Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
B. Traven - Regierung (1931)
http://nemesis.marxists.org

ZWEITES KAPITEL

1

Die wenigen Pesos, die Don Gabriel ausgeliehen hatte, waren zu ihm mit großer Gefolgschaft heimgekehrt. So wurde es ihm nun auch möglich, das Geschäft zu erweitern.
Er war verpflichtet, Schule zu halten. Das war eines seiner vielen Nebenämter. Es konnte auch leicht als Nebenamt betrieben werden, weil das Hauptamt nur darin bestand, wenigstens im wesentlichen, dass er anwesend war.
Lehrer war er nie gewesen. Er konnte lesen und schreiben und das Notwendigste rechnen.
Aber unter der Diktatur wurde kein Wert darauf gelegt, dass die Kinder der proletarischen Bevölkerung unterrichtet wurden. Sobald Proletarier ein wenig Bildung haben, wollen sie gleich noch mehr bekommen und werden unzufrieden mit den Verhältnissen, die Gott mit Hilfe der Kirche und der Regierung schuf und nun zu erhalten wünscht.
Die Kinder der Indianer oder die Indianer selbst zu belehren und ihnen Bildung zu geben, galt als Versündigung gegen den Willen des Höchsten. Wenn es im Willen des Höchsten gelegen hätte, dass alle Menschen lesen und schreiben können sollten, so würde ihnen Gott diese Fähigkeit gleich bei der Geburt mitgegeben haben. Der Wille des Höchsten wurde auf Erden vertreten von der Kirche, die aus überirdischer Erleuchtung ihrer Diener genau wusste, was Gott wollte und was er nicht wollte; denn sie standen mit ihm im vertraulichen Verkehr als seine gesalbten Beamten und Zwangsvollstrecker.
Die Diktatur konnte sich nur dadurch halten, dass sie die Macht mit der Kirche teilte und ihr jegliche Konzession gab, die sie verlangte. Und eine dieser Konzessionen war, dass die Indianer keine Schulbildung erhalten durften, weil deren einfältiger Kinderglauben die schönste christliche Zierde sei. Aber es kamen Touristen aus fremden Ländern ins Land und Zeitungsschreiber. Und es kamen Leute, die Geld hatten und es nutzbringend anlegen wollten in einem Lande, wo die Konkurrenz weniger hart und zerreibend war als in ihrem Heimatlande. Der Diktator wünschte, dass das Land aufgeschlossen werden sollte, um es einzureihen in die Reihe der hochzivilisierten Nationen. Der Diktator einer hochzivilisierten Nation ist angesehener und seines Platzes in der Weltgeschichte sicherer als der Diktator einer Horde von Barbaren. Die Mexikaner waren nach Ansicht ihres Diktators unfähig, ihr Land selbst aufzuschließen, weil sie, wie er meinte, nicht zu arbeiten verstünden und auch nicht arbeiten wollten.
Er selbst, der Diktator, obgleich ebenfalls Mexikaner, machte eine Ausnahme. Darum ließ er sich immer wieder und wieder wählen von denen, denen er das Recht gab, ihn wählen zu dürfen, und die dafür mit Posten und Ämtern belohnt wurden. Die Komödie des Wählens wurde aufrechterhalten, um den zivilisierten Ländern zu zeigen, dass hier eine konstitutionelle Republik sei, in der das angelegte Kapital und die Konzessionen, die den amerikanischen Banken und Minenkompanien gegeben wurden, sicher seien. Der Diktator hielt sich für den besten Mexikaner und für den einzigen Mexikaner, der wert war, zu leben. Im übrigen wäre es für Mexiko besser, wenn eine Sintflut alle anderen Mexikaner in vierundzwanzig Stunden hinwegschwemmen würde. Stand eine neue Wahl bevor, so ließ er seine Clique feierlich in Audienz antreten und ihn flehentlich bitten, doch ja die Kandidatur wieder anzunehmen. Er weigerte sich in der Art eines Türwächters des Palastes eines Millionärs, der sich für zu vornehm hält, ein Trinkgeld anzunehmen, der aber sehr enttäuscht ist, wenn man es ihm nicht in die offene Hand, die er auf dem Rücken hält, hineinlegt.
Endlich, wenn die Clique auf den Knien vor ihm lag, erklärte der Diktator: »Ich wollte es nicht mehr. Ich habe geschworen, die Kandidatur abzulehnen. Aber da Sie, Caballeros, mich so inständig darum bitten, will ich mich abermals für das mexikanische Volk aufopfern.«
Der Diktator opferte sich für sein Volk achtmal in dieser Weise auf, bis ihn die Revolution aus dem Sattel warf und das undankbare mexikanische Volk seinen großen Staatsmann im Exil, auf fremder Erde, verbittert und vergrämt sterben ließ, den Fluch und die pessimistischen Verschwörungen dieses großen Dulders auf Diktatorenthron verschmerzend.
Der Diktator sah es als seine wichtigste Aufgabe an, gute Statistiken in die Welt zu zaubern. Hätte er das unterlassen, würde die Welt ja nicht erfahren haben, was für ein großer Staatsmann er war und wie sehr das mexikanische Volk ihm dankbar sein musste, dass er sich immer wieder aufopferte und die Dornenkrone eines Präsidenten auf sich presste, um der erste und oberste Diener seines geliebten Volkes zu sein.
Die unzähligen Horden von Banditen, die das Land durchschwärmten und die sich aus Indianern bildeten, denen ihr Land genommen war, um es Latifundienbesitzern, amerikanischen Kompanien, Generalen, Diputados, Senadores und Angehörigen der aristokratischen Cliquen zu geben, und vergrößert wurden von Peones, die der Tyrannei der Latifundienbesitzer entwichen waren, wurden von der eisernen Hand des großen Staatsmannes dadurch beseitigt, dass die Zeitungen darüber bei Strafe der Konfiskation nicht berichten durften.
Aber der Diktator wollte nicht nur die eiserne Hand des großen Staatsmannes, der dem Lande inneren Frieden und
Sicherheit verbürgte, besitzen, sondern er wollte auch in den zivilisierten Ländern den Ruhm haben, der große moderne Erzieher des mexikanischen Volkes zu sein.
Diesen Ruhm erreichte er mit Statistiken über die große Zahl von Landschulen, die er angeblich gegründet hatte, um die Peones wie das gesamte Proletariat des mexikanischen Volkes mit moderner Bildung zu füttern.
Ein Land, das viele Schulen hat, steht hoch in der Achtung der zivilisierten Nationen, und es ist ein günstiger Platz, um fremdes Kapital anzulocken und dort anzulegen.
Die Schulen in den großen Städten waren den Schulen in den Vereinigten Staaten ebenbürtig. Das mussten sie auch sein. Denn hier kamen Touristen, Bankiers und Zeitungsschreiber hin, die eingeladen wurden, diese Schulen zu besichtigen. Aber Touristen, Bankiers und Zeitungsschreiber gingen nicht in die fernen Dörfer der Indianer und des Landproletariats. Ihnen legte man die Statistiken von den vielen Landschulen vor, die der Diktator gegründet hatte. Damit begnügten sich die fremden Besucher. Sie schlossen von den wenigen Musterschulen in den großen Städten auf die Schulen in den Dörfern. Sie scheuten sich vor den beschwerlichen Reisen in das Innere des Landes und erhielten ihre Kenntnis von schön aufgebauten Modellen in den Ausstellungen des Unterrichtsministeriums.
Die Escuela Rural, die Landschule in Bujvilum, deren Lehrer Don Gabriel war, gehörte zu jenen Schulen, die der große Staatsmann und Erzieher des mexikanischen Volkes gegründet hatte und die in den Statistiken als Schule für Indianer mit hundertzwanzig Schülern glänzte.
Diese Escuela Rural de Bujvilum wurde genauso geleitet wie alle übrigen Landschulen der Republik.
Sie hatte wirklich hundertzwanzig Schüler männlichen Geschlechts. Die Statistik log nicht.

