| ZWEITES KAPITEL1Die wenigen Pesos, die Don Gabriel ausgeliehen hatte, waren zu ihm  mit großer Gefolgschaft heimgekehrt. So wurde es ihm nun auch möglich,  das Geschäft zu erweitern.Er war verpflichtet, Schule zu halten.  Das war eines seiner vielen Nebenämter. Es konnte auch leicht als  Nebenamt betrieben werden, weil das Hauptamt nur darin bestand,  wenigstens im wesentlichen, dass er anwesend war.
 Lehrer war er nie gewesen. Er konnte lesen und schreiben und das Notwendigste rechnen.
 Aber unter der Diktatur wurde kein Wert darauf gelegt, dass die Kinder  der proletarischen Bevölkerung unterrichtet wurden. Sobald Proletarier  ein wenig Bildung haben, wollen sie gleich noch mehr bekommen und  werden unzufrieden mit den Verhältnissen, die Gott mit Hilfe der Kirche  und der Regierung schuf und nun zu erhalten wünscht.
 Die Kinder der Indianer oder die Indianer selbst zu belehren und ihnen  Bildung zu geben, galt als Versündigung gegen den Willen des Höchsten.  Wenn es im Willen des Höchsten gelegen hätte, dass alle Menschen lesen  und schreiben können sollten, so würde ihnen Gott diese Fähigkeit  gleich bei der Geburt mitgegeben haben. Der Wille des Höchsten wurde  auf Erden vertreten von der Kirche, die aus überirdischer Erleuchtung  ihrer Diener genau wusste, was Gott wollte und was er nicht wollte;  denn sie standen mit ihm im vertraulichen Verkehr als seine gesalbten  Beamten und Zwangsvollstrecker.
 Die Diktatur konnte sich nur dadurch halten, dass sie die Macht mit der  Kirche teilte und ihr jegliche Konzession gab, die sie verlangte. Und  eine dieser Konzessionen war, dass die Indianer keine Schulbildung  erhalten durften, weil deren einfältiger Kinderglauben die schönste  christliche Zierde sei. Aber es kamen Touristen aus fremden Ländern ins  Land und Zeitungsschreiber. Und es kamen Leute, die Geld hatten und es  nutzbringend anlegen wollten in einem Lande, wo die Konkurrenz weniger  hart und zerreibend war als in ihrem Heimatlande. Der Diktator  wünschte, dass das Land aufgeschlossen werden sollte, um es einzureihen  in die Reihe der hochzivilisierten Nationen. Der Diktator einer  hochzivilisierten Nation ist angesehener und seines Platzes in der  Weltgeschichte sicherer als der Diktator einer Horde von Barbaren. Die  Mexikaner waren nach Ansicht ihres Diktators unfähig, ihr Land selbst  aufzuschließen, weil sie, wie er meinte, nicht zu arbeiten verstünden  und auch nicht arbeiten wollten.
 Er selbst, der Diktator, obgleich ebenfalls Mexikaner, machte eine  Ausnahme. Darum ließ er sich immer wieder und wieder wählen von denen,  denen er das Recht gab, ihn wählen zu dürfen, und die dafür mit Posten  und Ämtern belohnt wurden. Die Komödie des Wählens wurde  aufrechterhalten, um den zivilisierten Ländern zu zeigen, dass hier  eine konstitutionelle Republik sei, in der das angelegte Kapital und  die Konzessionen, die den amerikanischen Banken und Minenkompanien  gegeben wurden, sicher seien. Der Diktator hielt sich für den besten  Mexikaner und für den einzigen Mexikaner, der wert war, zu leben. Im  übrigen wäre es für Mexiko besser, wenn eine Sintflut alle anderen  Mexikaner in vierundzwanzig Stunden hinwegschwemmen würde. Stand eine  neue Wahl bevor, so ließ er seine Clique feierlich in Audienz antreten  und ihn flehentlich bitten, doch ja die Kandidatur wieder anzunehmen.  Er weigerte sich in der Art eines Türwächters des Palastes eines  Millionärs, der sich für zu vornehm hält, ein Trinkgeld anzunehmen, der  aber sehr enttäuscht ist, wenn man es ihm nicht in die offene Hand, die  er auf dem Rücken hält, hineinlegt.
 Endlich, wenn die Clique auf den Knien vor ihm lag, erklärte der  Diktator: »Ich wollte es nicht mehr. Ich habe geschworen, die  Kandidatur abzulehnen. Aber da Sie, Caballeros, mich so inständig darum  bitten, will ich mich abermals für das mexikanische Volk aufopfern.«
 Der Diktator opferte sich für sein Volk achtmal in dieser Weise auf,  bis ihn die Revolution aus dem Sattel warf und das undankbare  mexikanische Volk seinen großen Staatsmann im Exil, auf fremder Erde,  verbittert und vergrämt sterben ließ, den Fluch und die pessimistischen  Verschwörungen dieses großen Dulders auf Diktatorenthron verschmerzend.
 Der Diktator sah es als seine wichtigste Aufgabe an, gute Statistiken  in die Welt zu zaubern. Hätte er das unterlassen, würde die Welt ja  nicht erfahren haben, was für ein großer Staatsmann er war und wie sehr  das mexikanische Volk ihm dankbar sein musste, dass er sich immer  wieder aufopferte und die Dornenkrone eines Präsidenten auf sich  presste, um der erste und oberste Diener seines geliebten Volkes zu  sein.
 Die unzähligen Horden von Banditen, die das Land durchschwärmten und  die sich aus Indianern bildeten, denen ihr Land genommen war, um es  Latifundienbesitzern, amerikanischen Kompanien, Generalen, Diputados,  Senadores und Angehörigen der aristokratischen Cliquen zu geben, und  vergrößert wurden von Peones, die der Tyrannei der Latifundienbesitzer  entwichen waren, wurden von der eisernen Hand des großen Staatsmannes  dadurch beseitigt, dass die Zeitungen darüber bei Strafe der  Konfiskation nicht berichten durften.
 Aber der Diktator wollte nicht nur die eiserne Hand des großen Staatsmannes, der dem Lande inneren Frieden und
 Sicherheit verbürgte, besitzen, sondern er wollte auch in den  zivilisierten Ländern den Ruhm haben, der große moderne Erzieher des  mexikanischen Volkes zu sein.
