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B. Traven - Regierung (1931)
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FÜNFTES KAPITEL

1

Die Beköstigung des Gefangenen kostete weder Don Gabriel etwas noch die Gemeinde. Die Frau des Gefangenen hatte für ihn das Essen zu schaffen und es ihm zu bringen. Würde er keine Frau gehabt haben, so hätten seine Mutter oder seine Brüder, oder wen er sonst haben mochte, ihn zu unterhalten gehabt. In einer Geduld, die niemals ermüdete, nie erlahmte, kein Wort eines Vorwurfs verlauten ließ, kam die Frau dreimal täglich mit ihren Kindern zum Gefängnis, um ihren Mann zu füttern, ihm reine Wäsche zu bringen, ihm Tabak zu geben und sich um alle seine Bedürfnisse zu sorgen und zu kümmern. Zuweilen, wenn Don Gabriel in der Laune war, ihn gerade zu gelegener Zeit herauszulassen, saß die ganze Familie vor der Tür des Gefängnisses, und sie aßen gemeinsam. Wer von den Freunden des Gefangenen Zeit fand oder Lust dazu hatte, kam zu ihm, hockte sich vor das Gefängnis und sprach mit ihm. Nicht regelmäßig, aber doch die Mehrzahl der Nächte schlief die Frau mit ihrem Säugling auf einer Matte dicht an der Tür des Gefängnisses, um ihrem Manne nahe zu sein. Während seiner Haft tat die Frau alle Arbeit, die auf den Äckern und mit den Tieren notwendig war. Wenn ihre Kraft oder Zeit nicht ausreichte, kamen ihre Brüder und halfen ihr aus. Es geschieht nicht selten in kleinen Orten, dass diese Form der Gefängnishaft monatelang andauert, wenn der Ortsvorsteher oder der Sekretär entschieden haben, dass der Gefangene in Haft zu bleiben habe, als Strafe für irgendein Vergehen. Narciso, der Jefe der Indianer, war inzwischen mehrfach im Cabildo gewesen, um Amtshandlungen mit Don Gabriel zu besprechen. Dabei war der Gefangene jedoch nie erwähnt worden. Aber dann kam er eines Tages, setzte sich auf die Bank in der Amtsstube und sagte: »Don Gabriel, was tust du nun mit Gregorio, der den Aurelio erschlagen hat? Willst du ihn für Lebenszeit hier im Calabozo festhalten?« Don Mateo war nicht zugegen. Er befand sich im Dschungel auf Jagd.
Don Gabriel korkte das Tintenfläschchen auf, roch an der Tinte, korkte es wieder zu und sagte: »Das weißt du gut, Narciso, du bist hier el Presidente und kennst die Gesetze und Verordnungen.«
»Freilich kenne ich die Gesetze«, antwortete Narciso. »Dann wirst du auch wissen«, fuhr Don Gabriel fort, »dass Mord eine sehr böse und sehr schlimme Sache ist. Gregorio wird wohl füsiliert werden.«
»Ja, das weiß ich«, erwiderte Narciso.
»Wenn er hundert Pesos oder wenigstens fünfzig Pesos Multa bezahlen könnte«, sagte Don Gabriel, »dann könnte ich ihn vielleicht freilassen.«
»Soviel Geld hat Gregorio nicht«, sagte Narciso, »und soviel Geld wird er in seine m ganzen Leben niemals haben. «
»Ich habe bis jetzt gewartet, Don Narciso, des Gregorio wegen, und habe noch nichts an die Municipalidad Telefoniert. Aber ich kann nun nicht länger warten. Wir müssen etwas tun. Mord ist eine sehr schwere Sache. Wenn ich Telefoniere, dann kommen die Soldaten her und erschießen ihn gleich hier auf dem Friedhof.«
»Ja«, sagte der Jefe, »das werden sie gewiss tun.«
»Gehen lassen aber kann ich ihn auch nicht«, redete Don Gabriel fort, »dazu habe ich kein Recht, und manche Raufbolde hier, die immer betrunken sind, möchten glauben, das ginge immer so leicht ab, und es habe keine bösen Folgen. Dann haben wir hier vielleicht jede Woche einen Mord.«
»Das könnte sein«, gab der Jefe zu.