 

2

Don Gabriel fragte Narciso, den Häuptling: »Wie viel Jungen sind hier in Bujvilum und in den Siedlungen, die zum Municipio gehören?«
»Ich werde sie auszählen lassen«, sagte Narciso. Einige Tage später brachte er die Antwort: »Hundertzwanzig oder wohl einige mehr.«
»Die müssen alle hier in die Schule kommen«, ordnete Don Gabriel an. Der Jefe gab den Befehl rund.
Am nächsten Montag kamen etwa dreißig Jungen zur Schule. Die Mehrzahl war nackt.
Don Gabriel schrieb alle Namen auf. Denjenigen, die ihren Namen nicht wussten, weil sie ihn nie gehört hatten, gab er einen Namen.
Am Dienstag kamen wieder einige dreißig Jungen zur Schule. Die Hälfte war neu und am Montag nicht hier gewesen. Von den dreißig, die am vorhergegangenen Tage anwesend waren, hatte sich die Hälfte nicht mehr eingefunden, weil Don Gabriel, der nicht wusste, was er mit den Kindern machen sollte, drei Jungen verprügelt hatte, um wenigstens etwas zu tun und ihnen zu zeigen, wozu eine Schule gut sei. Die Väter der Jungen waren damit nicht einverstanden und untersagten ihren Jungen, wieder in die Schule zu gehen, weil sie nicht wünschten, dass der Secretario die Jungen verprügelte, nur weil sie sich auf dem Platze vor dem Cabildo gebalgt hatten.
Don Gabriel verprügelte wieder einige Jungen, weil er ja Lehrer war.
Am nächsten Tage blieb wieder die Hälfte der Jungen fort. Sie hatten es vorgezogen, mit ihren Vätern auf den Feldern zu arbeiten, statt sich in der Schule verprügeln zu lassen. Aber ein
Dutzend neuer Jungen war gekommen, die weder am Montag noch am Dienstag hier gewesen waren. Im Verlaufe von zwei Wochen waren alle hundertzwanzig Jungen wenigstens jeder einmal in der Schule gewesen. Don Gabriel schickte seinen Report an die Regierung, dass er hundertzwanzig Schüler habe, deren Namen er in einer Liste angab. Die Schule kam in die Statistik und machte dort einen vortrefflichen Eindruck.
Da Don Gabriel jeden Tag Schüler hatte, musste er natürlich unterrichten.
Die Schüler kamen um sechs Uhr morgens, wie es von ihm befohlen worden war. Oder, genau gesagt, die Kinder kamen gleich nach Sonnenaufgang, weil weder Don Gabriel noch sonst irgendwer im Ort eine Uhr besaß.
Aber um sechs Uhr war Don Gabriel noch nicht aufgestanden. Nur seine Frau war auf, und das Bett war warm. Um halb acht bekam er seinen schwarzen Kaffee zu trinken. Dann trat er in die Tür und rief hinüber zu dem Platze vor der Schultür: »Seid ihr alle da, Muchachos?«
»Ja, Señor Profesor, wir sind alle da«, schrieen die Jungen. »Ich komme gleich. Macht nicht soviel Lärm, verflucht noch mal!« rief Don Gabriel.
Die Jungen setzten sich eine Weile in das Gras wie kleine Mäuschen!
Als Don Gabriel wieder im Hause war, sich hier herumdrückte und mit seiner Frau querulierte, weil er nicht wusste, was er wollte und was er tun sollte, begannen die Jungen, aufs neue wieder zu jagen und zu balgen. Nach einer halben Stunde trat Don Gabriel wieder in die Tür, verärgert infolge eines gewöhnlichen Streites mit seiner Frau, und schrie erbost: »Ihr gottverdammtes Gesindel, habe ich euch nicht befohlen, euch ruhig zu verhalten?« Er packte sich einen Jungen heraus und gab ihm eine Backpfeife. Der Junge schrie heulend: »Ich werde es meinem Vater sagen, dass du mich gehauen hast.«
Er lief fort und war an diesem Tage nicht wieder zu sehen. Es kamen inzwischen einige neue Jungen an. Nach einer Weile krepelten und balgten sich die Jungen wieder, um zu sehen, wer am längsten auf dem Kopfe stehen könne, ohne umzufallen. Don Gabriel saß jetzt beim Frühstück und sagte zu seiner Frau: »Diese gottverfluchten Bohnen sind auch wieder nicht weich. Kreuzverdammt noch mal, caray, wenn du nicht kochen kannst, hättest du nicht heiraten sollen! Deine Mutter ist mir auch gerade die Rechte. Hat nichts und weiß nichts und verbringt das ganze hart verdiente Geld von Don Manuel. Wie ich den armen Mann bedaure, dass er dein Vater ist! Die Tortillas sind kalt und wie Stroh. Ich habe mir den Löffel in eine schöne Suppe gesteckt. Wie mich der liebe Gott nur so bitter strafen konnte, dass ich mich mit deiner Familie eingelassen habe! Dein Bruder Sixto ist der reine Strauchdieb. Lässt auch nicht ein einziges Mädchen in Ruhe. Blind will ich doch gleich werden, wenn sie den nicht eines Tages vor die Gewehre stellen.«
»Lass meine Familie in Ruh', du Schurke, das sage ich dir nur«, schrie die Frau. »Deine Familie ist bekannt bei aller Welt. Vorne nichts und hinten noch weniger, und mehr Schulden als Läuse. Hätte ich doch nur auf meine gute arme Mutter gehört, die hat mich vom ersten Tage an vor dir gewarnt. Und wie recht sie hatte, Dios en el cielo, Gott im Himmel, weiß, wie recht sie hatte. Deine Mutter kann meiner nicht einmal das bedreckte Hemd von hinten küssen. Hätte ich mich doch lieber aufgehängt, als mich mit dir Betrüger einzulassen.«
Darauf setzte sich die Frau in eine Ecke und begann zu heulen und zu quietschen wie eine Schneiderschere. Don Gabriel klatschte die Tortilla, die er in der Hand hielt, wütend auf die Tischplatte, sprang zur Tür, nahm einen Knüppel und warf ihn mit voller Wucht zwischen die Horden der sich balgenden Jungen.
»Gottverfluchte Hundebrut«, schrie er, »habe ich euch nicht zweihundertmal gesagt, dass ihr nicht so schreien sollt? Alle der
Reihe nach verprügele ich euch, ihr stinkigen Ratten. Gleich komme ich.« Schreiend rannten wieder einige Jungen fort, hinüber zum Dorf. Die tapferen hingegen blieben und setzten sich still auf das Gras, wo sie hockten wie eingeschüchterte Regenwürmer, die vergessen haben, aus welchem Loch sie gekrochen sind, und nun nur noch die einzige Hoffnung haben, dass ein Schwarzvogel sie findet, aufpickt und so von ihrem Heimweh erlöst. Wieder kamen einige neue Jungen an. Sie brachten ihre Hunde mit, weil sie sich von ihnen nicht trennen konnten und die Hunde nicht von ihnen.

