegt hatte.
»Ich glaube, ich habe einen erkannt«, sagte er halblaut. »Er ist einer von Bujvilum. Ich habe ihn an dem Hute erkannt.
Verflucht noch mal, der Hundesohn, habe ich doch sein Gesicht nicht erwischen können! Vielleicht habe ich ihm eine versetzt.« Er stieg vom Pferde und ging auf die Stelle zu, auf die er geschossen hatte. Er bog die Zweige auseinander, sah aber nichts weiter, als dass dort wirklich jemand gestanden haben musste; denn von dem Gesträuch waren Zweige frisch abgebrochen, so frisch in der Tat, dass sie sich noch bewegten. Ehe er wieder aufsaß, zog er den Sattelgurt nach, stieß die drei leeren Hülsen der Revolverpatronen aus und lud drei neue Patronen ein.
Während er noch am Revolver hantierte, sah er zur linken Seite im Busch abermals eine Bewegung, und er rief laut: »Richtig, Don Elias, sind Burschen von Bujvilum, ich kenne die beiden.« Er feuerte sofort vier Schüsse in die Richtung. Dann ging er darauflos, um zu sehen, ob er getroffen habe.
Er verzögerte sich dabei, weil er tiefer in das Gebüsch eindrang, ständig mit dem Revolver in der Hand.
Don Elias war inzwischen weitergeritten, weil er seinen Packmules folgen musste, damit sie nicht etwa ausbrachen und sich irgendwohin verliefen, die Packen abscheuerten und abwarfen und er Ware und Mules verlor. Er war sicher, dass Don Mateo nachkommen würde; denn er kannte ja den Weg und war das Reisen im Busch gewohnt.
Als Don Elias dann am Nachmittag eine Finca erreichte, hielt er an, um zu warten.
Es wurde spät und später und wurde endlich Nacht. Don Elias ließ inzwischen seine Mules abladen und blieb über Nacht in der Finca, immer in der Hoffnung, dass Don Mateo noch eintreffen würde. »Nur keine Sorge um Don Mateo, Don Elias«, sagte der Finquero. »Der geht nicht zugrunde. Was geschehen ist, kann ich Ihnen sagen. Durch das Schießen ist sein Pferd wild geworden und ausgebrochen. Wahrscheinlich fegt es zurück bis nach Bujvilum. Natürlich sucht es Don Mateo. Er will weder sein Pferd verlieren noch sein Sattelzeug. Das ist klar. Der bleibt die Nacht über da in einem kleinen Rancho.«
»Aber da waren doch die Muchachos, die indianischen Burschen«, wandte Don Elias ein.
»Gespenster«, sagte der Finquero, aufs neue Comiteco in die Gläschen füllend und dabei lachend. »Die Muchachos tun niemand etwas zuleide. Alles gute Jungen. Lebe doch hier fünfzig Jahre. In Ruhe. Reite allein durch den Busch, wer weiß wie weit und wer weiß wohin.«
»Don Mateo aber rief mir noch zu, dass er die Burschen kenne, dass sie von Bujvilum seien«, sagte Don Elias. Der Finquero lachte noch kräftiger: »Daran sehen Sie ja allein schon, Don Elias, dass dies alles nicht richtig ist. Sie glauben doch nicht etwa im vollen Ernst daran, dass da ein halbes Dutzend Burschen drei oder vier Tage weit von ihrem Pueblo fortlaufen, um Don Mateo zu folgen. Das tun die nicht. Wenn sie wirklich hinter ihm her wären, dann lauern sie ihm eine Stunde außerhalb ihres Ortes am Wege auf. Die sparen sich jeden unnützen Marsch.« Don Elias aber beruhigte sich nicht damit. Er blieb den nächsten vollen Tag noch auf der Finca. Und der Finquero schickte drei Peones den Weg zurück, um zu sehen, ob sie vielleicht eine Spur von Don Mateo finden möchten. Die Burschen kamen am Abend zurück.
Sie sagten, sie hätten den Spuren des Pferdes folgend die Stelle gefunden, wo Don Mateo abgestiegen sei; denn neben den vielen Spuren des stehenden Pferdes waren auch die Spuren der Stiefel des Don Mateo zu sehen. Den Busch hatten sie auch an jener Stelle durchsucht; aber sie konnten nichts weiter bemerken, als dass dort einige Indianer mit Sandalen an den Füßen herumgestampft hätten. Endlich hatten sie noch sehr gut beobachtet, dass die Spuren des Pferdes wieder zurückgeführt hätten in die Richtung nach Hucutsin.
»Dann ist da keine Sorge vonnöten«, sagte der Finquero. »Das waren Burschen, die da im Busch jagten. Und es ist so, wie ich Ihnen schon gesagt habe, das Pferd ist der Schüsse wegen ausgebrochen und Don Mateo hinter ihm her. Es kann leicht geschehen, dass das Pferd bis nach Bujvilum zurücktrabt, wo es die letzten Wochen auf der Weide war. Und wenn Don Mateo sein Pferd und sein Sattelzeug wiederhaben will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in Hucutsin ein Pferd zu mieten und bis nach Bujvilum zurückzureiten. Es ist fraglich, ob er diesen Weg hier wieder nimmt. Wenn er von Bujvilum nach Balun Canan reisen will, hat er noch zwei andere Wege frei, nicht nur diesen hier. So könnten Sie hier lange warten, wenn Sie auf ihn warten wollen. Nehmen wir noch einen Comiteco, Don Elias.«
Weil dies alles nun recht klar war für Don Elias, so machte er sich keine weiteren Sorgen über den Verbleib des Don Mateo. Solche Vorfälle wie diese hier, dass ein Pferd ausbricht und Tagereisen weit zurück zu seiner Weide trabt oder sich gar auf eine fremde Weide verläuft, wo es sympathische Genossen antrifft, und der Reiter gezwungen ist, umzukehren, ohne seine Begleiter, die auf Pferden voraus sind, benachrichtigen zu können, weil sie glauben, dass er ihnen folge, kommen in der Tat so häufig vor, dass Don Elias keine Schuld beigemessen werden kann, wenn er sich bei der Rede des Finqueros völlig beruhigte. Als er endlich in Balun Canan angekommen war, erwarteten ihn zahlreiche Geschäfte und Sorgen, so dass er darüber auch noch den letzten Rest seines Nachdenkens über das mögliche Schicksal des Don Mateo vergaß. Alles das stieg wieder auf in seiner Erinnerung, als er vier Jahre später Don Gabriel traf, der ihm sagte, dass er nicht wisse, wo sein Bruder sei.

 

8

Don Mateo ist nirgends wieder aufgetaucht, und nie mehr hat irgend jemand von ihm und seinem Schicksal etwas gehört. Auch sein Pferd ist weder in Bujvilum noch auf einer Weide je gefunden worden. Wäre es irgendwo mit dem Sattel auf dem Rücken gefunden worden, so wäre darüber sicher von dem Finder an die Nachbarschaft berichtet worden. Aber das Pferd konnte auch den Sattel abgestreift haben, nachdem der Gurt durchgescheuert war. Ferner ist es auch möglich, dass das Pferd an einem kleinen einsamen Rancho vorbeikam. Der Ranchero nahm das Pferd auf und wartete einige Wochen. Er ließ das Tier endlich frei, und es suchte sich irgendwo eine Weide, während der Ranchero den Sattel und das Zaumzeug weiter aufbewahrte. Als sich niemand darum bekümmerte, gewöhnte er sich an den Gebrauch des Sattelzeuges und vergaß endlich ganz, dass es jemand anders gehören könnte. Da er sehr weit von irgendeiner Stadt wohnte, hatte er immer genügend Entschuldigung, den Fund zu verschweigen; denn er hatte keine Verpflichtung, eine weite Reise zur nächsten Behörde zu unternehmen, um über den Fund zu berichten. Auch das Brandzeichen des Tieres lässt sich mit einiger Geschicklichkeit ändern. Und was Gott einem frommen Christen so freundlich als gern gesehene Gabe ins Haus schickt, soll man nicht verschmähen; um Himmels willen nicht, denn das wäre ja Sünde.
Als Don Gabriel von dem Schicksal seines Bruders nach vier Jahren hörte, trauerte er nicht sehr um ihn. Es war zu lange her, um Tränen zu vergießen. Er machte sich auch nicht die Mühe, den Busch an jener Stelle, wo Don Mateo zuletzt gesehen worden war, abzusuchen, um seinen Bruder christlich zu bestatten. Er wusste, es war vergebliche Mühe, nach so langer Zeit erfolgreich nach einem Kadaver zu suchen. Wenn er unter die Erde gelegt worden war, was als sicher angenommen werden musste, damit nicht Hunde, die mit ihrem Herrn auf der Jagd waren, die Spur aufstöbern konnten oder Geier den Ort verrieten, so war über jene Erde genug Gesträuch gewachsen, dass auch nicht ein Schimmer von Hoffnung blieb, den Körper zu finden.
Vielleicht gar nach Bujvilum zu reisen und dort herumzufragen, welche Burschen an jenem Tage nicht im Ort gewesen seien, also im Verdacht standen, Don Mateo verfolgt zu haben, war aussichtsloser, als nach dem Körper zu suchen. Denn dass die Burschen Don Mateo so weit gefolgt waren, um zu vermeiden, ihn im selben Bezirk zu morden, war des Beweises genug, dass sie sehr geschickt und sehr wohlüberlegt gehandelt hatten, um das Strafgericht zu vollstrecken. Selbst wenn sie zufällig von einem Ranchero auf jenem Wege, wo der Überfall geschah, gesehen worden wären, so waren sie vor jeder Entdeckung sicher, weil sie, soweit von ihrem Orte entfernt, völlig unbekannt waren. Und was hätte es geholfen, wären die Burschen nach so langer Zeit entdeckt worden? Don Mateo kam nicht wieder zum Leben, ob die Burschen füsiliert wurden oder nicht.
So beruhigte sich auch Don Gabriel leicht über den Verlust seines Bruders, und er ehrte sein Andenken dadurch, dass er für die Rettung der Seele des Verschwundenen eine Messe für achtzehn Pesos in der Kathedrale von Jovel lesen ließ. Damit hatte Don Gabriel seine Pflicht gegenüber seinem Bruder in reichem Maße erfüllt.

 

9

Nachdem Don Mateo an jenem Morgen fortgeritten war von Bujvilum, ging Don Gabriel zum Gefängnis, öffnete es und ließ die Burschen, die Don Mateo hier gefangen hielt, heraus. Er fragte sie, warum sie festgesetzt worden seien. Jeder sagte dasselbe. Er sei ein wenig betrunken gewesen, aber nicht sehr, und er habe niemand im Orte erschlagen und niemand mit dem Machete verwundet.
Als Don Gabriel sich sorgfältig davon überzeugte, dass keiner der Verhafteten in der Lage sei, eine Multa auch nur von einem Peso bezahlen zu können, weil sie sehr dürftige Äcker und große Familien hatten, da beschäftigte er sie im Hause mit dem Zusammenpacken der wenigen Habseligkeiten, die er und seine Frau hierher mitgebracht hatten, als er das Amt antrat. Dann bestimmte er, dass sie als Strafe für ihr Vergehen, und damit sie keine Multa zu bezahlen brauchten, die Sachen aufzupacken und nach Jovel zu tragen hätten.
Es würde Don Gabriel ein hübsches Sümmchen gekostet haben, wenn er die Sachen auf gemieteten Mules die fünf oder sechs Tagereisen weit, die ein solcher Transport dauerte, hätte fortbringen lassen müssen. Auf diese Art brachten ihm die verhafteten Indianer viel mehr ein, als wenn jeder von ihnen fünf Pesos Multa bezahlt haben würde. Er belobte sich für diese Geschäftstüchtigkeit, und mit gutem Recht.
Dann brachte er seine Steuerabrechnungen in Ordnung. Er tat das so vorzüglich, dass für die Regierung gerade nur ein Gnadengeschenk herauskam. Darauf war noch der Jefe Politico zu bedenken. Dessen Einnahmen fanden zu einem großen Teil ihre Quellen darin, dass die Sekretäre und Beamten, die er eingesetzt hatte, Steuern und andere Einkünfte so verrechneten, dass immer ein ansehnlicher Prozentsatz für ihn herauskam. Das ist ja der Grund, warum man seine Freunde und Verwandten zu Beamten macht, wenn man selbst in Würden sitzt.
Den Jefe Politico musste sich Don Gabriel warm halten, darum bearbeitete er die Verrechnungen mit den Steuerämtern der Regierung so geschickt, dass für den Jefe Politico bei weitem mehr heraussprang als für die Regierung. Er überließ es dem Jefe Politico, sich mit den Ämtern der Regierung ins reine zu setzen. Es wurde ja nichts nachgeprüft. Weil es unnötig Arbeit machte. Weil man sich nach allen Seiten hin damit nur Feinde schaffte. Don Gabriel rechnete zugunsten des Jefe Politico eine gute Summe für Inspektionsreisen an, die der Chef angeblich nach Bujvilum häufig gemacht hatte. In Wahrheit war er während der Amtszeit des Don Gabriel nur ein einziges Mal im Ort gewesen, weil er das Essen und die Ratten in den kleinen Ranchos, wo er auf dem Wege übernachten musste, fürchtete. Er unternahm die notwendigen Reisen in einer so geschickten Weise, dass er immer nur in den großen reichen Fincas die Nacht zubrachte, und wenn er es besonders gut antraf, blieb er gleich mehrere Tage in dem Herrenhaus einer Finca und reichte seine Berichte so ein, als habe er eine vier Tage weite Reise unternommen und sei dann am fünften Tage zu jener Finca zurückgekehrt. Was er zu berichten gedachte hinsichtlich der Gegenden, die er angeblich inspiziert hatte, ließ er sich von dem Finquero oder von Viehhändlern, die er auf den Wegen traf, erzählen. Als er die wunderschöne Abrechnung des Don Gabriel erhielt, fand er sie so sehr zu seinem Gefallen, dass Don Gabriel weite Grenzen in seiner Anwerbung von Indianern ziehen durfte, ehe er zu befürchten hatte, dass sich der Jefe Politico einmischen würde, um von Gesetzen und Konstitution zu reden. Er würde ja an sich von Gesetzen und Konstitution nicht gesprochen haben etwa mit der Absicht, die konstitutionellen Rechte der Indianer zu schützen, die volle Staatsbürger waren wie er selbst, sondern er würde die Fangleinen der Gesetze nur ausgeworfen  haben  mit  der  Absicht,  den  Werbeagenten
Schwierigkeiten zu bereiten, damit sie Gelegenheit haben sollten, sich von jenen Schwierigkeiten mit einigen Sümmchen freizukaufen. Wenn Arbeiteragenten so viel verdienten, dass sie sich in wenigen Jahren große Fincas kaufen konnten, um darauf wie europäische Herzöge zu leben, warum sollten dann der Jefe Politico und andere Beamte nicht auch ein wenig mit verdienen? Sie mussten ja doch die schwere und undankbare Aufgabe erfüllen, die Fundamente eines geordneten und erfolgreichen Geschäftes, das des Staates, zu zementieren und vor Erschütterungen zu bewahren.

 

10

Man kann wohl von Don Gabriel nicht gut sagen, dass er etwa lässig gewesen wäre. Er war ein fleißiger und tüchtiger Mann, auf den Staat und Kirche stolz sein durften. Es hatte ihm bisher nur immer an den rechten Gelegenheiten gefehlt, an Fundamenten zu bauen. Wenn man keinen Laden besitzt und keine Ware, so hilft es einem wenig, dass man ein guter Kaufmann ist. Es muss etwas zum Anfangen da sein.
Sobald er seine Berichte fertig hatte und die Steuerabrechnungen so weit stimmten, dass es für jeden Kontrollbeamten, so tüchtig er auch sein mochte, schwer war, herauszufinden, wo die Fehler zuungunsten des Berichterstatters lagen, begann er gleich, den zukunftsreichen Markt, der sich vor ihm aufgetan hatte, zu beleben, sowohl mit Ware als auch mit Kundschaft. Es ist das Merkmal eines großen Kaufmannes, die Situationen, sobald sie sich einem bieten, zu ergreifen und auszunutzen. Studieren kann man sie später, wenn man das Geld in der Kasse hat. Ob Fehler, Ungerechtigkeiten oder Brutalitäten bei dem Handel geschehen sind, das zu untersuchen und vielleicht gar zu bereuen ist immer besser, man tut es dann, wenn das Geschäft im trocknen ist. Dann kosten eine etwa auftauchende Scham oder eine nagende Reue kein bares Geld. Scham und Reue lassen sich besänftigen und einschläfern mit einem Dutzend Kerzen, die man vor dem Bilde der Jungfrau anzündet. Und weil ja von Natur aus alle Menschen schwach im Fleische sind, so lässt sich mit dem Señor Cura, dem guten Manne, der behauptet, für die Seele zu sorgen, die Angelegenheit leicht ins reine bringen. Der Herr Cura sagt schon zur rechten Zeit, wie viel die Seelenwaschung kostet. Es gibt keine Sünde, die nicht vergeben werden kann, wenn man sich die Mühe macht, zu dem zu gehen, der durch Salbung mit den himmlischen Mächten intim geworden ist und genau weiß, was Gott in jedem besonderen Falle denkt und tut.

 

11

Don Gabriel ließ den Häuptling zum Cabildo rufen. Er schenkte ihm ein Gläschen ein und dann noch eins.
»Ja, ich gehe nun fort von hier, Don Narciso«, sagte Don Gabriel. »Das ist sehr schade, Don Gabriel«, sagte el Presidente. »Wir haben gut miteinander arbeiten können.«
»Wahr, wahr«, erwiderte Don Gabriel, »es sind nicht alle Secretarios so gute Männer wie ich, und nicht alle haben ein so gutes und wohlmeinendes Herz für den armen Indio, wie ich es habe. Trinken Sie noch einen, Don Narciso.«
»Gracias«, sagte der Häuptling in Spanisch. »Schön und gut, und gut und schön«, setzte Don Gabriel seine Rede fort. »Aber was wird denn aus dem Gelde, das mir hier so viele Leute im Ort schulden? Das möchte ich wissen.« Nachdenklich erwiderte der Häuptling: »Das ist schwer zu sagen, Don Gabriel.«
»Sie werden zugeben, Don Narciso, dass ich so vieles Geld nicht verlieren kann. Schuld ist Schuld. Von den zahlreichen Multas, den Geldstrafen, die mir geschuldet werden, will ich ja nicht reden. Oder doch. Ich will auch davon reden. Ich will Ihnen hier zeigen, Jefe, was für ein gutes Herz ich habe und wie sehr ich mitfühle mit dem armen unwissenden Indio. Alle Multas schenke ich den Leuten.«
»Das wird die Burschen sehr erfreuen. Das ist eine sehr edle Handlung von Ihnen, Don Gabriel. Das wird Ihnen das ganze Dorf zum ewigen Freunde machen.«
Diese Freundschaft benötigte Don Gabriel. Sie gab ihm den Auftakt für die Melodie, die er zu spielen wünschte. »Die übrigen Schulden jedoch sind bares Geld, klingendes blankes Geld aus meiner Tasche. Die kann ich nicht fortschenken. «
»Das können Sie gewiss nicht, Don Gabriel.«
»Sie kennen doch alle Burschen hier, die mir schulden, Don Narciso.« Don Gabriel zog sein Büchelchen hervor und las die Namen und die Schuldsummen, die auf jeden Namen fielen. Als er mit der Aufzählung durch war, sagte er: »Wer von denen kann mir die Schulden bezahlen? Keiner. Auch keiner von den Bürgen kann zahlen. Bei einigen sind es vier oder fünf Ernten. Ich werde nun einen guten und gerechten Vorschlag machen, Don Narciso. Sie suchen mir sechs junge starke Burschen aus, Freunde oder Söhne oder Neffen oder sonstige Verwandte der Schuldner und der Bürgen. Diese sechs jungen Burschen sammeln auf sich die gesamte Schuld. Die Muchachos können das mit ihren Sippen verrechnen. Wir nehmen solche Burschen, die gern heiraten möchten, die aber das Geld nicht beisammen haben, um dem Vater ihrer Frau die erforderlichen Heiratsgeschenke zu machen und die Hochzeit zu bezahlen. Ich habe da einen Freund, einen ehrlichen und guten Menschen; ein Herz für den armen Indianer hat jener Caballero, das ist wie reines funkelndes Gestirn am Himmel. Nur noch viel gütiger. Und der Caballero braucht tüchtige Burschen, die gut zu arbeiten verstehen.«
»Doch nicht etwa für die Monterias?« fragte der Häuptling unruhig.
»Aber nicht doch, Don Narciso«, antwortete Don Gabriel abweisend, als habe man ihn beleidigen wollen. »Nein, für die Monterias sind die Leute nicht. Mein Freund, eben jener Caballero, von dem ich sprach, benötigt Leute für eine Finca. Sehen Sie, Don Narciso, der Caballero hat da eine Finca vom Staat gekauft. Billig. Aber die Finca ist neu. Sie ist jetzt nur Dschungel. Darum hat er sie so billig kaufen können. Der Dschungel muss nun geschlagen werden, um Lichtung für die Finca zu schaffen. Der Finquero will da Kaffee bauen oder Kakao, und natürlich auch Mais.«
»Also ein Cafetal, eine Kaffeepflanzung«, sagte Don Narciso, erlöst aufatmend.
»Genau, ganz genau, das ist es. Sie haben es richtig erraten, Don Narciso.«
»Ja, wenn die Burschen auf eine Kaffeepflanzung gehen sollen, dann ist es etwas anderes. Da ist es nicht so schwierig, sie zu bekommen. Das kann ich den Männern empfehlen. «
»Darum habe ich das ja auch mit Ihnen durchsprechen wollen, Don Narciso. Sie, als Jefe, haben hier das Wort bei den Sippen. Wenn Sie das anordnen, dann gehen die Burschen. Sie werden zugeben, das ist der beste, ich will sagen, der einzige Ausweg für den Ort, dass ich zu meinem Gelde komme. Die Burschen übernehmen die Schuld, und die Kosten für den Kontrakt natürlich auch, das wissen Sie ja. Sie arbeiten die Schuld dort auf der neuen Finca ab, und sie können noch ganz gut etwas für sich hinzuverdienen. Wenn sie dann zurückkommen und heiraten wollen, haben sie auch noch genug Geld übrig, um sich Schafe und Ziegen zu kaufen. Die Burschen erhalten vierzig Centavos den Tag. Wenn sie tüchtig arbeiten, auch gar fünfzig. Denken Sie nur, einen halben Peso den Tag. Das sind in einem Jahr hundertachtzig blanke, schöne, harte Silberpesos.«
»Eine Menge Geld für junge Burschen, die heiraten wollen, das muss ich sagen«, erwiderte der Häuptling.
»Das ist ein ganzer Berg an Geld, sage ich, Don Narciso. Trinken Sie noch eine Copita. Und nun erzählen Sie das den Leuten. Sie wissen die Namen derer, die mir schulden und wie viel sie mir schulden. Und sie können das mit den Männern nun in Ruhe ausrechnen, wie viel jeder von den Burschen von den Schulden übernehmen will. In einem Jahr, oder sagen wir in vielleicht einem Jahr und einem halben, können die Burschen alle wieder zurück sein, und dann können hier in einer Woche immer gleich zwei Hochzeiten sein, und niemand hat Schulden, und jeder Mann im Dorfe hier kann seinen Mais und seine Schweine und seine Wolle verkaufen an wen er will und zu welchem Preise er mag. Und das will ich noch sagen, die Leute, die ihre Schweine, ihre Wolle und was sie sonst haben verkaufen wollen, können das schon alles frei verkaufen, wenn die Burschen einmal in der neuen Finca alle richtig angekommen sind, weil die Schulden ja dann übernommen sind.«
»Das ist richtig«, sagte der Häuptling. »Ich werde nun gehen und mit den Männern beraten und ihnen sagen, was Sie vorgeschlagen haben.«
»Gut, Don Narciso«, antwortete Don Gabriel. Als der Häuptling bei der Tür war, sagte Don Gabriel: »Hören Sie, Don Narciso, wir sind immer gute Freunde gewesen. Ich habe hier noch einen tüchtigen Rest Aguardiente übrig. Mögen vielleicht dreißig Liter sein, die mir verbleiben. In wenigen Tagen gehe ich. Ich denke nicht, dass ich in dieser Zeit den ganzen Branntwein verkaufe. Wenn es gut geht, vielleicht drei oder vier Liter. Den Rest, der mir bleibt, den gebe ich Ihnen als Geschenk der Freundschaft. Den können Sie hier verkaufen. Ich glaube nicht, dass ein neuer Sekretär so bald kommen wird. Und solange kein Sekretär hier ist, können Sie Branntwein verkaufen, soviel Sie wollen.« Ob Narciso über die Gabe erfreut war oder nicht, ließ er nicht klar werden, weder in einer Geste noch in einem Worte, das ausgedrückt hätte, was er wirklich dachte. Er sagte nur kurz »Gracias!«, und er sagte das mit derselben schlichten Höflichkeit, als wenn er »Danke!« sagen würde, nachdem man ihm einen Stuhl zum Sitzen angeboten hätte.

 

12

Gleich so vielen natürlichen Menschen, die weder lesen noch schreiben können und erst recht nichts wissen von höherer Potenzialrechnung und der graphischen Emotionskurve in einem von Literaturprofessoren analysierten Drama Shakespeares, so besaß der Häuptling doch die große Klugheit, die im Leben wichtig ist: den Gegner rasch zu durchschauen und sofort zu verstehen, warum er so oder anders handelt.
Don Gabriel konnte in den wenigen Tagen, die er noch hier blieb, den Branntwein, den er noch auf Lager hatte, nicht verkaufen. Hätte er es tun können, so würde er ihn nicht verschenken. Mitnehmen konnte er den Rest nicht; denn er hatte genügend andere Dinge zu transportieren. So blieb ihm keine andere Wahl, als ihn fortzugeben. Und weil er den Brandy doch einmal fortgeben musste, so konnte er ihn ebenso gut benutzen, den Häuptling damit zu bestechen.
Durch diese versuchte Bestechung erst kam der Häuptling auf den Gedanken, dass in den Vorschlägen des Sekretärs irgendwo ein Haken, auslag, mit dem er etwas anzufangen dachte. Aber so sehr auch Narciso darüber nachsann, er konnte den Trick nicht finden. Eine neue Finca aus dem Dschungel heraus zu klären und sie zu einer Kaffeeplantage aufzubauen, war eine ehrliche Arbeit, die einmal ein Ende hatte. Außerdem war eine solche Finca, besonders wenn ihr Herr ein angenehmer und freundlicher Patron war, vielleicht geeignet, junge indianische Paare als Peones aufzunehmen und ihnen ein Leben zu bieten, das, wenn auch arbeitsreich und unfrei, dennoch größere Lebenssicherheit versprach als die magere Erde des unabhängigen Ortes. Vermehrten sich die Familien zu sehr, so wurde das Land, das auf die einzelne Familie fiel, immer kleiner. Und weil das Kommuneland an sich schon sehr dürftig und mager war - darum war es ja als Kommuneland erhalten geblieben -, darum musste das Leben der Familien am Orte mit dem Entstehen jeder neuen Familie immer ärmlicher werden. Auf einer neuen Finca ist die Behandlung der Peones gewöhnlich besser als auf einer Finca, die schon mehrere Jahrhunderte besteht. Der Finquero möchte die Zahl der Familien, die ihm die Peones stellen, vermehren. Er lockt sie aus unabhängigen Dörfern heran, und sie dürfen sich selbst aus dem Urland ihre Äcker aussuchen. Soweit es seinen Plänen beim Aufschluss der neuen Finca nicht entgegenläuft, lässt er ihnen freie Hand in der Auswahl derjenigen Stellen des Dschungels, die sie für sich in Äcker umarbeiten wollen. Dieses jungfräuliche Dschungelland ist ungemein fruchtbar, und es gibt den Familien, die es bearbeiten, sehr reiche Erträge.
Der Finquero gibt ihnen, um neue Familien an sich zu fesseln, Baumaterial für ihre Hütten, er gibt ihnen billig Schweinchen und junge Ziegen und Schafe. Er gibt ihnen willig Vorschüsse in bar und macht es ihnen leicht, die Vorschüsse abzuarbeiten. Das spricht sich rasch herum in den unabhängigen Dörfern, und der Finquero hat bald mehr Familien auf der neuen Finca, als er unterzubringen gedachte. Sobald er mehr Angebote von Familien hat, als er benötigt, und sobald die länger ansässigen Peones mit den neuen Peones auf der Finca bereits begonnen haben, sich zu versippen und zu verschwägern und die Erde, die sie dem Dschungel abgewannen, zu lieben begonnen haben und es ihnen schwer fallen würde, sich von hier zu trennen, fängt der Finquero allmählich damit an, die Peones ebenso auszunutzen, wie die Peones auf den uralten Fincas ausgenutzt werden.
Es walten hier genau die gleichen Gesetze der langsamen Verelendung und der Versklavung des Proletariats wie in der Industrie zivilisierter Länder.
Wenn ein Zweig der Industrie, der infolge einer neuen Erfindung reiche Gewinne verspricht, aufgebaut wird, bietet er den    Arbeitern    hohe    Löhne    und    die    verlockendsten
Akkordpreise, um Arbeiter aus allen Schichten des Proletariats, selbst aus dem ackerbautreibenden Proletariat, aufzusaugen und mit ihnen den neuen Industriezweig zur raschesten Entfaltung zu bringen. Ist die Entfaltung endlich geglückt, so ist der Industriezweig zumeist bereits übersättigt mit Arbeitern. Aber der Zustrom neuer Arbeiter geht weiter und drückt auf den festgesetzten Arbeiterstock so sehr, dass nunmehr die einstmals günstigen Arbeitsbedingungen verschlechtert werden können bis zur Versklavung aller, die hier eingefangen wurden und die nun nicht mehr zurückgehen können in ihre ursprünglichen Berufe, weil jene früheren Berufe sich verändert haben oder von Proletariern ausgefüllt wurden, die auf tieferer wirtschaftlicher Stufe standen.
Ebenso ist es bei dem Aufbau einer neuen Finca. Die ersten fünf Jahre sind für den Peon in jeder Weise reiche Erntejahre. Diese ersten fünf Jahre genießen zu können, verlockt viele unabhängige Indianer, Peones auf einer neuen Finca zu werden. Sie kommen in der Hoffnung, dass sie ja stets gehen können, wenn die Bedingungen und die Behandlung sich verschlechtern. Aber sobald diese günstigen Bedingungen anfangen, ungünstig oder unerträglich zu werden, können sie nicht mehr fort. Entweder sie sind nun bereits so tief verschuldet, dass sie nicht frei gehen können, oder aber sie sind inzwischen mit der neuen Heimat so verwachsen, dass sie aus verwandtschaftlichen und anderen sentimentalen Gründen nicht mehr unabhängig in ihren Handlungen sind.

 

13

Es war ein vorzüglicher Trick, den Don Gabriel hier gebrauchte, um sein Geschäft zu beginnen. Der Häuptling, el Jefe, konnte ja nicht wissen, dass es eine Teufelei war, die Don Gabriel beging. Er glaubte den Worten des Don Gabriel, weil er dachte, dass ein Beamter, ein Sekretär des Ortes, den er nun seit mehr als einem Jahr kannte, nicht so bestialisch sein könnte, dass er von dem Aufbau einer Kaffeeplantage oder einer Finca spreche, während er eine Monteria meinte. Misstrauen mag noch soweit gehen, es findet doch endlich eine Grenze, wo aus rein menschlichen Gründen angenommen werden darf, dass ein Vertrauen in einen Mitmenschen nun nicht länger mehr getäuscht werden kann, weil ja jeder Mensch ein Herz hat und eine Seele und ein Mitempfinden mit seinem menschlichen Bruder. Bei einem Indianer, der in der Natur lebt mit der Natur, der unter seinen Volksgenossen alle seine Handlungen und Geschäfte auf reines Vertrauen stellt, wo keine Papiere beschrieben und bestempelt werden können, weil sie niemand lesen kann, ist die Grenze, wo sein Misstrauen beginnt, viel weiter gezogen als bei Leuten, die inmitten der Zivilisation leben, wo jeder empfangene Geldbetrag ohne Augenzucken abgestritten und abgeschworen wird, wenn keine Quittung beigebracht werden kann. Darum war es undenkbar für den Häuptling, auch nur für eine Sekunde lang zu vermuten, dass Don Gabriel, den er hier vor sich sitzen sah und den er als einen Freund betrachtete und als einen ehrlichen Beamten, ihn in einer so nichtswürdigen Weise hätte betrügen können, ohne ein deutliches Zeichen von Schani in seinem Gesichte zu verraten. Das angebotene Geschenk des übrig bleibenden Branntweins ließ freilich den Häuptling nicht völlig zur Ruhe kommen. Aber er vermochte die Bestechung nicht zu sehen. Nur wenn er die Bestechung gefühlt hätte, würde er gewusst haben, dass ein Trick im Geschäft eingehakt war. Während er hinüberging zum Dorf, um mit den Männern zu beraten, musste er unausgesetzt an den geschenkten Branntwein denken. Aber er kam nicht hinaus über die einfache Erklärung, die ihm durchaus natürlich erschien, dass Don Gabriel ihm den Branntwein nur darum geschenkt habe, weil er ihn nicht forttransportieren wollte und weil er ihn aus reiner Vorsorge lieber in dem Gewahrsam des Häuptlings zurückließ als in den Händen irgendeines beliebigen Mannes im Dorfe. Don Gabriel hätte auch den Branntwein unter die Männer verteilen können. Aber sie würden sich betrunken haben, und es wäre vielleicht zu Unheil im Dorf gekommen. Weil nun Don Gabriel den Branntwein nicht verteilt hatte, sondern ihm, dem Häuptling, in Gewahrsam gab, damit er nach seiner besten Beurteilung damit verfahren möge, glaubte der Häuptling, dass Don Gabriel in Wahrheit ein Freund des Dorfes sei, der verhindern wolle, dass im Dorfe Unheil angerichtet werde, das zu bösen Folgen für viele Familien führen könnte. Aus den Verschiedenheiten des seelischen Charakters ihrer Rasse heraus, aus den Verschiedenheiten der Verhältnisse und Umgebungen, unter denen beide, sowohl Don Gabriel als auch der Jefe, aufgewachsen waren, sah jeder das Geschenk des Branntweins in einer anderen Weise an, als es gemeint war. Don Gabriel meinte es als Bestechung, um das Geschäft besser zu ölen, und er glaubte, dass der Häuptling es ebenso als Bestechung annehme. Der Häuptling glaubte, dass es ihm gegeben werde als an den Verantwortlichen seines Volkes, und aus Freundschaft für den Ort, vielleicht als ein freundschaftliches Abschiedsgeschenk. Darum dachte er nicht daran, die Gabe schlicht abzulehnen.

 

14

Der Häuptling, el Jefe, berichtete den zusammengerufenen Männern des Ortes den Vorschlag des Secretarios in der Weise, wie er ihn verstanden und aufgefasst hatte. Er war gegenüber den Männern so ehrlich, wie ein Vater gegenüber seinen Kindern ist. Er sagte, dass sich hier für junge Familien eine günstige Gelegenheit biete, wenigstens für die nächsten fünf oder acht Jahre ein besseres Leben zu führen, als es der Ort diesen jungen Paaren versprechen könne. Denn die guten Stücke Land stehen zuerst den älteren Familien, die eine große Zahl von Mäulern zu versorgen haben, zur Auswahl, während die neu hinzukommenden jungen Familien sich nach altem Brauch und wohlerprobtem Herkommen mit dem begnügen müssen, was übrig bleibt. Darüber entsteht kein Streit; denn es wird von allen nicht nur als gerecht angesehen, sondern als der einzige und natürliche Ausweg. Und weil es unter den Verhältnissen, wie sie sind, der einzige Ausweg ist, darum wieder ist es gerecht.
Alle die Männer, die hier im Rat waren, konnten an dem Vorschlag des Sekretärs nichts sehen, was ihnen ungehörig erschienen wäre. Es war billig und gerecht, dass der Sekretär sein ausgeborgtes   Geld   zurückverlangte.   Es   musste   ihm   auf irgendeine Weise gegeben werden, wenn er es verlangte. Dafür sprachen sich auch die Bürgen aus, die für einen Verwandten oder   Freund   gegenüber   dem   Sekretär   die   Bürgschaft übernommen hatten. Sie drängten darauf, dass die Schuldner ihre Verpflichtungen einlösten. Es hatte ja niemand irgendwen gezwungen,  Schulden einzugehen. Dass die ursprünglichen kleinen Schulden durch die seltsamen Zinsverrechnungen des Don Gabriel sich zu ansehnlichen Summen ausgewachsen hatten, betrachteten die Indianer nicht als eine Niedertracht des Gläubigers. Es war ihnen genügend bekannt, dass keinem Menschen, am wenigsten einem Indianer, auch nur ein Peso mit
geringem Zins geborgt wird, wenn die Sicherheit für die geborgte Summe so windig ist, dass der Gläubiger stets in Gefahr ist, das ausgeborgte Geld zu verlieren. Fünfhundert Prozent Zinsen sind unter solchen wackligen finanziellen Sicherheiten, wie sie ein Indianer bieten kann, ein offenbar gerechter Satz.
Wer in einem Rat etwas gelten will, muss die Verhältnisse, die ihn umgeben, kennen und verstehen. Schön klingende Phrasen über allgemeine, urewige und unerschütterliche Menschenrechte machen einen Mann im Rat nur lächerlich, weil auch die schönste Phrase sich entweder gar nicht oder nur durch akrobatisches Einquetschen und Zurechtkneten mit den vorhandenen Tatsachen und mit der kalten Nüchternheit des täglichen Lebens in Eintracht bringen lässt.
Das sieht sogar ein einfacher Indianer ein. Und der zuweilen besser als mancher zivilisierte Proletarier, der glaubt, dass sofort die ganze Welt in funkelnden Sonnenschein gebadet sein wird, sobald alle Menschen zugleich an das alleinseligmachende Programm glauben, das so schön auf dem Papier leuchtet und lodernde Begeisterung hervorruft, wenn es in einer Nachtversammlung ermüdeter, hungernder und zerlumpter Proleten mit Nachdruck verlesen wird.
Die beratenden Männer kamen zu dem Ergebnis, dass der Vorschlag des Don Gabriel der einzige sei, der eine Lösung der verwickelten Lage biete, die geschaffen worden sei dadurch, dass der Sekretär den Ort verlasse und darum alle ausstehenden Schulden einholen müsse. Niemand konnte von ihm verlangen, dass er ihm die Schuld schenke. Das erwartete auch niemand. Alle Forderungen des Sekretärs bestanden zu Recht. Jeder, gleich ob er einer der Schuldner war oder nicht, erkannte das an. Und es war nichts dagegen einzuwenden, dass der Sekretär nun das Geld verlangte. Er hatte niemand sein Geld oder seine Ware aufgedrängt. Als die Schuldner das Geld oder die Ware brauchten, waren sie sehr froh gewesen, dass ihnen geborgt wurde. Sie hatten darum nun kein Recht, ungehalten zu sein, wenn das Geld zurückbezahlt werden musste, um so weniger, als für jede einzelne Schuld der Tag, an dem sie hätte eingelöst werden sollen, längst überschritten war. Die Männer einigten sich darüber, welche Burschen die aufgeteilten Schulden übernehmen sollten. Es war aber nicht nötig, den Burschen etwa mit der Macht der Sippe zu drohen, den Kontrakt des Don Gabriel einzugehen. Mehrere Burschen, auf die keine Schuldpflicht gefallen war, weil entweder in ihrer Familie kein älterer Mann mit Schulden sich befand oder weil das Mädchen, das sie sich zur Frau erwählt, gleichfalls keinen nahen Verwandten hatte, der verschuldet war, kamen freiwillig herbei, um in den Kontrakt zu gelangen, sobald sie hörten, dass es sich um Arbeit in einer neuen Finca handelte, die aufgebaut werden sollte. Sie sahen hier eine Möglichkeit, in kürzerer Zeit zu Geld und damit zu einem Heim zu kommen, als wenn sie am Orte geblieben wären. Zwanzig kräftige, gesunde und junge Männer bekam Don Gabriel auf einen Hieb aus dem Ort. Sein Geschäft hatte gut begonnen. Er konnte es kaum erwarten, die Augen zu sehen, die Don Ramon machen würde, wenn er mit einem solchen Fang in Hucutsin eintraf.

 

15

Als sie einige Monate später erkannten, wo sie gelandet waren, protestierten die Burschen gegen die Kontrakte. Sie hatten unterschrieben, was nach Don Gabriels Worten in den Kontrakten stehen sollte, aber nicht drinstand, weil es ja sonst kein Geschäft für Don Gabriel gewesen wäre. Lesen konnte keiner von ihnen. Der einzige Mensch, der lesen konnte und den sie kannten, war ihr Secretario, Don Gabriel. Es hätte ihnen nachträglich auch ein Licenciado den Kontrakt vorlesen können. Aber der musste bezahlt werden. Und weil der Kontrakt in Händen des Don Gabriel war, so musste Don Gabriel gerufen werden. Der Licenciado würde, ehe er mit dem Vorlesen begonnen hätte, erst Don Gabriel gefragt haben, was er vorlesen solle und ob ihm Don Gabriel mehr für ein korrektes Vorlesen des Kontraktes bezahle als die verlausten Indianer, die im Vorzimmer des Licenciado nicht auf Stühlen saßen, sondern nach ihrer Gewohnheit auf dem Boden hockten.
Die Burschen hätten freilich auch zu einer Behörde gehen können, wo sie einen Beamten bitten konnten, ihnen den Kontrakt zu verlesen. Aber immer hielt Don Gabriel den Kontrakt in den Händen. Er wäre mit dem Kontrakt zu dem Beamten gekommen und hätte gesagt: »Como estas, Compadre? Wie geht es dir, Herzbrüderchen? Ich habe hier zehn klingende blanke Duros für dich, zehn gute harte Pesos. Was? Was sagst du? Die Muchachos wollen wissen, was im Kontrakt steht? Habe ich ihnen doch gesagt, als die Vorschüsse bezahlt wurden. Jetzt, nachdem sie das schöne Geld alles hinuntergegurgelt haben, wollen sie natürlich wieder raus aus dem Kontrakt.«
»Natürlich, kein Wunder«, hätte der Beamte gesagt. »Was willst du denn, dass ich hier vorlese. Kann ich tun, sage mir, wie du es haben willst. Und wenn die Burschen hier Lärm machen, stecke ich sie alle ein, wo ich sie in Sicherheit halte, bis du sie brauchst.« Sechs Burschen versuchten zu entfliehen. Es waren die, die freiwillig gekommen waren. Die übrigen, die Schulden ihrer Verwandten und zukünftigen Schwiegerväter übernommen hatten, machten keinen Versuch, zu entfliehen, weil es gegen das Vertrauen ihrer Sippe verstieß, nachdem sie einmal die Verpflichtungen eingegangen waren.
Von  den  sechs  Burschen,  die  entflohen,  wurde  einer erschossen.   Zwei   wurden   eingefangen  und  unbarmherzig ausgepeitscht. Zwei verkamen auf der Flucht im Dschungel. Man hörte nie wieder von ihnen.
Einer kam im heimatlichen Orte an. Verwildert, blutig, abgemagert zu einem Bündel Knochen, mit Lippen, die aufgebrochen waren von Fieber. Er erzählte im Ort, wohin die Burschen in Wirklichkeit gebracht worden waren.

 

16

Don Narciso war nicht mehr Häuptling, als das geschah. Inzwischen war ein anderer Jefe von den Sippen gewählt worden. Eine Anzahl von Männern kamen eines frühen Abends in die Hütte des Don Narciso, um mit ihm zu reden. Don Narciso wusste, warum die Männer gekommen waren und was sie mit ihm besprechen wollten.
Es war jedem Mann im Ort bekannt, dass Don Narciso, als er noch Jefe war, von Don Gabriel, dem Sekretär, ein Fass mit Branntwein bekommen hatte. Keiner von den Männern, die jetzt mit Don Narciso sprachen, machte auch nur die geringste Andeutung, dass jener Branntwein eine Bestechung gewesen sei. Auf einen solchen Verdacht kamen sie gar nicht, weil die Ehrenhaftigkeit des Narciso außerhalb jeden Zweifels stand. Er wurde nur gefragt, ob er sich erinnere, dass Don Gabriel ein einziges Mal an irgendeinen Mann des Ortes ein Gläschen Branntwein fortgegeben habe, ohne dabei eine bestimmte Absicht zu verfolgen.
Narciso sagte ruhig: »Ich kann mich keines einzigen solchen Falles erinnern.«
Er stand auf, sah sich um in seinem Hause, das dürftig von einigen Kienspänen erleuchtet war, ging zu seinem jüngsten, der auf einem Petate am Boden schlief, betastete dessen Köpfchen, sah sich noch einmal um und folgte dann den Männern hinaus in die Nacht. Zwei Stunden später brachten die Männer den Leichnam des Narciso in sein Haus geschleppt. Er war mit einem Machete erschlagen worden.
Es war infolge eines bedauerlichen Irrtums geschehen, draußen auf den Feldern, als die Männer Untergestrüpp wegschlagen wollten, um ein junges Maultier, das sich offenbar verlaufen hatte, zu suchen und einzufangen. Jeder im Ort erzählte diese Geschichte nach. Und jeder im Ort wusste, was hinter der Geschichte verborgen lag.
Die Frau und die Töchter des Narciso schrieen auf. Gleich darauf füllte sich die Hütte mit allen Frauen der eigenen Sippe und mit denen der befreundeten Sippen. Der Leichnam wurde auf einem Gestell aus dünnen Bäumchen aufgebahrt. Die Frau des Narciso wusch ihm das Blut von dem Gesicht; und sie wusch das Haar aus, das von Blut verklebt war, und kämmte es.
Es wurden Kienfackeln gebracht und angezündet. Dann hockten sich alle Frauen auf den Boden um den Leichnam, verhüllten ihre Köpfe mit dem Rebozo, einige andere mit dem Jorongo und begannen, die Trauerklage zu schreien. Der Bursche, dem die Flucht aus der Monteria bis in den Ort hier geglückt war, starb vier Tage später. Sein völlig erschöpfter Körper vermochte dem wilden Fieber nicht zu widerstehen. Die beiden berittenen Jäger der Company, die hinter dem Entlaufenen hergeschickt wurden, um ihn wieder einzufangen und zurückzubringen, fanden ihn aufgebahrt in der Hütte seines Vaters. Die beiden Monteriapolizisten verlangten, dass der Vater und die Brüder des verstorbenen Burschen, weil er geflohen sei, seine Schuld übernehmen sollten. Sie weigerten sich indessen, und die Polizisten erklärten ihnen darauf, dass sie es an den Ortsvorsteher von Hucutsin, der für den Vertrag verantwortlich sei, und auch noch an den Jefe Politico berichten würden, die Familie würde dann erfahren, was darauf geschehe.
Ein Sekretär, der den Einfängern für die Monteria hätte behilflich sein können, war nicht anwesend; weil der Jefe Politico seit dem Wegzug des Don Gabriel niemand gefunden hatte, der ihm gefällig genug erschien, ihm das Amt zu übergeben.

 

17

Der Ort blieb mehr als zwei Jahre ohne Sekretär. Darum vermoderte auch die Tür des Gefängnisses. Über der Amtsstube des Cabildo, wo der Tisch stand mit dem Tintenfläschchen darauf und mit dem Halter, den eine verrostete und verstilzte Stahlfeder verschönte, und wo die Bündelchen von Verordnungen lagen, die sich mit der Wohlfahrt und der Bildung der Indianer befassten, brach das Dach herunter.
Da die Indianer das Dach nicht ausflickten, blieb es heruntergebrochen und riss weitere Stücke nach.
Die Telefonleitung war in Ordnung. Auch die Apparate in der Amtsstube, soweit sie von dem herunterfallenden Dach nicht getroffen wurden, schienen in guter Verfassung zu sein. Aber es war niemand da, der sich die Mühe machte, zu Telefonieren. Trotzdem blieb die Sonne am Himmel stehen. Trotzdem wuchs der Mais auf den Feldern. Trotzdem gebaren die indianischen Frauen ihren Männern Kinder und Kinder. Die Männer im Dorf wurden gut mit sich allein fertig. Nicht einem einzigen von ihnen kam je der Gedanke, dass sich der Ort ja in der tief traurigen Lage befände, keinen Secretario zu haben, der hergeschickt war, um zu regieren.
Keiner von ihnen dachte auch nur einen Augenblick daran, dass die Welt untergehen könne und die Menschheit verschwinde, wenn sie nicht regiert werde.
Aus diesem Grunde fiel es nie jemand ein, weder dem Häuptling noch einem der beratenden Männer, an den Gouverneur oder an den Jefe Politico einen untertänigen Bericht zu schicken und die Herren daran zu erinnern, dass hier am Orte ein Secretario fehle und dass der Ort infolgedessen keinerlei Verbindung mit der hohen Regierung habe.
Geronimo, der jetzt Häuptling im Orte war, sagte eines Tages, als die Männer über der Neuverteilung des Kommunelandes unter den neuen Familien zu Rate saßen: »Ich wünschte wohl am besten, dass die Regierung uns dauernd vergäße. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte, meine Brüder und Freunde.«

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