Durch dieses Hin- und Herreden kam Don Gabriel auf eine Idee, an die er bisher nicht gedacht hatte.
Solange er nun schon hier am Ort tätig war, hatte er keine Gelegenheit gehabt, einmal nach Jovel zu reiten, um zu sehen, was in der Welt vor sich gehe und ob sich vielleicht eine Lücke inzwischen geöffnet habe, durch die er an eine bessere Futterkrippe kriechen könnte.
Nun bot sich durch Gregorio eine Gelegenheit, nach Jovel zu reisen und dafür noch mit Tagegeldern bezahlt zu werden. Er hatte nur Gregorio als Strafgefangenen zu den Behörden zu bringen, eine Amtstätigkeit, die extra bezahlt werden musste. Es war billiger für die Behörden, wenn er den Mann selbst zur Stadt brachte, als wenn Soldaten hätten geschickt werden müssen, um ihn entweder zu erschießen oder ihn zur Stadt zu führen, um dort abgeurteilt zu werden.
So rasch, wie ihm diese vortreffliche Idee gekommen war, so rasch versuchte er sie auch auszuführen.
»Wir haben hier kein Recht, Don Narciso, über einen so schweren Fall zu urteilen«, sagte er, »weder du als Presidente noch ich als Secretario. Das ist eine Sache des Gerichts. Ich muss ihn nach Jovel bringen und ihn dort den Autoritäten übergeben. Ich will dir sagen, Don Narciso, das ist viel besser für ihn. Die Richter in Jovel sind vielleicht nicht so hart mit ihm. Sie verurteilen ihn etwa zu drei oder fünf Jahren Gefängnis oder schicken ihn in eine Arbeitsstrafkolonne ab. Und ist einmal die Zeit vorüber, dann wird er freigelassen und kann hierher zurückkommen zu seinen Leuten. Wenn dagegen die Soldaten hier herkommen, dann hat er wenig zu hoffen. Entweder sie füsilieren ihn gleich hier, oder sie tun es auf dem Wege und sagen, er habe entlaufen wollen, auch wenn es gar nicht wahr ist, sie wenden einfach die Ley Fuga an.« Darauf sagte der Jefe: »Ich denke, Don Gabriel, du hast recht. Das ist das beste für ihn, und es gibt ein gutes Beispiel für die Raufbolde hier.«
»Dann gehe ich morgen, Don Narciso«, sagte Don Gabriel. »Don Mateo wird mich hier vertreten als Secretario. Du bist doch damit einverstanden?«
»Ja, ich bin durchaus damit einverstanden«, erwiderte Narciso. »Ich werde zu seiner Familie gehen und berichten, dass Gregorio morgen zur Stadt gebracht wird zum Gericht.« Da es ihr eigener Jefe war, der dem Ort und der Familie des Gregorio klarmachte, dass es wohl das beste sei für Gregorio, wenn er zur Stadt gebracht würde, um dort abgeurteilt zu werden, so war ein jeder damit einverstanden. Sie wussten alle recht wohl, dass sich nichts anderes tun ließ, wenn die Regierung einen Sekretär am Orte hatte. Dadurch, dass ein Sekretär hier war, der die Regierung vertrat, besaßen sie kein Recht, diesen Fall unter sich selbst zu regeln.
Die Frau des Gefangenen unterrichtete ihren Mann davon, dass er am nächsten Morgen fortgebracht würde. Außerdem kam auch noch Don Narciso zu ihm, um ihm zu sagen, dass er mit Don Gabriel ruhig nach Jovel gehen solle, weil das besser für ihn sei. Gregorio nahm alles dies, dem Anschein nach, genauso gleichgültig auf, wie er es wohl aufgenommen haben würde, wenn ihm gesagt worden wäre, er sei aus dem Gefängnis entlassen und könne frei seiner Wege gehen.