 

3

Inzwischen war es zehn Uhr geworden.
Don Gabriel war in seine Amtsstube gegangen, um zu sehen, ob sich dort etwas ereignet habe.
Es hatte sich nichts ereignet. Alles war so, wie er es am Abend dort zurückgelassen hatte. Einige Papiere und Briefe waren aufgeschichtet. Einige waren aufgespießt an Nägeln, die in der Lehmwand steckten.
Es konnte sich in seiner Amtsstube auch nichts ereignen, denn seine Regierungsgeschäfte gingen sehr langsam vor sich. Nun sah er sich um, ob nicht vielleicht doch etwas zu tun sei, weil er ja der Ortssekretär war. Aber so sehr er sich auch umblickte und hin und her wandte, er fand nichts, was seine Regierungstätigkeit erforderlich gemacht hätte.
Er schichtete die Briefe und Bogen und alle gedruckten Verordnungen und Anweisungen, die auf dem Tische lagen, um und nochmals um. Jeden Wisch und jeden Zettel hatte er hundertmal schon gelesen und sich um nichts gekümmert, was in den gedruckten Anweisungen der Regierung stand. Er hätte einen Schreiber haben müssen, aber er hatte keinen. Er würde auch nicht gewusst haben, was er dem Schreiber zum Schreiben hätte geben sollen, denn es war nichts da, was zu schreiben nötig gewesen wäre. Er würde ihm die gedruckten Verordnungen zum Abschreiben gegeben haben, um ihn zu beschäftigen. Als er alle Zettel und Bogen mehrere Male durchgeschichtet hatte, legte er sie wieder so hin, wie sie vorher gelegen hatten, strich sie glatt, schob sie in eine Ecke des Tisches und regelte sie mit seinen Handflächen so, dass sie mit der Kante abschnitten, und schlug dann leicht mit der Handfläche darauf, als ob er fürchtete, die Briefbogen möchten in dieser Anordnung vielleicht nicht liegen bleiben.
Dann nahm er das Tintenfläschchen auf, schüttelte es, korkte es auf, roch daran, schüttelte es abermals, korkte es wieder zu und stellte es zurück auf seinen Platz. Nun nahm er den Federhalter zur Hand, besah sich die rostende Spitze, kratzte sie an seinem Haar sauber und legte den Halter schön wieder neben das Fläschchen. Die Amtsstube hatte nichts weiter als einen rohen Tisch, zwei ebenso rohe und sehr steife Stühle und zwei lange Bänke, die gegen die Wand standen.
Er sah hinüber zu den Bänken und bedauerte, dass keine Verhafteten oder Streitenden auf ihnen saßen, über deren Schicksale und Geldstrafen er verhandeln könnte.
Nun trat er vor die Tür, sah hinüber zum Dorf und hob die Hand auf, um zu sehen, wo der Wind heute herkomme. Er ging bis zur Ecke des Hauses, von wo aus er die Jungen sehen konnte, die vor der Tür der Schulstube wie Gänse schnatterten. Der Eingang zur Schulstube war um jene Ecke, an der anderen Wand des Ortsgebäudes.
Von der Ecke aus rief er: »Ahora, Muchachos, Escuela.« Die Jungen reihten sich vor der Tür in einer Linie auf. »Atencion! Achtung!« kommandierte er.
Einige der Jungen, die das an den vorhergegangenen Tagen gelernt hatten, schrieen wild: »Buenos dias, Señor Profesor!« Don Gabriel übte nun erst einmal eine halbe Stunde lang die Atencion, die Aufstellung der Jungen in Linie und das freudige Schreien >Guten Morgen, Señor Profesor!<, sobald er nahe genug der Schultür kam, um anzudeuten, dass jetzt die Schule beginne. Jeden Tag musste er das von neuem einüben, weil jeden Tag neue Jungen kamen, die das Reglement nicht kannten. Don Gabriel hielt diese Atencion für die wichtigste Lektion, die er den Jungen beibringen konnte. Es kostete ihn die geringste Arbeit seines Hirns, und diese so geringe Geistestätigkeit hatte einen raschen und sichtbaren Erfolg, der sich beim Eindrillen des Alphabetes nicht so schnell gezeigt haben würde.
Die Atencion war gleichzeitig eine ganz vorzügliche Schaustellung für Beamte, die etwa auf irgendwelchen Inspektionsreisen den Ort berühren sollten. Darunter vielleicht gar der Jefe Politico in eigener Person.
Sollte einer dieser Caballeros hier ankommen, so würde er die Schule anspringen lassen. Er würde >Atencion!< rufen, und der Señor Jefe Politico würde seine Freude an diesem gutgeölten Mechanismus haben. Er würde sich geschmeichelt fühlen und würde gleichzeitig erkennen, dass die Jungen gut erzogen sind und seine Autorität anerkennen. Wenn der Mechanismus auf Kommando so gut arbeitet, braucht ein Diktator keine Furcht zu haben, dass die Jungen, einmal Männer geworden, rebellieren könnten und Rechte verlangen. Wird das in der Jugend gut eingedrillt, so ruft der Diktator oder der Erzbischof nur laut >Atencion<, und alle vergessen, dass sie eigentlich kamen, um Rechte und Freiheiten zu verlangen.
Den Jungen machte das Anspringen zur Atencion und das Aufreihen in gerader Linie und das Schreien viel mehr Freude als das ruhige Hinsetzen.
Es war gleichzeitig ein guter Anfang für das Lernen der spanischen Sprache. Die Jungen kannten nur die Sprache ihrer indianischen Väter und Mütter. Und weil die Tseltales das Wort >Achtung!< in ihrer Sprache nicht haben, wenigstens nicht in dem hier gebrauchten Sinne, so begann damit gleich die erste Kenntnis der Landessprache.
Alles, was Don Gabriel die Kinder lehren wollte, musste er ihnen erst in ihrer eigenen Sprache erklären. Er sprach Tseltal nur sehr mangelhaft, ja mehr als dürftig. Leute, die weniger höflich und taktvoll gewesen wären, als es die Indianer waren, würden sich bei jedem Satze den Leib in Krämpfe gelacht haben. Erst recht Kinder. Aber die Kinder waren von ihren eigenen Eltern zu gut erzogen, als dass sie einen Erwachsenen lächerlich gemacht haben würden, auch wenn er stotterte oder eine schiefe Klumpnase trug. Als die Kinder das >Buenos dias,
Señor Profesor!< genügend kräftig brüllen konnten, lernten sie an Stelle des >Señor Profesor< das Wort >Caballero< setzen. Es wurde sie gelehrt, dass sie immer >Caballero< zu rufen hatten, wenn der Morgengruß nicht dem Lehrer galt. Caballero stimmte immer. Es konnte sogar auf einen geistlichen Herrn angewandt werden, über dessen Titel sich Don Gabriel nicht einig war.

 