 Diesen Ruhm erreichte er mit Statistiken über die große Zahl von  Landschulen, die er angeblich gegründet hatte, um die Peones wie das  gesamte Proletariat des mexikanischen Volkes mit moderner Bildung zu  füttern.
 Ein Land, das viele Schulen hat, steht hoch in der Achtung der  zivilisierten Nationen, und es ist ein günstiger Platz, um fremdes  Kapital anzulocken und dort anzulegen.
 Die Schulen in den großen Städten waren den Schulen in den Vereinigten  Staaten ebenbürtig. Das mussten sie auch sein. Denn hier kamen  Touristen, Bankiers und Zeitungsschreiber hin, die eingeladen wurden,  diese Schulen zu besichtigen. Aber Touristen, Bankiers und  Zeitungsschreiber gingen nicht in die fernen Dörfer der Indianer und  des Landproletariats. Ihnen legte man die Statistiken von den vielen  Landschulen vor, die der Diktator gegründet hatte. Damit begnügten sich  die fremden Besucher. Sie schlossen von den wenigen Musterschulen in  den großen Städten auf die Schulen in den Dörfern. Sie scheuten sich  vor den beschwerlichen Reisen in das Innere des Landes und erhielten  ihre Kenntnis von schön aufgebauten Modellen in den Ausstellungen des  Unterrichtsministeriums.
 Die Escuela Rural, die Landschule in Bujvilum, deren Lehrer Don Gabriel  war, gehörte zu jenen Schulen, die der große Staatsmann und Erzieher  des mexikanischen Volkes gegründet hatte und die in den Statistiken als  Schule für Indianer mit hundertzwanzig Schülern glänzte.
 Diese Escuela Rural de Bujvilum wurde genauso geleitet wie alle übrigen Landschulen der Republik.
 Sie hatte wirklich hundertzwanzig Schüler männlichen Geschlechts. Die Statistik log nicht.
   2Don Gabriel fragte Narciso, den Häuptling: »Wie viel Jungen sind  hier in Bujvilum und in den Siedlungen, die zum Municipio gehören?«»Ich werde sie auszählen lassen«, sagte Narciso. Einige Tage später  brachte er die Antwort: »Hundertzwanzig oder wohl einige mehr.«
 »Die müssen alle hier in die Schule kommen«, ordnete Don Gabriel an. Der Jefe gab den Befehl rund.
 Am nächsten Montag kamen etwa dreißig Jungen zur Schule. Die Mehrzahl war nackt.
 Don Gabriel schrieb alle Namen auf. Denjenigen, die ihren Namen nicht  wussten, weil sie ihn nie gehört hatten, gab er einen Namen.
 Am Dienstag kamen wieder einige dreißig Jungen zur Schule. Die Hälfte  war neu und am Montag nicht hier gewesen. Von den dreißig, die am  vorhergegangenen Tage anwesend waren, hatte sich die Hälfte nicht mehr  eingefunden, weil Don Gabriel, der nicht wusste, was er mit den Kindern  machen sollte, drei Jungen verprügelt hatte, um wenigstens etwas zu tun  und ihnen zu zeigen, wozu eine Schule gut sei. Die Väter der Jungen  waren damit nicht einverstanden und untersagten ihren Jungen, wieder in  die Schule zu gehen, weil sie nicht wünschten, dass der Secretario die  Jungen verprügelte, nur weil sie sich auf dem Platze vor dem Cabildo  gebalgt hatten.
 Don Gabriel verprügelte wieder einige Jungen, weil er ja Lehrer war.
 Am nächsten Tage blieb wieder die Hälfte der Jungen fort. Sie hatten es  vorgezogen, mit ihren Vätern auf den Feldern zu arbeiten, statt sich in  der Schule verprügeln zu lassen. Aber ein
 Dutzend neuer Jungen war gekommen, die weder am Montag noch am Dienstag  hier gewesen waren. Im Verlaufe von zwei Wochen waren alle  hundertzwanzig Jungen wenigstens jeder einmal in der Schule gewesen.  Don Gabriel schickte seinen Report an die Regierung, dass er  hundertzwanzig Schüler habe, deren Namen er in einer Liste angab. Die  Schule kam in die Statistik und machte dort einen vortrefflichen  Eindruck.
 Da Don Gabriel jeden Tag Schüler hatte, musste er natürlich unterrichten.
 Die Schüler kamen um sechs Uhr morgens, wie es von ihm befohlen worden  war. Oder, genau gesagt, die Kinder kamen gleich nach Sonnenaufgang,  weil weder Don Gabriel noch sonst irgendwer im Ort eine Uhr besaß.
 Aber um sechs Uhr war Don Gabriel noch nicht aufgestanden. Nur seine  Frau war auf, und das Bett war warm. Um halb acht bekam er seinen  schwarzen Kaffee zu trinken. Dann trat er in die Tür und rief hinüber  zu dem Platze vor der Schultür: »Seid ihr alle da, Muchachos?«
 »Ja, Señor Profesor, wir sind alle da«, schrieen die Jungen. »Ich komme  gleich. Macht nicht soviel Lärm, verflucht noch mal!« rief Don Gabriel.
 Die Jungen setzten sich eine Weile in das Gras wie kleine Mäuschen!