Seine Frau brachte ihm das Abendessen, und sie saß bis Mitternacht mit den Kindern vor dem Gefängnis, zuweilen schlafend, zuweilen wachend und einige Worte zu ihrem Manne sprechend und das Feuer ständig unterhaltend.
Gegen Mitternacht ging sie zu ihrem Jacal, um ihm das
Frühstück zu kochen und ihm, mit Hilfe einiger Nachbarinnen, den Reiseproviant zu bereiten. Es war ein Marsch von vier Tagen, den er vor sich hatte.
Um sechs Uhr am folgenden Morgen waren Don Gabriel und seine Frau reisefertig. Er saß zu Pferde, während seine Frau ein altes, aber sicher gehendes Mule ritt; ein zweites Mule trug die Packen für die Reise.
Gregorio half dabei, die Tiere marsch bereit zu machen. Er war vor Sonnenaufgang aus dem Gefängnis gelassen worden, um hier mit Hand anzulegen. Auf der Reise sollte er als Bursche dienen. Er ging in seine Hütte und holte seinen Packen, der die Lebensmittel für den Marsch enthielt, seinen Petate und seine zerlöcherte Wolldecke. Er ging ohne Aufsicht und blieb eine Stunde fort. Wenn er gewollt hätte, so konnte er leicht entweichen, wie er erst recht auf dem Wege hätte entlaufen können.

 

2

Jedoch, nachdem er seine persönlichen Angelegenheiten besorgt hatte, kam er wieder zurück zum Cabildo. Es war sein Schicksal gewesen, Aurelio erschlagen zu müssen. Sowenig wie er dagegen etwas tun konnte, sowenig konnte er nun den weiteren Verlauf seines Schicksals, das ihn zur Aburteilung in die Stadt schickte, aufhalten. Was würde es ihm genützt haben, zu entlaufen, wenn das Schicksal für ihn eine andere Bestimmung bereithielt? Er konnte Don Gabriel und seinen Richtern und den Soldaten entlaufen, aber er konnte nie seinem Schicksal entfliehen.
Und selbst wenn er nicht Fatalist und widerstandsloses Objekt der Schicksalsfügung gewesen wäre, wohin hätte er entlaufen sollen? In einen anderen Ort, wo nicht seine Sprache geredet wurde? Dort war er Fremder, wurde nicht aufgenommen in die Kommune, und wenn er sich trotzdem ansiedelte, niemand würde mit ihm Gemeinschaft schließen. Mit jedem Tage würde das Misstrauen größer und größer gegen ihn werden. Er war schuld, dass kleine Kinder starben, dass der Mais nicht wuchs, dass die Schafe nicht gebaren, dass der Bach des Ortes seinen Lauf änderte, dass kein Regen fiel.
Dann wurde eines Tages sein Jacal verbrannt und sein Maisfeld zerstampft. Blieb er dennoch, wurden er und seine Familie eines Tages ermordet.
Er konnte seine Frau und seine Kinder nehmen und sich im Dschungel ansiedeln. Aber sein Gemeinsinn war so tief, dass er allein im Dschungel nicht lange leben konnte. Er verging und verwitterte ohne seine Sippe. Er musste zurück zu seinem Volke. Früher oder später. Und wenn seine Sippe ihn zum Tode verurteilte und das Urteil an ihm vollstreckte, so war er zufrieden in seiner Seele, war er im Gleichgewicht mit der
Harmonie seiner Umwelt, war dankbar in seinem Herzen, dass es ihm vergönnt war, innerhalb seines Volkes sterben zu dürfen. Im Dschungel konnte er leben wie ein Tier, aber nur in der Gemeinschaft seiner Sippe war er ein Wesen, das sich seiner Menschlichkeit bewusst ist. Er konnte weit entfliehen in eine Stadt, wo niemand ihn kannte, wo niemand sich um ihn kümmerte. Aber auf dem Wege schon traf er viele Leute, die ihn fragten: »Wohin, mein Freund? Und warum?« Er vermag zu lügen in den gewöhnlichen Dingen seines engen Lebens. Aber geschickt zu lügen in verwickelten Dingen und in ungewohnter Umgebung und zu fremden Leuten, die ihn misstrauisch anblicken, das kann er nicht. Er wird unsicher, erweckt darum nur größeres Misstrauen, und am nächsten Ort wird er von den Behörden festgenommen.