4

Die Schulstube hatte ebenso wenig wie irgendein anderer Raum im Ortsgebäude ein Fenster. Es war nur die Tür da, die, wie in allen anderen Räumen des Hauses, offengelassen werden musste, wenn der Raum vom Tageslicht erhellt werden sollte. In den Dörfern und kleinen Städten in Mexiko hat kein Haus, ob Wohnhaus oder Amtsgebäude, Fenster; in den Städten mittlerer Größe ist die Mehrzahl der Häuser ohne Fenster; und selbst in den Großstädten des Landes findet man Hunderte von fensterlosen Häusern, besonders in den Vierteln des Proletariats. Nachts werden die Türen fest verrammelt, und die Menschen schlafen wie in einer Gruft. Lebt man längere Zeit in Mexiko, gewöhnt man sich so sehr daran, dass man völlig vergisst, dass Häuser auch Fenster haben können. Dies um so mehr, als selbst die Zimmer in zahlreichen kleinen Hotels keine Fenster haben. Das Klima lässt es zu, dass man das ganze Jahr hindurch die Tür offen halten kann und man deshalb Fenster gar nicht vermisst.
Der Fußboden im Schulraum war, wie in allen Räumen des Hauses, festgestampfte Erde. Die Decke war das Palmdach, ohne irgendein Zwischendach.
Die Möbel des Schulraumes bestanden aus einem sehr kleinen rohen Tischchen und einem verwitterten Stuhl. Es waren für die Kinder weder Bänke noch Tische vorhanden. Die Kinder mussten stehen, oder sie hockten sich auf den Boden. Auf dem Tischchen lag das einzige Buch, das die Schule besaß. Es trug den Titel: >Was muss ein Farmer wissen, um sein Vieh gesund zu erhalten?< Das Buch hatte wahrscheinlich ein früherer Secretario, der hier sein Amt gehabt hatte, aus Versehen zurückgelassen. Es war in Fetzen und hatte sicher den Kindern mehrerer Ortssekretäre als Spielzeug gedient. Außerdem war da noch ein kränkliches und verwahrlostes Büchlein, das man nicht als Buch bezeichnen konnte, weil die zweite Hälfte völlig fehlte. Die fehlenden Blätter waren gewiss einer durchreisenden Amtsperson gegeben worden, die nicht daran gewöhnt war, ausgerissene Grasbüschel für Privatzwecke zu gebrauchen. Dieses Buch sah auch darum noch sehr trostlos aus, weil die Ränder der verbliebenen Blätter von Cucarachas und Mäusen abgeknabbert waren. Der Titel hieß: Volkstümliche Astronomien
Ferner stand auf dem Tischchen ein Tintenfläschchen mit verdickter und verfilzter Tinte. Daneben lag ein Federhalter mit verrosteter Feder. Links davon lagen einige Bogen weißes Papier. Die Kinder hatten weder Schiefertafeln noch Papier. Jeder General im Lande, jeder Gouverneur und jeder Staatssekretär unterhielt nicht weniger als sechs Frauen. Viele mehr als zwanzig. Die Zahl ihrer Haciendas und Landgüter erhöhte sich in jedem Jahr. Und in jedem Jahr erhöhte sich die Zahl ihrer Mietshäuser und vermieteten Villen in den Hauptstädten. Zwölf Prozent der Frauen des Landes waren registrierte Frauen. Von den verbleibenden Frauen waren die Hälfte derer, die in Städten wohnten, nicht registriert, aber sie waren gezwungen, das gleiche zu tun wie die registrierten, um sich und ihre Kinder und ihre Väter und Mütter am Leben zu erhalten. Ihre Kundschaft fanden sie unter den Generalen und Obersten der Armee, unter den hohen Beamtendes Landes und unter denen, die das fremde Kapital in das Land brachten, um das Land zum Segen des Volkes aufzuschließen. Dreißig Jahre Diktatur und die Folgen eines goldenen Zeitalters unter jener Diktatur hatten ein stolzes Volk so zu unterdrücken verstanden, dass in den günstigsten Fällen drei Prozent des Volkes sich an den politischen Wahlen beteiligten, weil sie hinkommandiert wurden, um den Schein eines zivilisierten und konstitutionell regierten Landes aufrechtzuerhalten. Dagegen war die Wahl der Karnevalskönigin und des Clownkönigs der Fastnachtsprozession     so    wichtig,     dass    bei     diesen Karnevalswahlen zwanzigmal mehr Stimmen abgegeben wurden als bei der Wahl des Landespräsidenten.
Die Landschulen standen mit hohen Besuchsziffern in den Statistiken, um der Welt zu offenbaren, dass Mexiko mit in der ersten Front der zivilisierten Völker marschiere. Aber die Schulen hatten keine Bänke, keine Tische, keine Schiefertafeln, keine Bleistifte, keine Tinte, keine Federn, keine Bücher, kein Papier, keine geschulten Lehrer. Das wurde jedoch in den Statistiken nicht gesagt. Es verlangte auch niemand, dass es gesagt wurde. Darum lässt sich ja auch auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit mit Statistiken leichter lügen und betrügen als ohne Statistiken. Es ist nur nötig, das aus den Statistiken fortzulassen, was den beabsichtigten Wert einer Statistik vermindern könnte. Wenn angesichts so vieler Schulen und so hoher Besuchsziffern, nach einer Diktatur von dreißig Jahren, fünfundachtzig Prozent des Volkes weder lesen noch schreiben können, so kann der Diktator nichts dafür. Mit Trichtern kann man nichts in die Hirne füllen. Wenn die Kinder nicht lernen, so ist es ihre eigene Schuld, und es beweist nur, wie nötig es ist, dass die Diktatur der Regierung und die unheilvolle Macht der Kirche erhalten bleiben müssen, angesichts der angeblichen Unfähigkeit der Indianer, zu lernen, sich Wissen anzueignen und sich selbst zu regieren.

 