 Als Don Gabriel wieder im Hause war, sich hier herumdrückte und mit  seiner Frau querulierte, weil er nicht wusste, was er wollte und was er  tun sollte, begannen die Jungen, aufs neue wieder zu jagen und zu  balgen. Nach einer halben Stunde trat Don Gabriel wieder in die Tür,  verärgert infolge eines gewöhnlichen Streites mit seiner Frau, und  schrie erbost: »Ihr gottverdammtes Gesindel, habe ich euch nicht  befohlen, euch ruhig zu verhalten?« Er packte sich einen Jungen heraus  und gab ihm eine Backpfeife. Der Junge schrie heulend: »Ich werde es  meinem Vater sagen, dass du mich gehauen hast.«
 Er lief fort und war an diesem Tage nicht wieder zu sehen. Es kamen  inzwischen einige neue Jungen an. Nach einer Weile krepelten und  balgten sich die Jungen wieder, um zu sehen, wer am längsten auf dem  Kopfe stehen könne, ohne umzufallen. Don Gabriel saß jetzt beim  Frühstück und sagte zu seiner Frau: »Diese gottverfluchten Bohnen sind  auch wieder nicht weich. Kreuzverdammt noch mal, caray, wenn du nicht  kochen kannst, hättest du nicht heiraten sollen! Deine Mutter ist mir  auch gerade die Rechte. Hat nichts und weiß nichts und verbringt das  ganze hart verdiente Geld von Don Manuel. Wie ich den armen Mann  bedaure, dass er dein Vater ist! Die Tortillas sind kalt und wie Stroh.  Ich habe mir den Löffel in eine schöne Suppe gesteckt. Wie mich der  liebe Gott nur so bitter strafen konnte, dass ich mich mit deiner  Familie eingelassen habe! Dein Bruder Sixto ist der reine Strauchdieb.  Lässt auch nicht ein einziges Mädchen in Ruhe. Blind will ich doch  gleich werden, wenn sie den nicht eines Tages vor die Gewehre stellen.«
 »Lass meine Familie in Ruh', du Schurke, das sage ich dir nur«, schrie  die Frau. »Deine Familie ist bekannt bei aller Welt. Vorne nichts und  hinten noch weniger, und mehr Schulden als Läuse. Hätte ich doch nur  auf meine gute arme Mutter gehört, die hat mich vom ersten Tage an vor  dir gewarnt. Und wie recht sie hatte, Dios en el cielo, Gott im Himmel,  weiß, wie recht sie hatte. Deine Mutter kann meiner nicht einmal das  bedreckte Hemd von hinten küssen. Hätte ich mich doch lieber  aufgehängt, als mich mit dir Betrüger einzulassen.«
 Darauf setzte sich die Frau in eine Ecke und begann zu heulen und zu  quietschen wie eine Schneiderschere. Don Gabriel klatschte die  Tortilla, die er in der Hand hielt, wütend auf die Tischplatte, sprang  zur Tür, nahm einen Knüppel und warf ihn mit voller Wucht zwischen die  Horden der sich balgenden Jungen.
 »Gottverfluchte Hundebrut«, schrie er, »habe ich euch nicht zweihundertmal gesagt, dass ihr nicht so schreien sollt? Alle der
 Reihe nach verprügele ich euch, ihr stinkigen Ratten. Gleich komme  ich.« Schreiend rannten wieder einige Jungen fort, hinüber zum Dorf.  Die tapferen hingegen blieben und setzten sich still auf das Gras, wo  sie hockten wie eingeschüchterte Regenwürmer, die vergessen haben, aus  welchem Loch sie gekrochen sind, und nun nur noch die einzige Hoffnung  haben, dass ein Schwarzvogel sie findet, aufpickt und so von ihrem  Heimweh erlöst. Wieder kamen einige neue Jungen an. Sie brachten ihre  Hunde mit, weil sie sich von ihnen nicht trennen konnten und die Hunde  nicht von ihnen.
   3Inzwischen war es zehn Uhr geworden.Don Gabriel war in seine Amtsstube gegangen, um zu sehen, ob sich dort etwas ereignet habe.
 Es hatte sich nichts ereignet. Alles war so, wie er es am Abend dort  zurückgelassen hatte. Einige Papiere und Briefe waren aufgeschichtet.  Einige waren aufgespießt an Nägeln, die in der Lehmwand steckten.
 Es konnte sich in seiner Amtsstube auch nichts ereignen, denn seine  Regierungsgeschäfte gingen sehr langsam vor sich. Nun sah er sich um,  ob nicht vielleicht doch etwas zu tun sei, weil er ja der Ortssekretär  war. Aber so sehr er sich auch umblickte und hin und her wandte, er  fand nichts, was seine Regierungstätigkeit erforderlich gemacht hätte.
 Er schichtete die Briefe und Bogen und alle gedruckten Verordnungen und  Anweisungen, die auf dem Tische lagen, um und nochmals um. Jeden Wisch  und jeden Zettel hatte er hundertmal schon gelesen und sich um nichts  gekümmert, was in den gedruckten Anweisungen der Regierung stand. Er  hätte einen Schreiber haben müssen, aber er hatte keinen. Er würde auch  nicht gewusst haben, was er dem Schreiber zum Schreiben hätte geben  sollen, denn es war nichts da, was zu schreiben nötig gewesen wäre. Er  würde ihm die gedruckten Verordnungen zum Abschreiben gegeben haben, um  ihn zu beschäftigen. Als er alle Zettel und Bogen mehrere Male  durchgeschichtet hatte, legte er sie wieder so hin, wie sie vorher  gelegen hatten, strich sie glatt, schob sie in eine Ecke des Tisches  und regelte sie mit seinen Handflächen so, dass sie mit der Kante  abschnitten, und schlug dann leicht mit der Handfläche darauf, als ob  er fürchtete, die Briefbogen möchten in dieser Anordnung vielleicht  nicht liegen bleiben.
 Dann nahm er das Tintenfläschchen auf, schüttelte es, korkte es auf,  roch daran, schüttelte es abermals, korkte es wieder zu und stellte es  zurück auf seinen Platz. Nun nahm er den Federhalter zur Hand, besah  sich die rostende Spitze, kratzte sie an seinem Haar sauber und legte  den Halter schön wieder neben das Fläschchen. Die Amtsstube hatte  nichts weiter als einen rohen Tisch, zwei ebenso rohe und sehr steife  Stühle und zwei lange Bänke, die gegen die Wand standen.
 Er sah hinüber zu den Bänken und bedauerte, dass keine Verhafteten oder  Streitenden auf ihnen saßen, über deren Schicksale und Geldstrafen er  verhandeln könnte.
 Nun trat er vor die Tür, sah hinüber zum Dorf und hob die Hand auf, um  zu sehen, wo der Wind heute herkomme. Er ging bis zur Ecke des Hauses,  von wo aus er die Jungen sehen konnte, die vor der Tür der Schulstube  wie Gänse schnatterten. Der Eingang zur Schulstube war um jene Ecke, an  der anderen Wand des Ortsgebäudes.