Oder er schleicht sich geschickt auf Buschpfaden zur Stadt, geht jedem Nichtindianer weit aus dem Wege, übernachtet nur im Busch, abseits von den Pfaden. Er erreicht die Stadt. Aber er spricht kein Wort Spanisch. In der Stadt gibt es keine Arbeit, die er verrichten könnte. Alles und jedes ist ihm fremd, Sprache, Gewohnheiten, Lebensweise, Leute. Betteln kann er nicht. Er weiß nicht, wie man sich in einer Stadt, selbst wenn man keine Arbeit hat, dennoch notdürftig am Leben erhalten kann. Es wachsen in der Stadt keine Pflanzen und Früchte, die er nehmen und sich daran sättigen kann wie im Dschungel oder im Busch. Er könnte als Helfer bei den Carreteros oder bei Muletreibern Arbeit finden. Aber er weiß nicht, wie er sich ihnen nähern könnte. Und selbst diese Leute, wenn sie kein Wort seiner Sprache verstehen, sind misstrauisch und abweisend. Dennoch kann es ihm glücken, irgendwo eine Arbeit zu bekommen, die schwerste, die härteste, die dreckigste, die elendste, wo er täglich vierundzwanzig Stunden zur Verfügung stehen muss und nur ein mageres Essen als Lohn bekommt. Ein Arbeiter, der keinen Lohn fordert, ist auch in Mexiko ein willkommener Mensch. Er ist wohlgelitten und gilt als höflich, wenn er für seine Arbeit nichts weiter verlangt als ein gnädiges Zunicken seines Herrn.
Doch selbst eine solche Zuflucht rettet ihn nicht. Die Sehnsucht nach seiner Frau und seinen Kindern wird eines Tages so stark, dass er zurück muss zu ihnen, ohne Rücksicht darauf, was mit ihm geschieht. Er erträgt es nicht, von ihnen getrennt zu leben. So, was immer er auch tut, er ist im Netz und kann nicht entweichen. In vieler Hinsicht unterscheidet er sich gar nicht so sehr von dem europäischen Proletarier, dessen Anhänglichkeit an seine Familie, an seinen erwählten Wohnsitz und an seinen Freundeskreis die Quelle vieler seiner wirtschaftlichen Nöte und seiner ökonomischen Abhängigkeit ist.

 

3

Gregorio nahm seinen Packen auf und machte sich auf den Marsch voraus.
Seine Frau war mit den Kindern weit auf dem Wege vorangegangen, um dort, wo der Pfad in den Busch einbog, von ihm Abschied zu nehmen.
Hier hockte die Frau mit ihrem Säugling an der Brust, ihren Mann erwartend. Die übrigen Kinder trollten in ihrer Nähe herum.
Die Frau, nach Indianerart auf dem Boden gehockt, weinte still vor sich hin, dabei den Oberkörper hin- und herwiegend in einem Rhythmus, der gewiss im Einklang stand mit der schmerzlichen Bewegung in ihrem Gemüt. Sie presste und herzte ihren Säugling an sich und ließ ihn wieder ein wenig frei im gleichen Rhythmus. Es war, als ob sich all ihr Schmerz nur auf das Kleine bezog. An dem Kinde äußerte sie ihre körperliche Empfindung, die sie ihrem Manne gegenüber nicht zeigen wollte, vielleicht nicht zeigen konnte.