5

Hinter dem Tischchen im Schulraum waren zwei Brettchen aus alten Kisten an die Lehmwand genagelt.
Don Gabriel nahm ein Stück Kreide und schrieb an das Brett ein A und sagte: »Das ist ein A. Was ist das?« Die Kinder schrieen alle gleichzeitig: »Ein A.«
Dann schrieb er ein B und sagte: »Das ist ein Be. Was ist das?«
Die Kinder schrieen: »Ein Beee!«
Als er bis zum H gekommen war, fühlte er sich ermüdet und sagte:
»Jetzt ist Pause. Könnt auf dem Platze spielen. Aber prügelt euch nicht, sonst prügele ich euch mit der Bohnenstange, ihr Cochinos, ihr Schweine, die ihr seid. Was seid ihr?«
»Cochinos«, schrieen die Kinder im Chor, »Schweine«. »Das wisst ihr wenigstens«, sagte er.
Er ging in seine Wohnstube und goss sich einen Branntwein ein.
Dann ging er in die Küche und versöhnte sich mit seiner Frau. Da er mit ihr im selben Bett schlief und an die Nacht dachte, hielt er es für gesünder, sich mit seiner Frau immer rechtzeitig zu vertragen.
Vor Sonnenuntergang soll man sich immer vertragen, besonders mit seiner Frau, wenn man keine andere zur Verfügung hat. Aber es fehlte noch lange bis zum Sonnenuntergang. Und ehe der Tag abgelaufen war, hatte er sich noch viermal mit seiner Frau grässlich gezankt, jedoch immer wieder versöhnt. Weil die letzte Versöhnung vor sich ging, als er die Kerze verlöschte, hatte er keine Zeit mehr, sich ein fünftes
Mal mit ihr zu zanken, und es blieb bei der Versöhnung bis zum Morgen, wo sie aber, vor dem Frühstück noch, wieder abgebrochen wurde, um den neuen Tag mit ehelichen Unterhaltungen beginnen zu können. Wenn eine Ehe diese täglichen Schwergefechte nicht hätte, wäre sie nicht zu ertragen, und man müsste etwas Besseres erfinden. Denn das Leben des Mannes ist Kampf. Und das der Frau Gegenangriff mit Unterstützung der Artillerie in gut abgedeckten Stellungen im Rücken und ständigem Bereithalten der Reserven.
Nach einer Stunde nahm Don Gabriel den Unterricht wieder auf. Er begann ihn mit Atencion! und dem Verprügeln zweier Jungen, die sich in den Haaren gerauft hatten. Die Jungen liefen heulend nach Hause, um es ihrem Vater zu sagen.
Es waren fünf neue Jungen zur Schule erschienen, so dass der Verlust nicht groß war. Die Zahl aber war die gleiche geblieben, weil drei Jungen während der Pause fortgegangen und nicht wiedergekommen waren.
Don Gabriel kümmerte sich nicht darum. Er hatte nur die Pflicht, Schule anzusagen und Schule zu halten. Er zeigte nun auf das A: »Was ist das?«
»Ein F«, schrieen die Jungen in ihrer Mehrzahl, während zwei unter sich zu streiten begannen, dass es ein D sei. Don Gabriel war verzweifelt, schüttelte den Kopf und sagte: »Falsch, es ist ein A. «
»Falsch, es ist ein A«, schrieen die Jungen. »Was ist das?« fragte er und zeigte auf das B. »Ein Haa«, schrieen einige, während einige riefen: »Ein Eeee.« Don Gabriel raufte sich wutschnaubend sein dickes Haar und schrie wie besessen: »Ihr Ziegen lernt das nie in eurem Leben. Es hat gar keinen Zweck. In eure Indianerschädel kann man es nur mit einem Beil hineinhämmern.« Er schrieb nun ein I an das Brett.
»Das ist ein I. Sagt das alle nach.«
»Das ist ein Iiiii sagt das alle nach«, schrieen die Jungen gutgelaunt. »Verflucht noch mal«, schrie er wütend, »ihr sollt nur I sagen, weiter nichts.«
»Weiter nichts«, schrieen die Kinder. Die Jungen standen dicht vor dem Tischchen. Don Gabriel malte nun ein J an das Brett.
Da rief einer der Jungen: »Ich weiß es, das ist eine Ziege, die angebunden ist. Und mein Vater hat gesagt, ich soll nach Hause kommen und auf die Ziegen aufpassen, die gehen in den Mais.«
»Du bleibst hier«, sagte Don Gabriel. Der Junge begann zu heulen. »Mach dich zur Hölle!« schrie Don Gabriel. »Aber morgen früh bist du wieder hier in der Schule, oder du kriegst die Bohnenstange über den Rücken gedroschen.«
Der Junge rannte fort, und Don Gabriel sagte: »Das ist ein Jota.«
»Das ist ein Jota!« kam es im Chorus von den Jungen. »Aber das lernt ihr ja doch nicht. Was soll ich mich hier noch länger herumquälen und mir meine Lunge zerfetzen!« sagte Don Gabriel knurrend. »Wir werden jetzt etwas anderes lernen. Aufgepasst! Ich bin ein Mexikaner, Viva Mexico, Viva, Arriba!« Die Jungen schrieen es nach, und Don Gabriel sagte: »Das wisst ihr nun und behaltet es gut.«