 Von der Ecke aus rief er: »Ahora, Muchachos, Escuela.« Die Jungen  reihten sich vor der Tür in einer Linie auf. »Atencion! Achtung!«  kommandierte er.
 Einige der Jungen, die das an den vorhergegangenen Tagen gelernt  hatten, schrieen wild: »Buenos dias, Señor Profesor!« Don Gabriel übte  nun erst einmal eine halbe Stunde lang die Atencion, die Aufstellung  der Jungen in Linie und das freudige Schreien >Guten Morgen, Señor  Profesor!<, sobald er nahe genug der Schultür kam, um anzudeuten,  dass jetzt die Schule beginne. Jeden Tag musste er das von neuem  einüben, weil jeden Tag neue Jungen kamen, die das Reglement nicht  kannten. Don Gabriel hielt diese Atencion für die wichtigste Lektion,  die er den Jungen beibringen konnte. Es kostete ihn die geringste  Arbeit seines Hirns, und diese so geringe Geistestätigkeit hatte einen  raschen und sichtbaren Erfolg, der sich beim Eindrillen des Alphabetes  nicht so schnell gezeigt haben würde.
 Die Atencion war gleichzeitig eine ganz vorzügliche Schaustellung für  Beamte, die etwa auf irgendwelchen Inspektionsreisen den Ort berühren  sollten. Darunter vielleicht gar der Jefe Politico in eigener Person.
 Sollte einer dieser Caballeros hier ankommen, so würde er die Schule  anspringen lassen. Er würde >Atencion!< rufen, und der Señor Jefe  Politico würde seine Freude an diesem gutgeölten Mechanismus haben. Er  würde sich geschmeichelt fühlen und würde gleichzeitig erkennen, dass  die Jungen gut erzogen sind und seine Autorität anerkennen. Wenn der  Mechanismus auf Kommando so gut arbeitet, braucht ein Diktator keine  Furcht zu haben, dass die Jungen, einmal Männer geworden, rebellieren  könnten und Rechte verlangen. Wird das in der Jugend gut eingedrillt,  so ruft der Diktator oder der Erzbischof nur laut >Atencion<, und  alle vergessen, dass sie eigentlich kamen, um Rechte und Freiheiten zu  verlangen.
 Den Jungen machte das Anspringen zur Atencion und das Aufreihen in  gerader Linie und das Schreien viel mehr Freude als das ruhige  Hinsetzen.
 Es war gleichzeitig ein guter Anfang für das Lernen der spanischen  Sprache. Die Jungen kannten nur die Sprache ihrer indianischen Väter  und Mütter. Und weil die Tseltales das Wort >Achtung!< in ihrer  Sprache nicht haben, wenigstens nicht in dem hier gebrauchten Sinne, so  begann damit gleich die erste Kenntnis der Landessprache.
 Alles, was Don Gabriel die Kinder lehren wollte, musste er ihnen erst  in ihrer eigenen Sprache erklären. Er sprach Tseltal nur sehr  mangelhaft, ja mehr als dürftig. Leute, die weniger höflich und  taktvoll gewesen wären, als es die Indianer waren, würden sich bei  jedem Satze den Leib in Krämpfe gelacht haben. Erst recht Kinder. Aber  die Kinder waren von ihren eigenen Eltern zu gut erzogen, als dass sie  einen Erwachsenen lächerlich gemacht haben würden, auch wenn er  stotterte oder eine schiefe Klumpnase trug. Als die Kinder das  >Buenos dias,
 Señor Profesor!< genügend kräftig brüllen konnten, lernten sie an  Stelle des >Señor Profesor< das Wort >Caballero< setzen. Es  wurde sie gelehrt, dass sie immer >Caballero< zu rufen hatten,  wenn der Morgengruß nicht dem Lehrer galt. Caballero stimmte immer. Es  konnte sogar auf einen geistlichen Herrn angewandt werden, über dessen  Titel sich Don Gabriel nicht einig war.
   4Die Schulstube hatte ebenso wenig wie irgendein anderer Raum im  Ortsgebäude ein Fenster. Es war nur die Tür da, die, wie in allen  anderen Räumen des Hauses, offengelassen werden musste, wenn der Raum  vom Tageslicht erhellt werden sollte. In den Dörfern und kleinen  Städten in Mexiko hat kein Haus, ob Wohnhaus oder Amtsgebäude, Fenster;  in den Städten mittlerer Größe ist die Mehrzahl der Häuser ohne  Fenster; und selbst in den Großstädten des Landes findet man Hunderte  von fensterlosen Häusern, besonders in den Vierteln des Proletariats.  Nachts werden die Türen fest verrammelt, und die Menschen schlafen wie  in einer Gruft. Lebt man längere Zeit in Mexiko, gewöhnt man sich so  sehr daran, dass man völlig vergisst, dass Häuser auch Fenster haben  können. Dies um so mehr, als selbst die Zimmer in zahlreichen kleinen  Hotels keine Fenster haben. Das Klima lässt es zu, dass man das ganze  Jahr hindurch die Tür offen halten kann und man deshalb Fenster gar  nicht vermisst.Der Fußboden im Schulraum war, wie in allen Räumen  des Hauses, festgestampfte Erde. Die Decke war das Palmdach, ohne  irgendein Zwischendach.
 Die Möbel des Schulraumes bestanden aus einem sehr kleinen rohen  Tischchen und einem verwitterten Stuhl. Es waren für die Kinder weder  Bänke noch Tische vorhanden. Die Kinder mussten stehen, oder sie  hockten sich auf den Boden. Auf dem Tischchen lag das einzige Buch, das  die Schule besaß. Es trug den Titel: >Was muss ein Farmer wissen, um  sein Vieh gesund zu erhalten?< Das Buch hatte wahrscheinlich ein  früherer Secretario, der hier sein Amt gehabt hatte, aus Versehen  zurückgelassen. Es war in Fetzen und hatte sicher den Kindern mehrerer  Ortssekretäre als Spielzeug gedient. Außerdem war da noch ein  kränkliches und verwahrlostes Büchlein, das man nicht als Buch  bezeichnen konnte, weil die zweite Hälfte völlig fehlte. Die fehlenden  Blätter waren gewiss einer durchreisenden Amtsperson gegeben worden,  die nicht daran gewöhnt war, ausgerissene Grasbüschel für Privatzwecke  zu gebrauchen. Dieses Buch sah auch darum noch sehr trostlos aus, weil  die Ränder der verbliebenen Blätter von Cucarachas und Mäusen  abgeknabbert waren. Der Titel hieß: Volkstümliche Astronomien
 Ferner stand auf dem Tischchen ein Tintenfläschchen mit verdickter und  verfilzter Tinte. Daneben lag ein Federhalter mit verrosteter Feder.  Links davon lagen einige Bogen weißes Papier. Die Kinder hatten weder  Schiefertafeln noch Papier. Jeder General im Lande, jeder Gouverneur  und jeder Staatssekretär unterhielt nicht weniger als sechs Frauen.  Viele mehr als zwanzig. Die Zahl ihrer Haciendas und Landgüter erhöhte  sich in jedem Jahr. Und in jedem Jahr erhöhte sich die Zahl ihrer  Mietshäuser und vermieteten Villen in den Hauptstädten. Zwölf Prozent  der Frauen des Landes waren registrierte Frauen. Von den verbleibenden  Frauen waren die Hälfte derer, die in Städten wohnten, nicht  registriert, aber sie waren gezwungen, das gleiche zu tun wie die  registrierten, um sich und ihre Kinder und ihre Väter und Mütter am  Leben zu erhalten. Ihre Kundschaft fanden sie unter den Generalen und  Obersten der Armee, unter den hohen Beamtendes Landes und unter denen,  die das fremde Kapital in das Land brachten, um das Land zum Segen des  Volkes aufzuschließen. Dreißig Jahre Diktatur und die Folgen eines  goldenen Zeitalters unter jener Diktatur hatten ein stolzes Volk so zu  unterdrücken verstanden, dass in den günstigsten Fällen drei Prozent  des Volkes sich an den politischen Wahlen beteiligten, weil sie  hinkommandiert wurden, um den Schein eines zivilisierten und  konstitutionell regierten Landes aufrechtzuerhalten. Dagegen war die  Wahl der Karnevalskönigin und des Clownkönigs der  Fastnachtsprozession     so    wichtig,     dass    bei     diesen  Karnevalswahlen zwanzigmal mehr Stimmen abgegeben wurden als bei der  Wahl des Landespräsidenten.
 Die Landschulen standen mit hohen Besuchsziffern in den Statistiken, um  der Welt zu offenbaren, dass Mexiko mit in der ersten Front der  zivilisierten Völker marschiere. Aber die Schulen hatten keine Bänke,  keine Tische, keine Schiefertafeln, keine Bleistifte, keine Tinte,  keine Federn, keine Bücher, kein Papier, keine geschulten Lehrer. Das  wurde jedoch in den Statistiken nicht gesagt. Es verlangte auch  niemand, dass es gesagt wurde. Darum lässt sich ja auch auf allen  Gebieten menschlicher Tätigkeit mit Statistiken leichter lügen und  betrügen als ohne Statistiken. Es ist nur nötig, das aus den  Statistiken fortzulassen, was den beabsichtigten Wert einer Statistik  vermindern könnte. Wenn angesichts so vieler Schulen und so hoher  Besuchsziffern, nach einer Diktatur von dreißig Jahren, fünfundachtzig  Prozent des Volkes weder lesen noch schreiben können, so kann der  Diktator nichts dafür. Mit Trichtern kann man nichts in die Hirne  füllen. Wenn die Kinder nicht lernen, so ist es ihre eigene Schuld, und  es beweist nur, wie nötig es ist, dass die Diktatur der Regierung und  die unheilvolle Macht der Kirche erhalten bleiben müssen, angesichts  der angeblichen Unfähigkeit der Indianer, zu lernen, sich Wissen  anzueignen und sich selbst zu regieren.
   5Hinter dem Tischchen im Schulraum waren zwei Brettchen aus alten Kisten an die Lehmwand genagelt.Don Gabriel nahm ein Stück Kreide und schrieb an das Brett ein A und  sagte: »Das ist ein A. Was ist das?« Die Kinder schrieen alle  gleichzeitig: »Ein A.«
 Dann schrieb er ein B und sagte: »Das ist ein Be. Was ist das?«
 Die Kinder schrieen: »Ein Beee!«
 Als er bis zum H gekommen war, fühlte er sich ermüdet und sagte:
 »Jetzt ist Pause. Könnt auf dem Platze spielen. Aber prügelt euch  nicht, sonst prügele ich euch mit der Bohnenstange, ihr Cochinos, ihr  Schweine, die ihr seid. Was seid ihr?«
 »Cochinos«, schrieen die Kinder im Chor, »Schweine«. »Das wisst ihr wenigstens«, sagte er.
 Er ging in seine Wohnstube und goss sich einen Branntwein ein.
 Dann ging er in die Küche und versöhnte sich mit seiner Frau. Da er mit  ihr im selben Bett schlief und an die Nacht dachte, hielt er es für  gesünder, sich mit seiner Frau immer rechtzeitig zu vertragen.
 Vor Sonnenuntergang soll man sich immer vertragen, besonders mit seiner  Frau, wenn man keine andere zur Verfügung hat. Aber es fehlte noch  lange bis zum Sonnenuntergang. Und ehe der Tag abgelaufen war, hatte er  sich noch viermal mit seiner Frau grässlich gezankt, jedoch immer  wieder versöhnt. Weil die letzte Versöhnung vor sich ging, als er die  Kerze verlöschte, hatte er keine Zeit mehr, sich ein fünftes
 Mal mit ihr zu zanken, und es blieb bei der Versöhnung bis zum Morgen,  wo sie aber, vor dem Frühstück noch, wieder abgebrochen wurde, um den  neuen Tag mit ehelichen Unterhaltungen beginnen zu können. Wenn eine  Ehe diese täglichen Schwergefechte nicht hätte, wäre sie nicht zu  ertragen, und man müsste etwas Besseres erfinden. Denn das Leben des  Mannes ist Kampf. Und das der Frau Gegenangriff mit Unterstützung der  Artillerie in gut abgedeckten Stellungen im Rücken und ständigem  Bereithalten der Reserven.
 Nach einer Stunde nahm Don Gabriel den Unterricht wieder auf. Er begann  ihn mit Atencion! und dem Verprügeln zweier Jungen, die sich in den  Haaren gerauft hatten. Die Jungen liefen heulend nach Hause, um es  ihrem Vater zu sagen.
 Es waren fünf neue Jungen zur Schule erschienen, so dass der Verlust  nicht groß war. Die Zahl aber war die gleiche geblieben, weil drei  Jungen während der Pause fortgegangen und nicht wiedergekommen waren.
 Don Gabriel kümmerte sich nicht darum. Er hatte nur die Pflicht, Schule  anzusagen und Schule zu halten. Er zeigte nun auf das A: »Was ist das?«
 »Ein F«, schrieen die Jungen in ihrer Mehrzahl, während zwei unter sich  zu streiten begannen, dass es ein D sei. Don Gabriel war verzweifelt,  schüttelte den Kopf und sagte: »Falsch, es ist ein A. «
 »Falsch, es ist ein A«, schrieen die Jungen. »Was ist das?« fragte er  und zeigte auf das B. »Ein Haa«, schrieen einige, während einige  riefen: »Ein Eeee.« Don Gabriel raufte sich wutschnaubend sein dickes  Haar und schrie wie besessen: »Ihr Ziegen lernt das nie in eurem Leben.  Es hat gar keinen Zweck. In eure Indianerschädel kann man es nur mit  einem Beil hineinhämmern.« Er schrieb nun ein I an das Brett.
 »Das ist ein I. Sagt das alle nach.«
 »Das ist ein Iiiii sagt das alle nach«, schrieen die Jungen gutgelaunt.  »Verflucht noch mal«, schrie er wütend, »ihr sollt nur I sagen, weiter  nichts.«
 »Weiter nichts«, schrieen die Kinder. Die Jungen standen dicht vor dem Tischchen. Don Gabriel malte nun ein J an das Brett.
 Da rief einer der Jungen: »Ich weiß es, das ist eine Ziege, die  angebunden ist. Und mein Vater hat gesagt, ich soll nach Hause kommen  und auf die Ziegen aufpassen, die gehen in den Mais.«
 »Du bleibst hier«, sagte Don Gabriel. Der Junge begann zu heulen. »Mach  dich zur Hölle!« schrie Don Gabriel. »Aber morgen früh bist du wieder  hier in der Schule, oder du kriegst die Bohnenstange über den Rücken  gedroschen.«
 Der Junge rannte fort, und Don Gabriel sagte: »Das ist ein Jota.«
 »Das ist ein Jota!« kam es im Chorus von den Jungen. »Aber das lernt  ihr ja doch nicht. Was soll ich mich hier noch länger herumquälen und  mir meine Lunge zerfetzen!« sagte Don Gabriel knurrend. »Wir werden  jetzt etwas anderes lernen. Aufgepasst! Ich bin ein Mexikaner, Viva  Mexico, Viva, Arriba!« Die Jungen schrieen es nach, und Don Gabriel  sagte: »Das wisst ihr nun und behaltet es gut.«
 Was es bedeutete, wussten die Kinder freilich nicht; denn Don Gabriel  gab sich nicht die Mühe, es den Jungen in ihrer eigenen Sprache zu  erklären.
 Jedoch dieser Ruf >Viva Mexico!< brachte ihn auf einen neuen  Gedanken in Hinsicht dessen, was er die Jungen lehren wollte.  Irgendwelchen Lehrplan hatte er nicht, noch viel weniger irgendeine  Vorstellung über die Art und Weise, wie man Kinder unterrichten müsse.
 Er schrieb die Buchstaben auf ein Brett und nannte die Buchstaben beim  Namen. Wenn die Kinder das behielten, so konnten sie lesen; wenn sie es  nicht behielten, so war es nicht seine Schuld. Seiner Pflicht als  Lehrer hatte er genügt, wenn er ihnen sagte, wie die Buchstaben hießen.  Zudem wusste er auch nicht, was er mehr hätte tun können. Er war am  Ende seiner Fähigkeiten als Lehrer angelangt.
 Aber das >Viva Mexico!< war wie eine Eingebung. Er sah jetzt  deutlich, in welcher Form er seine Lehrtätigkeit fortsetzen konnte.  »Gebt gut acht, Muchachos«, sagte er, »ich werde euch hier etwas  vorsingen, und ihr werdet es nachsingen.«
 Er begann darauf die Nationalhymne zu singen. Er sang die Melodie so  ungenau, dass es ebenso gut irgendein Foxtrott hätte sein können. Als  er zur dritten Zeile gelangte, fand er, dass er die Worte nicht weiter  wusste. Er begnügte sich infolgedessen damit, die ersten beiden Zeilen  mehrere Male zu wiederholen und die Kinder aufzufordern, ihm die Worte  nachzusingen. Sie plärrten sie nach, ohne ihren Sinn zu verstehen, weil  das Lied ja in Spanisch war. Don Gabriel betrachtete das als ein  vorzügliches Mittel, eine Hauptaufgabe des Schulunterrichts zu  erfüllen: die indianischen Kinder die Landessprache zu lehren.
 Als die Kinder diese zwei Zeilen ein Dutzend Mal heruntergeleiert  hatten und es sich, wenn man oberflächlich hinhörte, nicht genau sagen  ließ, ob die Jungen Spanisch oder Hindustanisch sprächen, dass man aber  einem Zuhörer einreden konnte, es sei Spanisch, gab sich Don Gabriel  mit seinem Erfolg zufrieden. Er wartete auf eine neue Eingebung, was er  nun tun sollte. Und da fiel ihm ein, dass er die Kinder gut gebrauchen  könne, um einen besseren Posten im Staate zu erhaschen.
 Er wusste, dass kein Beamter, der etwa auf einer Inspektionsreise den  Ort berühren würde, sich je die Mühe gab, in der Schule nachzuprüfen,  ob die Kinder lesen und schreiben lernten. Eine solche Prüfung strengte  nur an und war langweilig. Beamte wollen nicht gelangweilt werden. Aber  ein vorzüglicher Eindruck wurde erzielt, wenn er die Jungen Atencion!  stehen ließ, wenn sie in Spanisch >Guten Morgen, Caballero!<  riefen, wenn sie einige Zeilen der Nationalhymne heruntersangen; und  wenn sie gar noch den Fahnenschwur aufsagen konnten, in Spanisch  natürlich, so würde der inspizierende Beamte einsehen, dass Don Gabriel  der Mann für einen besseren Posten sei, vielleicht gar der geeignete  Mann für einen frei werdenden Posten als Steuereinnehmer. Er kam zu der  Überzeugung, dass für eine Vorstellung der Schule gewiss kein einziger  Beamter erwarte, die Nationalhymne in allen ihren Strophen absingen zu  lassen. Im Gegenteil, sie würden Don Gabriel im stillen Dank dafür  wissen, dass er sie nicht damit peinigte den tausendmal gekauten Kohl  in seiner ganzen erbarmungslosen Länge hier in diesem verlausten Dorf  anzuhören. Es würde ihm als feiner Takt angerechnet werden, wenn er dem  Beamten nur gerade die Idee des Unterrichts und des Erfolges zeigen  würde. Und um zu offenbaren, dass hier nicht etwa gar Nachlässigkeit  vorliege, würde er dem Beamten vorher sagen, dass er ihm in diesen  kurzen Ansätzen zeigen wolle, in welcher Richtung sich der Unterricht  bewege, und dass er wohl wisse, dass die Zeit des Señor Inspector zu  kostbar sei, als dass er von ihm erwarten könne, sich stundenlang das  Aufsagen und Herleiern der Kinder anzuhören. Don Gabriel kannte seine  Leute. Als einige Monate später ein Steuerinspektor durch den Ort kam  und, um seine Tätigkeit umfangreicher erscheinen zu lassen, eine  Inspektion der Schule in seinen Reisebericht aufnahm, handelte Don  Gabriel wirklich so, wie er sich das ausgedacht hatte. In seinem  Reisereport an die Regierung fand sich die Note: Besuchte und  inspizierte nebenamtlich die Schule des Ortes und fand sie, unter der  Leitung des Sekretärs des Ortes, Señor Gabriel Ordunez, sehr  verheißungsvoll und wirklich zufrieden stellend in jeder Hinsicht; alle  Kinder sprechen Spanisch und befinden sich in vorgerückter Stufe in  Lesen, Schreiben und Geschichte.
 Der Report jenes Inspektors sagte, wie alle solche Reporte, die  Wahrheit. Unter einer Diktatur oder einer Despotie nehmen Statistiken  und Reporte einen wichtigen Rang ein. Sie sind die Fassaden des  Gebäudes. Diese Fassaden vertragen es nicht, dass man auch nur mit dem  Fingernagel an der Vergoldung herumkratzt. Und nirgendwo sonst  verstehen Beamte und Nicht-
 Beamte so geschickt Fassaden aufzubauen als unter einer Diktatur, wo  ein jeder, der leben und unbehelligt leben will, vor allem, was er tut  oder redet, eine Fassade errichten muss, um nicht in den Verdacht zu  geraten, mit dem System nicht einverstanden zu sein. Als Don Gabriel  drei Wochen lang Schule gehalten hatte, fand er, dass seine Schüler  niemals im klaren waren, ob der Buchstabe, der an das Brett gemalt war,  ein A oder ein G war. Don Gabriel sagte den Jungen jeden Tag zehnmal,  dass sie das ja doch nicht lernen würden, auch wenn sie hundert Jahre  lang in die Schule kämen.
 Die Jungen sahen das selbst ein, und sie kamen nur dann zur Schule,  wenn sie nicht wussten, was sie sonst hätten tun sollen. An keinem Tage  waren je mehr als ein Viertel der Jungen anwesend. Don Gabriel erfand  eine neue Lehrmethode. Er erfand sie eigentlich nicht; denn er hatte  sie einmal in einem anderen Ort angefunden zur Zeit, als er noch  Viehhändler war und er in jenem Ort von dem Sekretär Vieh kaufen wollte.
 An diese Methode, die er dort sah, dachte er jetzt, und er ahmte sie  nach mit einer geringen Verbesserung des Patents. In dieser geringen  Verbesserung lag seine Erfindung.
 Er suchte in seinem Laden alte und unbrauchbare Fetzen von Packpapier,  zerrissenen Papierbeuteln und weißen Zeitungsrändern zusammen.
 Dann schrieb er mit Tinte auf jeden solchen Fetzen einen kurzen Satz.  Die Kuh ist braun und hat vier Beine. Die Ziege hat Hörner und einen  Schwanz. Das Schaf ist schwarz oder weiß und hat Wolle. Der Baum ist  hoch und hat viele Äste. Der Secretario ist ein Caballero und hat eine  Frau. Der Gouverneur regiert den Staat ehrenhaft und mit Klugheit. Der  Präsident des Landes ist ein General und ein guter kluger Mann. Die  mexikanische Republik hat einen berühmten Präsidenten. Der Jefe  Politico in unserm Distrikt ist ein Mann mit Ehre und wird respektiert  von allen. Die Mexikaner sind edel und die tapfersten Krieger der Erde.  Die Sonne steht am Himmel und ist rund.
 Mein Vater hat einen Acker und Ziegen und Schafe.
 Nachdem Don Gabriel genügend Papierfetzen mit je einem dieser Sätze  beschrieben hatte, gab er jedem Jungen einen solchen beschriebenen  Fetzen.
 Er gab dem Jungen den Fetzen so in die Hand, dass die Stellung der  Buchstaben, vom Auge des Kindes aus gesehen, richtig war. Dann sagte er  zu dem Jungen: »So hältst du das Papier immer vor dir, dass dieser  Punkt hier an dem Daumen deiner rechten Hand ist. So, wie ich es dir  hier zeige.«
 Nun las er dem Jungen den Satz vor, der auf dem Zettel stand, und der  Junge musste den Satz so oft wiederholen, bis er ihn mit einiger  Sicherheit nachsprechen konnte. Aber er erklärte dem Jungen den Satz in  der indianischen Sprache nicht genügend. Der Junge erfasste nur eine  ganz leise Ahnung von der Bedeutung des Inhaltes jenes Satzes. Er  wusste nicht, welches Wort in dem Satze Kuh hieß oder Ziege. Der Junge  konnte nach einigen Wiederholungen lediglich den Satz, der ihm  vorgesagt war, herschnattern, ohne weder den Sinn richtig zu begreifen  noch jedes einzelne Wort zu bezeichnen, denn diese Sätze waren ja alle  in Spanisch.
 Nachdem der Junge seinen Zettel besaß und er den Inhalt genügend oft  nachgeredet hatte, bis er ihn auswendig wusste, wurde der Junge mit  seinem Papierfetzen allein gelassen, und seine weitere Aufgabe bestand  darin, nun unaufhörlich, ohne Unterbrechung, den Satz  herunterzuschnattern, dabei den Fetzen vor den Augen haltend.
 Nun nahm sich Don Gabriel den nächsten Jungen vor, ihm den Zettel in  die Hand gebend und ihm den Satz, der darauf geschrieben stand,  vorsagend, bis der Junge ihn aufgeschnappt hatte. Als alle Jungen ihren  Zettel in den Händen hielten, schnatterte jeder seinen Satz zu gleicher  Zeit mit allen anderen Jungen laut herunter. Es war ein wildes  Durcheinanderreden von allen möglichen Sätzen, deren Dichter und  Erzeuger Don
 Gabriel war. Der Unterricht bestand in den folgenden Wochen in nichts  anderem, als dass die Kinder die zwei Zeilen der Nationalhymne, die Don  Gabriel selbst wusste, jeden Tag wiederholten und jeden Tag vier oder  fünf Stunden lang, unterbrochen von einigen Pausen zum Herumbalgen, den  Satz herschnatterten, der auf dem Zettelchen stand, das ein jeder Junge  besaß.
 Im Verlaufe dieser Wochen waren alle hundertzwanzig Jungen, jeder  einzelne wenigstens einmal, zur Schule gekommen, und einem jeden wurde  sein eigener Zettel gegeben. Richtig kam auch eines Tages auf seiner  Inspektionsreise Don Casimiro, der Jefe Politico des Distriktes, durch  den Ort. Nachdem die Jungen Atencion! gestanden und ihr >Buenos  dias, Caballero!< schmetternd hinausgebrüllt hatten, sagten sie die  zwei bekannten ersten Zeilen der Nationalhymne auf. Sie sagten sie auf  in einem Singsang, der keine Ähnlichkeit mit der wirklichen Melodie  aufwies. Aber Don Casimiro nahm das nicht übel. Es fiel auch nicht auf,  dass die Jungen keine Zeile weiter von der Hymne wussten, denn sobald  die zwei Zeilen heruntergerasselt waren, schrieen sie: »Ich bin ein  Mexikaner, Viva Mexico, Arriba Mexico!«
 Don Casimiro gewann dadurch den Eindruck, dass hier auf diesem Gebiete  alles erreicht war, was aus indianischen Kindern nur herausgeholt  werden konnte.
 Dann trat jeder Junge vor, hielt seinen Zettel vor sich hin und las  laut und schnatternd vor, was darauf stand. Der Jefe Politico sah  einige der Zettel an und fand zu seiner großen Genugtuung, dass jeder  Junge wirklich das las, was auf seinem Zettel stand.
 Da er Don Gabriel so taktvoll fand, ihn nicht zu sehr mit der  Vorstellung der Schüler zu belästigen, so war auch er taktvoll und  machte keinen Versuch, die Zettel der Jungen untereinander  auszutauschen und das eine oder andere Kind zu veranlassen, den Zettel  eines ändern Jungen zu lesen. Und er ging auch nicht so weit, einen  Jungen heranzurufen, auf ein bestimmtes Wort zu zeigen und zu fragen:  »Wie heißt dieses Wort hier, unter dem ich meinen Finger habe?« Auch  fragte er keinen Jungen: »Zeig mir auf deinem Zettel, wo das Wort Mais  steht.«
 Dann ließ Don Gabriel die Kinder von eins bis zwanzig zählen. Und  endlich fragte er: »Was ist Mexiko?« Die Kinder riefen im Chorus:  »Mexiko ist eine freie und unabhängige Republik.« - »Wer steht an der  Spitze der mexikanischen Republik?« fragte er, und die Jungen schrieen:  »Ein Präsident.«
 Damit endete die Schulvorstellung. Don Casimiro schüttelte Don Gabriel  die Hand und sagte ihm, dass er mit dem Resultat sehr zufrieden sei.
 In seinem Report erwähnte er, dass die Jungen des Ortes unter der  Leitung eines Sekretärs, den er selbst seiner großen Fähigkeiten wegen  ausgesucht habe, alle Spanisch sprächen und alle schreiben, lesen und  rechnen könnten.
 Die Schule fand sich in der Jahresstatistik als Landschule mit hundert  Prozent Erfolg verzeichnet und mit der Bemerkung ausgerüstet:  Altersklasse von sieben bis vierzehn Jahren keine Analphabeten.  Hunderte von indianischen Dörfern, die achtzig bis vierhundert  Kilometer von der nächsten Eisenbahnlinie entfernt lagen, bekamen eine  gleich gute Stellung in der Statistik; denn jeder Jefe Politico war  ehrgeizig genug, einem andern Jefe Politico nicht den Vorrang zu  lassen. Eine so vortreffliche Erziehungsstatistik konnte nicht einmal  Dänemark aufweisen, und bis in die fernsten Zeiten hinaus war der Ruhm  des Diktators als Erzieher seines Volkes und als warmherziger  Beschützer der indianischen Rasse gesichert. Die Statistiken wurden auf  schönem schwerem Papier mit Sorgfalt gedruckt, prachtvoll gebunden und  dann an die Statistischen Ämter aller zivilisierten Nationen  verschickt. »Was für ein hoffnungsreiches Land!« sagten die  amerikanischen Bankiers. Und sie liehen willig Millionen her, um die  Hände rechtzeitig in diesem Lande zu haben, das eine so große Zukunft  versprach und wo der Indianer so versklavt war wie ein proletarischer  Neger in
 Liberia.
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