Da kam Gregorio seines Weges, in einem wiegenden Schritt, reichlich gebückt unter der Last seines Packens. Weil er nicht aufsah, sondern infolge des Traggurtes, der über seiner Stirn lag, nur gerade einige Schritte weit vor sich sehen konnte, ohne weit nach links oder rechts blicken zu können, hatte er seine Frau nicht bemerkt.
Als er nur gerade noch drei Schritt von ihr entfernt war und aufruckte, um die Last besser zu verteilen, sah er seine Frau am Pfade hocken.
»Huj!« rief er kurz aus. Er war erstaunt, sie hier zu sehen. Er hielt seinen Schritt an, tat jedoch nur eine halbe Wendung zu ihr hin, als ob er andeuten wolle, dass er nicht die Absicht habe, stehenzubleiben oder gar zu rasten.
Die Frau hielt ihren Säugling hoch, als wollte sie ihn ihrem Manne zureichen, damit er ihn noch einmal sehen möchte. Ihre Brust war bloß. Sie bemerkte es und nestelte ihr Jäckchen zu, ohne es aber zu schließen, weil sie es in ihrer Erregung zu hastig tat.
Sie richtete sich ein wenig auf und kniete nun, immer noch ihr Kind ihrem Manne hinhaltend. Dann begann sie zu schreien wie ein Tier. Ihr Gesicht, nicht gewaschen und dick aufgedunsen von nächtelangem Weinen, verzog sich zu einer Unbestimmtheit, die nur noch die Form eines weit geöffneten bläulichroten Mundes mit kräftigen Zähnen hatte. Ihre schwarzen Augen waren zwei dünne Striche, aus denen sich, dicke Tränen drängten. Ihr dickes schwarzes Haar war zerzaust und zerrauft und stand in verfilzten Strähnen nach allen Richtungen hin auseinander wie die dünnen Ästchen eines unentwirrbaren Strauches im Dschungel. Ihre kleine kurze Nase zog sich breit auseinander, und die an sich schon sehr weiten gesunden Öffnungen erschienen wie Höhlengänge zu den Mysterien einer unbekannten Welt, die hinter der braunroten wetterharten Haut ihres Gesichtes begann. In langen gezogenen Strömen schrie sie den Klageschrei der indianischen Frau hinaus in die Unerbittlichkeit einer Umwelt, in die der Mensch gesetzt wird, zu seiner ewigen Not behaftet mit körperlichen und seelischen Gefühlen, beklagenswerter als ein stumpfes Tier, das beneidenswert ist, keine Gefühle gegenüber der Zukunft zu haben.
Ihr Trauerschrei um ein totes Kind, um ihre tote Mutter, um ihren toten Gatten. Es brauchte ihr niemand zu sagen, sie wusste es: Ihr Mann wurde ihr genommen, um nie wieder zu ihr zurückzukehren. Wie ein Kalb, das vom Viehhändler aus dem Orte geführt wird, nie mehr zurückkommt. Ein Tier, das sprechen und lachen konnte, aber keine Seele nach der Meinung derer besaß, die über es zu Gericht saßen und es regierten.
Dreckig, verlaust, katholisch getauft, aber dennoch Heide, ungebildeter als ein Hund, gierig nach Branntwein, arbeitsgewohnte Hände hart wie Ebenholz, das Haar auf dem Kopfe durchgescheuert von den rohen Tragriemen schwerer Lasten, durchgescheuert und kahl wie die Druckstellen auf dem Rücken eines Lastmules.
Eine Ziffer im Schlachthaus der Launen derer, die Land und Rasse beherrschten.
Die Frau kannte die Zusammenhänge, die ihr Schicksal bestimmten, sowenig, wie ihr Mann sie kannte. Und sowenig wie eine Kuh, die von dem Händler über Land getrieben wird, um im Fleischladen zu landen, daran denkt, an geeigneter Stelle am Wege fortzulaufen, sowenig denkt die Frau daran, dass ihr Mann zurückkommen könnte. Sie sieht, wie Vieh fortgebracht wird; und weil sie aus hundert Erfahrungen weiß, dass die großen Patroncitos, die Herrchen mit dem Revolver im Gürtel, keinen Unterschied kennen oder machen zwischen Vieh und Indianer, darum weiß sie, dass sie jetzt ihren Mann zum letzten Male sieht.