Was es bedeutete, wussten die Kinder freilich nicht; denn Don Gabriel gab sich nicht die Mühe, es den Jungen in ihrer eigenen Sprache zu erklären.
Jedoch dieser Ruf >Viva Mexico!< brachte ihn auf einen neuen Gedanken in Hinsicht dessen, was er die Jungen lehren wollte. Irgendwelchen Lehrplan hatte er nicht, noch viel weniger irgendeine Vorstellung über die Art und Weise, wie man Kinder unterrichten müsse.
Er schrieb die Buchstaben auf ein Brett und nannte die Buchstaben beim Namen. Wenn die Kinder das behielten, so konnten sie lesen; wenn sie es nicht behielten, so war es nicht seine Schuld. Seiner Pflicht als Lehrer hatte er genügt, wenn er ihnen sagte, wie die Buchstaben hießen. Zudem wusste er auch nicht, was er mehr hätte tun können. Er war am Ende seiner Fähigkeiten als Lehrer angelangt.
Aber das >Viva Mexico!< war wie eine Eingebung. Er sah jetzt deutlich, in welcher Form er seine Lehrtätigkeit fortsetzen konnte. »Gebt gut acht, Muchachos«, sagte er, »ich werde euch hier etwas vorsingen, und ihr werdet es nachsingen.«
Er begann darauf die Nationalhymne zu singen. Er sang die Melodie so ungenau, dass es ebenso gut irgendein Foxtrott hätte sein können. Als er zur dritten Zeile gelangte, fand er, dass er die Worte nicht weiter wusste. Er begnügte sich infolgedessen damit, die ersten beiden Zeilen mehrere Male zu wiederholen und die Kinder aufzufordern, ihm die Worte nachzusingen. Sie plärrten sie nach, ohne ihren Sinn zu verstehen, weil das Lied ja in Spanisch war. Don Gabriel betrachtete das als ein vorzügliches Mittel, eine Hauptaufgabe des Schulunterrichts zu erfüllen: die indianischen Kinder die Landessprache zu lehren.
Als die Kinder diese zwei Zeilen ein Dutzend Mal heruntergeleiert hatten und es sich, wenn man oberflächlich hinhörte, nicht genau sagen ließ, ob die Jungen Spanisch oder Hindustanisch sprächen, dass man aber einem Zuhörer einreden konnte, es sei Spanisch, gab sich Don Gabriel mit seinem Erfolg zufrieden. Er wartete auf eine neue Eingebung, was er nun tun sollte. Und da fiel ihm ein, dass er die Kinder gut gebrauchen könne, um einen besseren Posten im Staate zu erhaschen.
Er wusste, dass kein Beamter, der etwa auf einer Inspektionsreise den Ort berühren würde, sich je die Mühe gab, in der Schule nachzuprüfen, ob die Kinder lesen und schreiben lernten. Eine solche Prüfung strengte nur an und war langweilig. Beamte wollen nicht gelangweilt werden. Aber ein vorzüglicher Eindruck wurde erzielt, wenn er die Jungen Atencion! stehen ließ, wenn sie in Spanisch >Guten Morgen, Caballero!< riefen, wenn sie einige Zeilen der Nationalhymne heruntersangen; und wenn sie gar noch den Fahnenschwur aufsagen konnten, in Spanisch natürlich, so würde der inspizierende Beamte einsehen, dass Don Gabriel der Mann für einen besseren Posten sei, vielleicht gar der geeignete Mann für einen frei werdenden Posten als Steuereinnehmer. Er kam zu der Überzeugung, dass für eine Vorstellung der Schule gewiss kein einziger Beamter erwarte, die Nationalhymne in allen ihren Strophen absingen zu lassen. Im Gegenteil, sie würden Don Gabriel im stillen Dank dafür wissen, dass er sie nicht damit peinigte den tausendmal gekauten Kohl in seiner ganzen erbarmungslosen Länge hier in diesem verlausten Dorf anzuhören. Es würde ihm als feiner Takt angerechnet werden, wenn er dem Beamten nur gerade die Idee des Unterrichts und des Erfolges zeigen würde. Und um zu offenbaren, dass hier nicht etwa gar Nachlässigkeit vorliege, würde er dem Beamten vorher sagen, dass er ihm in diesen kurzen Ansätzen zeigen wolle, in welcher Richtung sich der Unterricht bewege, und dass er wohl wisse, dass die Zeit des Señor Inspector zu kostbar sei, als dass er von ihm erwarten könne, sich stundenlang das Aufsagen und Herleiern der Kinder anzuhören. Don Gabriel kannte seine Leute. Als einige Monate später ein Steuerinspektor durch den Ort kam und, um seine Tätigkeit umfangreicher erscheinen zu lassen, eine Inspektion der Schule in seinen Reisebericht aufnahm, handelte Don Gabriel wirklich so, wie er sich das ausgedacht hatte. In seinem Reisereport an die Regierung fand sich die Note: Besuchte und inspizierte nebenamtlich die Schule des Ortes und fand sie, unter der Leitung des Sekretärs des Ortes, Señor Gabriel Ordunez, sehr verheißungsvoll und wirklich zufrieden stellend in jeder Hinsicht; alle Kinder sprechen Spanisch und befinden sich in vorgerückter Stufe in Lesen, Schreiben und Geschichte.
Der Report jenes Inspektors sagte, wie alle solche Reporte, die Wahrheit. Unter einer Diktatur oder einer Despotie nehmen Statistiken und Reporte einen wichtigen Rang ein. Sie sind die Fassaden des Gebäudes. Diese Fassaden vertragen es nicht, dass man auch nur mit dem Fingernagel an der Vergoldung herumkratzt. Und nirgendwo sonst verstehen Beamte und Nicht-
Beamte so geschickt Fassaden aufzubauen als unter einer Diktatur, wo ein jeder, der leben und unbehelligt leben will, vor allem, was er tut oder redet, eine Fassade errichten muss, um nicht in den Verdacht zu geraten, mit dem System nicht einverstanden zu sein. Als Don Gabriel drei Wochen lang Schule gehalten hatte, fand er, dass seine Schüler niemals im klaren waren, ob der Buchstabe, der an das Brett gemalt war, ein A oder ein G war. Don Gabriel sagte den Jungen jeden Tag zehnmal, dass sie das ja doch nicht lernen würden, auch wenn sie hundert Jahre lang in die Schule kämen.
Die Jungen sahen das selbst ein, und sie kamen nur dann zur Schule, wenn sie nicht wussten, was sie sonst hätten tun sollen. An keinem Tage waren je mehr als ein Viertel der Jungen anwesend. Don Gabriel erfand eine neue Lehrmethode. Er erfand sie eigentlich nicht; denn er hatte sie einmal in einem anderen Ort angefunden zur Zeit, als er noch Viehhändler war und er in jenem Ort von dem Sekretär Vieh kaufen wollte.
An diese Methode, die er dort sah, dachte er jetzt, und er ahmte sie nach mit einer geringen Verbesserung des Patents. In dieser geringen Verbesserung lag seine Erfindung.
Er suchte in seinem Laden alte und unbrauchbare Fetzen von Packpapier, zerrissenen Papierbeuteln und weißen Zeitungsrändern zusammen.
Dann schrieb er mit Tinte auf jeden solchen Fetzen einen kurzen Satz. Die Kuh ist braun und hat vier Beine. Die Ziege hat Hörner und einen Schwanz. Das Schaf ist schwarz oder weiß und hat Wolle. Der Baum ist hoch und hat viele Äste. Der Secretario ist ein Caballero und hat eine Frau. Der Gouverneur regiert den Staat ehrenhaft und mit Klugheit. Der Präsident des Landes ist ein General und ein guter kluger Mann. Die mexikanische Republik hat einen berühmten Präsidenten. Der Jefe Politico in unserm Distrikt ist ein Mann mit Ehre und wird respektiert von allen. Die Mexikaner sind edel und die tapfersten Krieger der Erde. Die Sonne steht am Himmel und ist rund.
Mein Vater hat einen Acker und Ziegen und Schafe.
Nachdem Don Gabriel genügend Papierfetzen mit je einem dieser Sätze beschrieben hatte, gab er jedem Jungen einen solchen beschriebenen Fetzen.
Er gab dem Jungen den Fetzen so in die Hand, dass die Stellung der Buchstaben, vom Auge des Kindes aus gesehen, richtig war. Dann sagte er zu dem Jungen: »So hältst du das Papier immer vor dir, dass dieser Punkt hier an dem Daumen deiner rechten Hand ist. So, wie ich es dir hier zeige.«
Nun las er dem Jungen den Satz vor, der auf dem Zettel stand, und der Junge musste den Satz so oft wiederholen, bis er ihn mit einiger Sicherheit nachsprechen konnte. Aber er erklärte dem Jungen den Satz in der indianischen Sprache nicht genügend. Der Junge erfasste nur eine ganz leise Ahnung von der Bedeutung des Inhaltes jenes Satzes. Er wusste nicht, welches Wort in dem Satze Kuh hieß oder Ziege. Der Junge konnte nach einigen Wiederholungen lediglich den Satz, der ihm vorgesagt war, herschnattern, ohne weder den Sinn richtig zu begreifen noch jedes einzelne Wort zu bezeichnen, denn diese Sätze waren ja alle in Spanisch.
Nachdem der Junge seinen Zettel besaß und er den Inhalt genügend oft nachgeredet hatte, bis er ihn auswendig wusste, wurde der Junge mit seinem Papierfetzen allein gelassen, und seine weitere Aufgabe bestand darin, nun unaufhörlich, ohne Unterbrechung, den Satz herunterzuschnattern, dabei den Fetzen vor den Augen haltend.