In ihrem gellenden Jammer ist kein Gedanke verborgen, der sich egoistisch auf sie selbst bezieht, was aus ihr und aus den Kindern nun werden soll. Das berührt sie nicht. Die Kinder wurden ihr geboren, und die Kinder werden essen und leben. Das Morgen ist weit, und wenn es kommt, wird sich der Tisch decken. Ihr Jammer ist in diesem Augenblick in seiner vollen vulkanischen Kraft nur auf das Schicksal ihres Mannes gerichtet. Ihr Mann ist ihr in ihrem Herzeleid weder Bettgenosse noch der Versorger ihrer Kinder. Das ist wenig. Darum würde sie keinen Schrei ausstoßen, vielleicht kaum die Mundwinkel verziehen. Aber ihr Mann ist der Vater ihrer Kinder, die ihr Herzblut sind. Ihren Kindern wird die Gottheit genommen in ihm. Den Kindern wird der Altar zerstört, an dem sie beten. Und für sie selbst, die Frau, wird der Mittelpunkt ihres Lebens zerbrochen. Ihr Mann mag ein Trunkenbold sein, er mag sie schlagen, er mag sie arbeiten lassen bis an das Ende ihrer Kräfte; aber trotz alledem, er ist der Kernpunkt ihres Seins. All ihr Denken, Handeln und Sorgen sammelt sich auf ihn, er ist ihre Religion, ihr Herr, ihr einziger Freund und ihr treuester Kamerad. Er ist ihre wahre Heimat. Er ist das einzige Vaterland, das sie kennt. Mit ihm und durch ihn ist die Welt um sie herum belebt. Ohne ihn bricht die Welt in Stücke. Nicht ihre wirtschaftlichen Probleme sind mit ihm verknüpft. Diese Probleme vermag sie mit Hilfe der Sippe zu lösen, schwer vielleicht, aber doch mit gewisser Sicherheit. Es sind ihre seelischen Probleme, die ohne ihn leer und verschwommen werden. So wie unpersönliche Menschen in ihrer Seele leer werden, wenn ihnen ihr Gott oder ihr Götze oder ihre Heiligen genommen werden.
Sie jammert nicht um sich, sie bemitleidet sich nicht. Ihr erschütternder Jammer ist der Ausdruck ihres Schmerzes, eines körperlichen Schmerzes beinahe, weil sie auseinander gerissen wird und ein Stück ihres Seins, das größere Stück ihres Seins und Wesens, von ihr geschnitten wird.

 

4

Ihr Schreien brachte ihre herumtollenden Kinder herbei, die sich nahe an sie drängten und zu weinen begannen, als sie ihre Mutter in Trauer sahen. Gregorio war stehen geblieben und wandte sich ihr halb zu, sie anblickend, als ob sie schon nicht mehr zu ihm gehöre. Er gedachte weiterzugehen.
Als er aber seine Frau in dieser wilden Verzweiflung sah, und mehr noch vielleicht infolge des zappelnden nackten Säuglings, den ihm seine Frau wie eine Opfergabe entgegenstreckte, kam er dicht zu ihr heran, ließ sich auf die Knie nieder und zog seinen Kopf aus dem Traggurt.
»Tate, Tate«, riefen die Kinder und krabbelten an ihm herum. Ihr Weinen versiegte sofort, als sie sahen, dass ihre Mutter sich beruhigte im Augenblick, als sie ihren Mann an ihrer Seite wusste. Es waren nur einige Minuten, die er hier verweilen durfte. Aber mit allen Sinnen und Gefühlen im Augenblicke lebend, waren diese eilenden Minuten für die Frau gleich Jahrhunderten im Erlebnis. Auch nicht einer dieser wenigen Minuten wurde eine Sekunde geraubt, um sie an einen einzigen Gedanken an die Zukunft zu vergeuden. Keine dieser Minuten kam je wieder; und was in ihnen nicht empfunden und erlebt wurde, konnten Ewigkeiten nicht erzeugen.
Gregorio offenbarte durch keine Bewegung in seinem Gesicht, was in ihm vorging. Er bewegte die Lippen, als wären sie am Vertrocknen.
Er nahm den Säugling aus den vorgestreckten Armen seiner Frau, schaukelte ihn, hielt ihn ein wenig auf seinen Knien, berührte mit den runden braunen Backen des Kindes zärtlich kosend sein Gesicht.
Aber nicht ein einziges Wort sagte er. Nicht eines des Trostes, keines  mit  ungläubiger  Hoffnung  auf Wiederkehr.   Sein
Schicksal war es, dass er Vieh war. Er hatte weder Macht noch Fähigkeit, dieses Schicksal zu beeinflussen. Was die Patroncitos, die Herrchen, bestimmten, entschieden und mit ihm taten, musste er annehmen. Weder sein Ja noch sein Nein konnte daran etwas ändern. Menschenliebe wohnt weit weg, gegenseitiges menschliches Verstehen liegt fern außerhalb der Grenzen der Welt, und der allweise und allgerechte Schöpfer aller Dinge bleibt unsichtbar und unerforschlich, damit seine Priester ihr Einkommen aus dem Weinberge nicht verlieren.
Die Frau schluchzte leise in sich hinein und rückte ganz nahe, um ihren Mann zu fühlen. »Gregorio, Gregorio«, sagte sie einige Male. Das waren die einzigen Worte, in denen sie alle ihre gegenwärtigen Gefühle auszudrücken vermochte.
Er gab ihr keine Ratschläge, was sie tun sollte, wenn er fort sei. Sie fragte ihn auch nicht darum. Das waren Dinge, die zu behandeln genug Zeit war, wenn sie drängten. Die Kinder begannen erneut, herumzutollen. Mann und Frau saßen still beieinander, ohne sich anzusehen. Beide sahen vor sich auf den schmalen Pfad, als ob sie die verwischten Hufspuren der Pferde und Mules, die da gegangen waren, auf ihr Alter prüfen wollten.
Gewiss mag es sein, dass die beiden nichts dachten, dass die Umwelt vor ihnen verschwand und dass sie sich ausgelöscht fühlten aus ihrem bewussten Dasein wie in einem tiefen Schlafe. Plötzlich jedoch wurden sie aus diesem Schlafe aufgerissen, hart und unerbittlich.
»Ola, Gregorio, voran, voran!« Don Gabriel kam angeritten. Seine Frau ritt voran, das Tragmule folgte, und hinten ritt Don Gabriel. Als er Gregorio hier am Wege sitzen sah, fühlte er, dass er etwas sagen müsse. Er wusste, dass der Indianer, trotz seines schweren Packens, nicht nur mit den Tieren Schritt halten konnte, sondern ihnen meist voraus sein würde auf dem Wege. Der Indianer kletterte über steile Abhänge und kroch quer durch die Schluchten, wo die Tiere nicht gehen konnten. Er marschierte den kürzesten Weg, während die Tiere zuweilen sehr weite Umwege zu machen hatten. Und der Frau des Don Gabriel wegen, wie auch des Tragmules wegen, liefen die Tiere selten mehr als einen eiligen Schritt.
»Oritito, Patroncito«, antwortete Gregorio, »ya me voy; ich komme schon.«
Er richtete sich auf bei diesen Worten und gab seiner Frau den Säugling zurück. Don Gabriel, ohne auch nur eine Sekunde zu halten, ritt unbekümmert weiter.
Die Frau presste das Kleine sofort wild und verzweifelt an sich mit überhastigen und wirren Bewegungen ihrer Arme und Hände. Da sie ihren Mann nicht umarmen und an sich pressen konnte, weil dies gegen ihre Sitte verstieß, sie sich aber gedrängt fühlte, körperlich auszudrücken, was sie in diesem Augenblick empfand, um sich zu befreien, darum überlud sie ihr Kleines mit den Umarmungen, die in ihrem Herzen ihrem Mann galten. Sie blieb hocken auf ihrem Platz. Sie presste ihre Lippen fest zusammen und sah mit großen nassen Augen auf zu ihrem Manne, alle seine Bewegungen des Aufbruchs verfolgend, so, als wolle sie die Erinnerung an jene Bewegungen für ewig in sich aufnehmen. Mehrere Male schüttelte sie heftig den Kopf, als wolle sie etwas verneinen, weil es nicht möglich sein könne. Während sie ihrem Manne zusah, wie er aufpackte, ergriff sie hin und wieder ein Händchen des Kleinen, presste es wie im Krampf zwischen ihre Finger und schob es in ihren Mund, leicht, aber doch völlig unbewusst ihrer Handlung, daran kauend und saugend.
Gregorio hatte seinen Packen geordnet. Er setzte sich nieder, legte den Gurt über den Kopf, warf den Oberkörper mit einem kurzen sprungartigen Ruck nach vorn und stand dabei auf. Mit der Last auf dem Rücken wandte er sich nun seiner Frau zu. Er reichte ihr die Hand, und sie berührten, nach der Weise ihrer Rasse, die ersten Glieder ihrer Finger, ohne die Hände zu drücken. Aber ehe sie die Hände voneinander trennten, griff die Frau fest zu, nahm die Hand ihres Mannes und küsste sie. Sein
Gesicht wurde trübe, als zöge ein dünner Schleier darüber hin. Er presste die Augen halb zu, schluckte einmal gurgelnd in der Kehle und griff mit der linken Hand an den Gurt über der Stirn, als müsse er ihn bequemer rücken.
Für den Hauch einer Sekunde presste er seinen Handrücken gegen die Lippen seiner Frau. Dann zog er die Hand heftig zurück. Die Frau hielt ihm den Säugling zu, und er legte seine Fingerspitzen auf das Haar des Kindes.
Ihre Stimme in Gewalt nehmend, rief die Frau aus: »Muchachos, Tate geht.«
Die Kinder kamen herbei. Jedes, auch das allerkleinste, ergriff die Hand des Vaters und küsste sie. Er berührte das Haar jedes Kindes als Gegengruß.
Die Kinder schlängelten sich von dannen.
Er stand eine Weile vor seiner Frau. Sah sie an in ihrer ungewaschenen und jammerheulenden Kümmerlichkeit, in ihren Muskeln und Sehnen verkrümmt und verkrampft von dem wilden Widerstand gegen den zerfetzenden Aufruhr ihrer Empfindungen, denen gegenüber sie nun endlich zu unterliegen begann, den Säugling an der nackten Brust hängend, ihre Augen, dick verquollen und mit großen kugeligen Tropfen durchschwemmt, auf ihn gerichtet, ihre nackten Beine mit den krustigen bloßen Füßen vorgestreckt aus dem schwarzen zerlöcherten Wollkittel, der ihre einzige Bekleidung war, die sie auf Erden besaß. Er sah auf sie, und er sah in ihr, wie nie zuvor, den ganzen Inbegriff seiner Heimat und seiner Welt. Sah diese Welt zum ersten Mal in seinem Dasein vor ihm entstehen und im Entstehen auseinander fallen. Er öffnete ein wenig den Mund, als wolle er einen tiefen Atem einholen. Aber ehe er die Bewegung vollendete, presste er die Lippen fest aufeinander.
Dann drehte er sich rasch um und ging seines Weges, ohne noch etwas zu sagen, ohne sich umzublicken, ohne anzuhalten Nach zehn Schritten hatte ihn der Busch verschlungen.

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