Nun nahm sich Don Gabriel den nächsten Jungen vor, ihm den Zettel in die Hand gebend und ihm den Satz, der darauf geschrieben stand, vorsagend, bis der Junge ihn aufgeschnappt hatte. Als alle Jungen ihren Zettel in den Händen hielten, schnatterte jeder seinen Satz zu gleicher Zeit mit allen anderen Jungen laut herunter. Es war ein wildes Durcheinanderreden von allen möglichen Sätzen, deren Dichter und Erzeuger Don
Gabriel war. Der Unterricht bestand in den folgenden Wochen in nichts anderem, als dass die Kinder die zwei Zeilen der Nationalhymne, die Don Gabriel selbst wusste, jeden Tag wiederholten und jeden Tag vier oder fünf Stunden lang, unterbrochen von einigen Pausen zum Herumbalgen, den Satz herschnatterten, der auf dem Zettelchen stand, das ein jeder Junge besaß.
Im Verlaufe dieser Wochen waren alle hundertzwanzig Jungen, jeder einzelne wenigstens einmal, zur Schule gekommen, und einem jeden wurde sein eigener Zettel gegeben. Richtig kam auch eines Tages auf seiner Inspektionsreise Don Casimiro, der Jefe Politico des Distriktes, durch den Ort. Nachdem die Jungen Atencion! gestanden und ihr >Buenos dias, Caballero!< schmetternd hinausgebrüllt hatten, sagten sie die zwei bekannten ersten Zeilen der Nationalhymne auf. Sie sagten sie auf in einem Singsang, der keine Ähnlichkeit mit der wirklichen Melodie aufwies. Aber Don Casimiro nahm das nicht übel. Es fiel auch nicht auf, dass die Jungen keine Zeile weiter von der Hymne wussten, denn sobald die zwei Zeilen heruntergerasselt waren, schrieen sie: »Ich bin ein Mexikaner, Viva Mexico, Arriba Mexico!«
Don Casimiro gewann dadurch den Eindruck, dass hier auf diesem Gebiete alles erreicht war, was aus indianischen Kindern nur herausgeholt werden konnte.
Dann trat jeder Junge vor, hielt seinen Zettel vor sich hin und las laut und schnatternd vor, was darauf stand. Der Jefe Politico sah einige der Zettel an und fand zu seiner großen Genugtuung, dass jeder Junge wirklich das las, was auf seinem Zettel stand.
Da er Don Gabriel so taktvoll fand, ihn nicht zu sehr mit der Vorstellung der Schüler zu belästigen, so war auch er taktvoll und machte keinen Versuch, die Zettel der Jungen untereinander auszutauschen und das eine oder andere Kind zu veranlassen, den Zettel eines ändern Jungen zu lesen. Und er ging auch nicht so weit, einen Jungen heranzurufen, auf ein bestimmtes Wort zu zeigen und zu fragen: »Wie heißt dieses Wort hier, unter dem ich meinen Finger habe?« Auch fragte er keinen Jungen: »Zeig mir auf deinem Zettel, wo das Wort Mais steht.«
Dann ließ Don Gabriel die Kinder von eins bis zwanzig zählen. Und endlich fragte er: »Was ist Mexiko?« Die Kinder riefen im Chorus: »Mexiko ist eine freie und unabhängige Republik.« - »Wer steht an der Spitze der mexikanischen Republik?« fragte er, und die Jungen schrieen: »Ein Präsident.«
Damit endete die Schulvorstellung. Don Casimiro schüttelte Don Gabriel die Hand und sagte ihm, dass er mit dem Resultat sehr zufrieden sei.
In seinem Report erwähnte er, dass die Jungen des Ortes unter der Leitung eines Sekretärs, den er selbst seiner großen Fähigkeiten wegen ausgesucht habe, alle Spanisch sprächen und alle schreiben, lesen und rechnen könnten.
Die Schule fand sich in der Jahresstatistik als Landschule mit hundert Prozent Erfolg verzeichnet und mit der Bemerkung ausgerüstet: Altersklasse von sieben bis vierzehn Jahren keine Analphabeten. Hunderte von indianischen Dörfern, die achtzig bis vierhundert Kilometer von der nächsten Eisenbahnlinie entfernt lagen, bekamen eine gleich gute Stellung in der Statistik; denn jeder Jefe Politico war ehrgeizig genug, einem andern Jefe Politico nicht den Vorrang zu lassen. Eine so vortreffliche Erziehungsstatistik konnte nicht einmal Dänemark aufweisen, und bis in die fernsten Zeiten hinaus war der Ruhm des Diktators als Erzieher seines Volkes und als warmherziger Beschützer der indianischen Rasse gesichert. Die Statistiken wurden auf schönem schwerem Papier mit Sorgfalt gedruckt, prachtvoll gebunden und dann an die Statistischen Ämter aller zivilisierten Nationen verschickt. »Was für ein hoffnungsreiches Land!« sagten die amerikanischen Bankiers. Und sie liehen willig Millionen her, um die Hände rechtzeitig in diesem Lande zu haben, das eine so große Zukunft versprach und wo der Indianer so versklavt war wie ein proletarischer Neger in
Liberia.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur