Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
B. Traven - Regierung (1931)
http://nemesis.marxists.org

DRITTES KAPITEL

1

Don Gabriels großer Kummer war, dass die Schule nichts für ihn einbrachte.
Im Verlaufe der vielen Wochen, die er hier am Orte bis jetzt zugebracht hatte, war es ihm gelungen, kraft seiner Autorität allerlei Geschäfte zu machen.
Extrasteuern für Händler, Extrasteuern für Vieh, das die Indianer im Ort schlachteten, Extrasteuern für Viehaufkäufer, Extrasteuern für Familienfeste, die die Indianer des Ortes für sich abhielten, Geldstrafen für eingeführten Branntwein, den die Indianer mit sich heimbrachten, wenn sie in einer Stadt zu Markte gewesen waren und sich von Don Gabriel erwischen ließen oder wenn sie betrunken angetroffen worden waren.
Es war Don Gabriels Absicht, nicht sein ganzes Leben in diesem weltvergessenen Ort als Sekretär zu verbringen. Sein Ziel war, sich hier so rasch wie möglich zu bereichern und sich dann eine Finca zu kaufen oder in einer Stadt eine Branntweinfabrik zu eröffnen.
Man darf Gott, der einem ein Amt bescherte, nicht versuchen wollen und ihn zum Narren machen. Die große Gnade, die einem Sünder erwiesen wurde, der unwürdig ist, dem Antlitz des Höchsten gegenüberzutreten, nütze er zu seinem eigenen Vorteile aus und wuchere mit dem Pfunde, damit es eine Tonne werde. Aber Don Gabriel war arm an Ideen, die zu Erfolgen hätten führen können.
Jedoch da geschah es, dass zu rechter Zeit sein jüngerer Bruder
Mateo zu Besuch kam.

 

2

Don Mateo kam nicht ganz freiwillig zu Besuch. Er fühlte keine besondere Neigung zu Don Gabriel, und ob es Gabriel gut ginge oder schlecht, das kümmerte ihn wenig.
Mateo hatte stets viel Glück gehabt. Oder, um das genauer zu bezeichnen, weil Glück wenig definierbar ist, er besaß die Fähigkeit, sich immer nur solche Freunde auszusuchen, die ihm von persönlichem Nutzen sein konnten.
Infolge dieser Beziehungen war es ihm gelungen, eine ganze Reihe guter Posten zu erwischen: Postmeister in einem kleinen Ort, Eichinspektor, Heuschreckenkommissar,
Schlachtviehinspektor, Marktaufseher.
Von diesem letzten Posten aus tat er seinen großen Sprung zu einem der begehrtesten Ämter, die es unter der Diktatur gab: Steuereinnehmer.
Zu keinem Amte, nicht einmal zu dem eines Schulinspektors oder dem eines Kommissars der öffentlichen Gesundheitspflege, waren irgendwelche Kenntnisse vonnöten. Analphabeten konnten Generale sein. Jemand, der die Wirkung des Rizinusöls kannte und bestimmt wusste, dass die Mehrzahl der Menschen das Herz auf der linken Seite hatte, konnte Militärarzt sein und gab sich den Titel Doktor. Die Ämter waren nicht da, um dem Volke zu dienen, sondern sie waren da, um diejenigen unterzubringen, die den Diktator, El Caudillo, für den größten Staatsmann der letzten vier Jahrhunderte hielten, oder um denen den Geldbeutel gespickt zu halten, die gefürchtet waren, dass sie der regierenden Clique unbequem werden möchten, weil sie Mitglieder sehr reicher und sehr einflussreicher Familien waren.
Wenn von einem Steuereinnehmer geglaubt wurde, dass er nun lange genug sein Amt gehabt habe, um genügend auf die Seite gebracht zu haben, und er suchte nach einigen deutlichen
Ermahnungen nicht um seine Entlassung nach, um einem anderen Strebsamen den Platz frei zu machen, so geschah es oft genug, dass jemand den Mann in einen Streit verwickelte, gewöhnlich auf einer Festlichkeit, wo viel getrunken wurde. Der Mann wurde absichtlich beleidigt, bis er in seiner Erregung den Revolver zog Darauf wurde er von denen, die bereitstanden, erschossen. Aus Notwehr. So wurde der Posten frei; und nicht selten bekam der den frei gewordenen Posten, der geschossen hatte. Da Richter, Polizeichef, Bürgermeister und Zeugen alle zu der Clique dessen gehörten, der den Posten bekommen sollte, so war der Mord nach dem pompösen Begräbnis des auf so unglückliche und bedauernswerte Weise ums Leben gekommenen Steuerverwalters vergessen. Der neue Steuerverwalter gab ein großes Bankett und einen eleganten Gesellschaftsball.
Ein Steuerverwalter erhielt ein auskömmliches Gehalt. Aber das betrachtete er nur als Trinkgeld. Die Einnahmen, um derentwillen das Amt so begehrt war, waren anderer Art. Zuerst einmal erhielt er einen guten Prozentanteil aller vereinnahmten Steuern. Das geschah, um die Steuerverwalter an dem Geschäft zu interessieren und aus den Handeltreibenden bis über die letzte Grenze hinaus alles herauszuholen, was nur herausgeholt werden konnte. Ehe ein unternehmungslustiger Fabrikant dazu kam, tausend Meter Baumwollstoff zu weben, hatte er bereits den Wert von fünfundzwanzigtausend Meter an Lizenzgebühren und Steuern bezahlen müssen. Die Regierung hatte kein Interesse daran, dass Mexikaner eine eigene Industrie in ihrem Lande aufbauten. Es war bequemer, an hohen Zöllen für eingeführte Waren aus fremden Ländern zu verdienen und sich das Wohlwollen amerikanischer, englischer und französischer Häuser zu erhalten, um durch hohe Einfuhrziffern zu beweisen, dass die Diktatur ein goldenes Zeitalter geschaffen habe. Mit dem Amt des Steuerverwalters waren noch andere gute Einnahmen verbunden.
Wie oben an der Regierung nur Diktatoren waren, so waren auch unten in allen Ämtern nur Diktatoren. Der Steuerverwalter hatte das Recht, die Höhe der Steuern für jeden Handelszweig und für jedes Gewerbe und für jedes Einkommen nach seinem Gutdünken festzusetzen. An sich hatte das seine Berechtigung. In einem so großen Lande können die Steuersätze nur schwer allgemein durch Gesetz geregelt werden. In den Distrikten, die fern von Eisenbahnen und Straßen liegen, sind die Transportkosten höher, in anderen Distrikten sind die Preise für Lebensmittel hoch, in anderen niedrig, hier sind die Löhne und allgemeinen Geschäftsunkosten niedrig und an anderer Stelle hoch.
Wenn die Steuerverordnung des Staates bestimmte, dass eine Branntweinfabrik, etwa angesichts ihrer Fabrikationsmenge, zweihundert Pesos im Monat Steuer zu zahlen habe, so setzte der Steuerverwalter jene Steuer unter beliebiger Begründung auf vierhundert Pesos fest. Dann erhielt er einen Besuch des Fabrikanten.
Der Fabrikant beteuerte, dass er eine solche Steuer nicht zahlen könne. Der Besuch endete damit, dass er dem Steuerverwalter für dessen Begutachtung des Geschäfts tausend Pesos gab, und der Steuerverwalter setzte dafür die Steuer auf nur zweihundertfünfzig Pesos an. Damit hatte er immer noch für sich den guten Namen gemacht, zugunsten des Staates fünfzig Pesos mehr herausgewirtschaftet zu haben, als ursprünglich eigentlich nur zu zahlen war. Natürlich konnte der Fabrikant auf gesetzlichem Wege die hohe Steuer anfechten. Aber zuerst hatte er einmal die angesetzte Steuer für ein Jahr oder noch länger zu bezahlen; denn es vergingen ungezählte Monate, ehe das oberste Steueramt entschied. Auch wenn das Steueramt zu seinen Gunsten entscheiden sollte, so dauerte es gewöhnlich noch ein Jahr oder länger, ehe er das zuviel bezahlte Geld zurückerhielt. Da der Fabrikant alle Kosten des Schiedsverfahrens zu tragen hatte und er an den Orten, wo die Entscheidungen gefällt wurden, Anwälte halten musste, so fraßen die Kosten den größten Teil des zuviel bezahlten Steuergeldes auf, so dass jene Summe, die endlich in seine Hände zurückgelangte, kaum des Mitnehmens noch wert war.
Gewöhnlich war es auch noch so, dass er überhaupt zuweilen weniger an Steuern bezahlt hatte, als er eigentlich hätte zahlen müssen. Bei dem Schiedsverfahren wäre das herausgekommen, weil Nachprüfungen gemacht wurden.
Aus diesen Gründen war es stets das einfachste für jeden Steuerzahler, sich mit dem Steuerverwalter zu einigen und ihm zu verdienen zu geben. Es war immer billiger und sicherer. Darum war es leicht zu verstehen, weshalb das Amt eines Steuerverwalters ein so begehrtes war und warum ein Anwärter sich nicht scheute, dem gegenwärtigen Inhaber eines solchen Amtes, wenn er zu gegebener Zeit nicht freiwillig gehen sollte, aus dem Leben zu helfen.

 

3

Es war freilich nur ein ganz kleines Städtchen, in dem Don Mateo durch die Hilfe einflussreicher Freunde diesen Steuerposten bekommen konnte. Aber für ihn, der sonst nichts besaß, war selbst dieser kleine Posten genügend, ihn zufrieden zu stellen, wie ja auch für Don Gabriel der Posten als Ortssekretär, winzig wie er war, ihm Gelegenheit bot, gut auf die Füße zu kommen. Dann stand eines Tages eine von ihm völlig unerwartete Revision bevor, und es fehlten Mateo mehr als dreitausend Pesos in der Kasse.
Er versuchte, sich das Geld zusammenzuborgen. Aber das schlug fehl. Er verfiel auf einen merkwürdigen Ausweg. Einen Ausweg, der, obgleich merkwürdig, dennoch häufig auch anderswo angewandt wird.
Mateo machte sich auf den Ritt zu einem entfernt liegenden kleineren Ort, der in seinem Steuerbezirk lag, um dort Steuern einzuholen. Am zweiten Tage darauf kam er zurück, ohne Pferd, zerzaust und verwahrlost und mit einer Schusswunde im Arm. Er ging zum Polizeichef und erklärte, dass er auf dem Heimweg von Banditen überfallen worden sei, die ihm alles Geld, das er bei sich trug, mehr als dreitausend Pesos, geraubt hätten. Sein Pferd fand sich in der Nacht auf seiner Weide von selbst ein. Mit Blutflecken am Sattel.
Bei der Revision stimmte die Kasse trotzdem nicht. Er war nicht klug genug, um geschickt verschleiern zu können, dass jene dreitausend Pesos, die ihm geraubt waren und die er in jenem Ort einkassiert hatte, identisch seien mit den dreitausend Pesos, die in der Hauptkasse fehlten. Aber die Revisionsbeamten, die von Buchführung so gut wie nichts verstanden und auch nur darum Revisionsbeamte geworden waren, weil sie einen Posten haben sollten und andere Posten nicht frei waren, fanden sich nicht durch, um Mateo die Unterschlagung klar beweisen zu können. Sie begnügten sich mit der Behauptung, dass die geraubten dreitausend Pesos dieselben dreitausend Pesos seien, die in der Hauptkasse fehlten. Weil der eine dieser Revisionsbeamten einen Freund hatte, dem er sich für irgend etwas erkenntlich zeigen musste und dem er seit langem schon ein Amt versprochen hatte, so benutzte er den Vorfall, Mateo vorzuschlagen, den Posten freiwillig niederzulegen. Mateo verstand den Wink, und er reichte seine Entlassung ein. Von jener Zeit an tat er nichts. Er trieb sich in Comitan herum, kam in Händel mit Frauen, versuchte einige Geschäfte im Verkauf von Häusern und Farmen, handelte mit Pferden und Mules und unterstützte seine Freunde im Kampf um Ämter in der Municipalidad, immer in der Hoffnung, dass, wenn einer seiner Freunde in ein Amt gelange, dann auch für ihn wieder ein Ämtchen abfallen musste.
In einem heftigen Streit um die neue Kandidatur für den Presidente Municipal kam es zu Schießereien zwischen den Cliquen; und Mateo hatte das Unglück, dem Polizeichef, der zur anderen Partei der neuen Kandidatur gehörte, eine Kugel Kaliber fünfundvierzig ins rechte Bein zu brennen. Das größere Unglück aber war, dass, während alle übrigen Kugeln, die in jenem Streit gewechselt wurden, nach ihrem Ursprung nicht erwiesen werden konnten, der Polizeichef mit Sicherheit wusste, wer ihm die Fünfundvierziger versetzt hatte. Und weil die Partei des Polizeichefs augenblicklich an der Macht war, blieb Mateo nichts anderes übrig, als innerhalb einer halben Stunde reisefertig zu sein, sich aufs Pferd zu setzen und, von seinen Freunden im Rücken gedeckt, noch in derselben Nacht sich auf den Weg nach Guatemala zu machen. Bis zu den Seen von Tsiscao ist der Weg verhältnismäßig gut. Aber er ist auf der mexikanischen Seite sechzig Kilometer lang und für die Verfolger ebenso gut wie für den Verfolgten. Jedoch hinter den Seen beginnt ein gottverfluchter Dschungelweg bis zum ersten größeren Ort in Guatemala.
Es war dieser Dschungelweg, den Mateo fürchtete. Weil jeder, der in jenen Distrikten etwas versehen hat und sich verflüchtigen muss, nach Guatemala reitet, wo er wegen Dingen, die er in Mexiko verübt hat, weder verfolgt noch ausgeliefert wird, so glaubte der Polizeichef, dass Mateo auf alle Fälle nach Guatemala gehen würde, und da er genügend Vorsprung hatte, so gaben die Verfolger nach zwei Stunden auf. Die Verfolger hatten den Auftrag, Mateo bei Sicht anzurufen, und wenn er nicht halte, sofort zu erschießen. Mateo wusste, sie hätten ihn auch dann erschossen, wenn er nach dem Anruf gehalten hätte. Und dann erst recht. Der Polizeichef war sein bitterster Feind. Einmal einer bestimmten Frau wegen, und zum andern, weil es bekannt war, dass Mateo selbst Polizeichef zu werden hoffte, wenn seine Clique hochkommen sollte. Dann hätte der Polizeichef die Stadt verlassen müssen; denn Mateo würde irgendeinen Grund gefunden haben, ihn aus Notwehr zu beseitigen. Mateo fürchtete den langen einsamen Ritt durch den Dschungel. Erfühlte auch, dass sein Pferd zu ermüden begann. Darum änderte er seinen Plan.
Nach einem Ritt von zwanzig Kilometern brach er von dem Wege ab, wandte sich nach Norden, umging San Antonio und Las Margaritas, rastete in Santa Helena, reiste weiter hinauf nach Santa Rita, umging Hucutsin, wo er bekannt war und wo sich Telefon befand, und landete nach fünf Tagen Ritt bei seinem Bruder in Bujvilum.
Hier war er beinahe ebenso sicher wie in Guatemala. Er war in einem anderen Distrikt, konnte sich verstecken, wenn etwa irgend jemand durchreisen sollte, der ihn kannte, und niemand kam auf den Gedanken, ihn hier zu suchen, weil ihn alle in Guatemala glaubten.
Nach drei Monaten war die Wunde im Bein des Polizeichefs sicher geheilt, vernarbt und vergessen. Mateo konnte zurückkehren, sich mit dem Polizeichef versöhnen, eine Weile sich aus den Händeln halten und warten, bis seine Clique an die Krippe kam. Man ist in Mexiko sehr weitherzig in solchen Dingen. Wer nicht gepackt wird, solange das Blut noch am Überkochen ist, ist seines Friedens sicher, wenn die Wunde vernarbt ist, bis er etwas Neues auf das Fell bekommt.

 

4

Don Gabriel hatte für seinen Bruder Mateo nicht viel Liebe übrig. Mateo war streitsüchtig und rechthaberisch und prahlte ewig mit seinem besseren Wissen und seinen größeren Fähigkeiten herum, seinen älteren Bruder stets herabsetzend und ihn bekrittelnd in allem, was er tun mochte.
»Ich kann dir hier in deinen Geschäften tüchtig helfen«, sagte Mateo.
»Ja«, erwiderte Gabriel. »Aber da ist nicht viel zu helfen. Ich habe hier nichts zu tun. Die Arbeit eines ganzen Jahres kann ich in einem halben Tage verrichten, ohne mich anzustrengen. «
»Wie viel verdienst du denn an der Schule?« fragte Mateo. »Gar nichts«, sagte Gabriel, »das mache ich so nebenbei, um wenigstens etwas zu tun. Es macht auch einen guten Eindruck im Report und besonders, wenn irgend jemand durch den Ort kommen sollte. Es ist mit einbegriffen in meinen fünfzehn Pesos, die ich im Monat als Sekretär bekomme.«
Mateo lachte überlegen: »Für sehr schlau habe ich dich nie gehalten, Gabucho. Aber doch nicht für so dumm. Die Schule kann dir gut dreißig und auch fünfzig Pesos im Monat bringen.«
»Die Familien zahlen nicht für den Unterricht.« Mateo sagte: »Das kann ich mir denken. Aber da ist doch ein Gesetz, dass die Kinder zur Schule geschickt werden müssen, jeden Tag. Und wenn sie nicht kommen, hast du das Recht, die Väter zu bestrafen, mit einem Peso oder gar mit drei Pesos.«
»Das ist wahr«, bestätigte Gabriel. »Daran habe ich nie gedacht.« Weil jeden Tag nur immer etwa dreißig Jungen zur Schule kamen und neunzig fehlten, so waren das täglich neunzig Pesos Verdienst. Er rechnete das schnell aus.
»Um das für den Anfang nicht so hart zu machen«, erklärte
Mateo, »brauchst du ja nicht mit einem Peso zu bestrafen, sondern nur mit zwei Reales, fünfundzwanzig Centavos, für jedes Ausbleiben. «
»Eine vortreffliche Idee«, sagte Gabriel.

 

5

Er beeilte sich, den Rat seines Bruders zu verwirklichen. Noch am selben Nachmittag ließ er im Ort ansagen, dass er morgen eine Sitzung des Ayuntamiento, der Ortsverwaltung, halten müsse, um wichtige Fragen zu erörtern, und dass der Cacique und die Beigeordneten gebeten würden, anwesend zu sein. Um diese harte Maßregel durchzusetzen, benötigte er wieder, wie bei dem Viehverkauf, den indianischen Jefe.
Am nächsten Vormittag kamen der Jefe und seine Räte zum Cabildo. Don Gabriel lud sie ein, sich auf die Bank zu setzen. Anwesend war auch Mateo, und Gabriel sagte kurz: »Das ist mein Bruder, Don Mateo, der hier auf Besuch gekommen ist.« Don Gabriel begann gleich auf den Punkt loszugehen. Er schob in den gedruckten Verordnungen, die auf dem Tische lagen, herum, griff eine beliebige heraus und begann: »Da ist eine neue Verordnung von der Regierung gekommen.«
Der Jefe und seine drei Begleiter sahen sich an, ohne jedoch eine auffallende Miene zu zeigen. Aus Erfahrung wussten sie, dass immer, wenn eine neue Verordnung der Regierung kam, es bedeutete: Bezahlung in Geld oder Lieferung von unbezahlten Arbeitskräften für den Bau einer Straße in einer weit entfernten Gegend, die für den Ort selbst auch nicht das geringste Interesse hatte. Die Verordnung, die Don Gabriel in der Hand hielt, war eine Anweisung für die Sekretäre, die Telefonleitungen regelmäßig abzugehen, verbunden mit einer Reihe von Regeln, wie Störungen leichter Natur in den Leitungen in einfacher Weise von den Sekretären selbst beseitigt werden können, um die Leitung in Ordnung zu bringen und zu halten.
Weder Don Gabriel noch sonst irgendein Sekretär im Staate machte sich je die Mühe, diese Verordnung zu beachten und die Telefonleitungen abzugehen. Die Regierung, die diese und ähnliche Verordnungen an die Sekretäre herumschickte, erwartete auch gar nicht, dass eine solche Verordnung beachtet wurde. Solche Verordnungen wurden nur erlassen, damit irgend jemand, der einen Posten hatte und von dem man nicht wusste, womit man ihn beschäftigen könne, mit der wichtigen Aufgabe betraut wurde, diese Verordnung in monatelanger schwerer Tätigkeit auszuarbeiten. Die Verordnungen erfüllten noch einen anderen Zweck: Bei der Vergebung der Druckarbeiten dieser Verordnungen konnte jemand, der etwas höher im Amt war, dadurch verdienen, dass er sich mit dem Drucker darüber einigte, wie die Rechnungen und die Quittungen auszustellen seien.
Don Gabriel hob diese Verordnung hoch, ging dann zu dem Jefe und gab ihm die Verordnung in die Hand. Weder der Häuptling noch einer seiner Beisitzer konnte lesen.
Aber in der Verordnung waren einige Zeichnungen, die klarmachen sollten, wie man zerrissene Drahtleitungen provisorisch verbinden könne und wie der Draht auf den Glaspuppen befestigt sein müsse, um Induktionen in den Leitungsträgern zu verhindern und gute Isolierungen zu erreichen.
Auf diese Zeichnungen hindeutend, erklärte Don Gabriel: »Hier steht es, wo die Regierung verlangt, dass ich alles mit dem Telefon an die Regierung berichten soll, wenn im Ort nicht getan wird, was die Regierung befiehlt.«
Das verstanden die Leute, denn sie sahen ja die Zeichnungen der Telefonleitungen.
»Die Regierung sagt hier in dieser Verordnung«, redete Don Gabriel weiter, »dass jeder Junge des Ortes jeden Tag zur Schule kommen muss, außer an den beiden Tagen Samstag und Sonntag, an denen in der ganzen Republik keine Schule gehalten wird. Und die Regierung bestimmt, dass der Vater eines jeden Jungen, der nicht zur Schule kommt, für jeden Schultag, den er fehlt, einen Peso Strafe an den Sekretär des Ortes bezahlen muss.« Die
Indianer sagten kein Wort. Sie nickten nur mehrere Male und sahen ihren Jefe an, der gleichfalls nickte.
Der Jefe drehte sich eine Zigarette und sagte dann langsam: »Das können wir nicht bezahlen. Dazu haben wir das Geld nicht. Manch einer hier von den Familienvätern hat sechs Kinder. Wie kann er sechs Pesos den Tag bezahlen, wenn die Jungen groß genug sind und mit auf dem Felde arbeiten müssen, wenn der Mais gepflanzt wird oder wenn die Jungen bei den Schafherden bleiben müssen, damit die jungen Tiere nicht der Jaguar holt?«
»Ja, das ist wahr«, sagte Don Gabriel verstehend, »aber ich kann nichts tun. Ich bin hier nur der Secretario. Die Regierung hat angeordnet, und ich muss tun, was die Regierung anordnet, oder ich komme in das Gefängnis.«
Nun mischte sich Don Mateo in die Verhandlung: »Das ist überall so im Staat. Das ist auch in Comitan so und ebenfalls in Jovel.« Der Cacique sah ihn an und sagte sehr ruhig: »Bist du hier der Secretario?«
Ein wenig verwirrt durch die unerwartete Frage, sagte Mateo: »Natürlich nicht. Aber ich weiß, dass es überall so ist.«
»Du hast wohl diese Verordnung hier mit hergebracht?«
»Ja«, antwortete Don Mateo unsicher, »ich war auf dem Wege zu meinem Bruder hier, und da gab mir der Postmeister den Brief zum Mitnehmen.«
Der Häuptling erhob sich, und gleichzeitig standen seine Begleiter auf. Er sagte: »Dann können wir ja nun gehen. Oder ist noch eine andere Verordnung da?«
»Nein«, sagt Don Gabriel, »es ist nur die eine angekommen.«

 

6

Am nächsten Tag waren wie immer nur etwa dreißig Jungen in der Schule.
Don Gabriel begann, die Namen der Väter derjenigen Jungen, die fehlten, aufzuschreiben, um bei jedem den Peso einzukassieren. Aber hier stieß er gegen eine Wand, deren Vorhandensein ihm bisher nicht zur vollen Kenntnis gekommen war. Er hatte eine Liste aller hundertzwanzig Jungen des Ortes. Es waren jedoch zumeist Namen, die er den Jungen selbst gegeben hatte, um, für sich selbst, die Jungen voneinander unterscheiden zu können. Nur von wenigen Jungen kannte er deren Vater. Und das waren nur gerade jene Väter, die im Ort wohnten. Die Mehrzahl der Familien wohnten weit verstreut im Bezirk des Ortes. Viele wohnten weit in den Dschungel hinein. Er sah keine Möglichkeit, die Namen der Väter festzustellen, deren Jungen heute fehlten. Er wusste auch kein Mittel, wie er die Namen der Väter erhalten sollte, deren Jungen morgen fehlen würden.
Weil auch Mateo hier um guten Rat verlegen war, so gaben sie beide die Hoffnung auf, aus der Schule in irgendeiner Form einen persönlichen Gewinn zu erzielen. Das trug nicht wenig dazu bei, dass in Don Gabriel das Interesse an der Schule verringert wurde. Zwei Wochen später kam der Cura, der Kaplan, durch den Ort. Die Indianer mit ihren Frauen und Kindern kamen herbei, um dem Cura die Hand zu küssen. Dafür gab er ihnen seinen apostolischen Segen, und er war dann mit seiner schweren Arbeit zu Ende.

 

7

Durch die Ankunft des Curas war aber auch das Haus des Sekretärs reichlich gesegnet worden, mit einem Segen, der sichtbare Formen zeitigte.
Don Gabriels Frau ließ im Ort herumsagen, dass sie nichts im Hause habe und dass sie doch dem Señor Cura Gastfreundschaft bieten müsse, denn der Heilige Herr dürfe doch ganz gewiss nicht Hungers sterben. Zwei Stunden später hatte Don Gabriel im Hause vierzehn Hühner, achtzig Eier, sechs Truthühner, zwei kleine Saugschweinchen, fünf Zickelchen und das Fleisch von zwei Antilopen.
Der Heilige Herr konnte freilich nicht alles essen, und was übrig blieb, machte Don Gabriel nicht ärmer.
Dem Señor Cura wurde die Schule vorgestellt, und er war außerordentlich zufrieden mit dem Ergebnis des Unterrichts. »Ich weiß, Señor Secretario«, sagte er zu Don Gabriel, »es ist eine sehr harte Arbeit, die Sie hier haben, und es ist wahrhaft wohltuend, einen solchen Erfolg zu sehen.«
»Gracias, Padre«, erwiderte Don Gabriel bescheiden, »ich könnte viel viel mehr leisten in der Erziehung, wenn nur der Schulbesuch regelmäßiger wäre.«
Der Heilige Herr nickte verständnisvoll und klopfte sich auf den Bauch: »Ich weiß nicht recht, ich glaube, ich habe es an der Leber, hier sitzt es, hier, nein hier«, er führte die Hand Gabriels zu der Stelle seines Leibes, die er meinte. »Es können auch die Nieren sein«, sagte er weiter, »ich bin mir nicht ganz klar. Aber meist ist es übel mit der Verdauung. Und schlafen kann ich auch nicht recht. Haben Sie nicht ein Glas guten alten Comiteco im Hause, Señor Secretario? - Danke, danke. Das ist ein Labsal. - Ja natürlich, noch einen; nein, nein, schenken Sie ruhig voll, ich falle nicht gleich über die Stange. Was den Schulbesuch anbetrifft, geben Sie nichts darauf, was die Regierung da sagt. Was weiß die Regierung? Die wirkliche Autorität ist der Vater. Das ist Gottes Gesetz und Gottes alleiniger Wille. Von Anbeginn der Welt. Wenn der Vater den Jungen zur Arbeit braucht, so ist es die Pflicht des Kindes, seinem Vater zu gehorchen. Das ist Gottes Wille, und wir Menschen sollen uns in den Willen des Gottes, der alle Dinge am besten weiß und kennt, nicht hineinmischen. Wenn das Kind Gehorsam lernt gegen seinen Vater und gegen Gott, was mehr und was Besseres können wir armen Sünder es lehren? Diejenige Regierung ist eine wahrhaft weise Regierung, die keinen Unfrieden stiftet zwischen Vater und Kind. Gehorsam gegen den Vater steht höher als Gehorsam gegen eine irdische Regierung. Lassen sie die Kinder hier zur Schule kommen, wie sie wollen und wann sie wollen, ihr eigener Vater weiß am besten, was seinen Kindern gut ist. Was kann es gut tun in der Welt, diese Leute hier aus ihrer kindlichen Unschuld zu reißen, sie vollzupfropfen mit Lesen und Schreiben, ihr zufriedenes Leben zu zerstören mit dem eitlen Tand, der Wissen und Bildung genannt wird! Tand, eitler Tand ist es, nichts weiter. Den Unschuldigen und den Unwissenden ist das Himmelreich sicher. Ob den anderen auch, das ist ungewiss; denn darüber ist nichts gesagt. - Ja, freilich, ich nehme noch ganz gern ein Glas. - Ja natürlich, voll. Hilft meiner Verdauung. Die ist sehr träge und lahmt an allen Ecken. Wie gesagt, Señor Secretario, lassen Sie die Kinder zum Unterricht kommen, wann und wie sie wollen. Offen gesagt, ich bin, wie auch der hochwürdige Herr Bischof es ist, gegen jede Landschule. Je weniger, desto besser; gar keine, das beste. Aber trotzdem erkenne ich doch an, was Sie hier in diesen wenigen Monaten an Erziehung der Kinder geleistet haben. Es ist bewundernswert, wie weit die Kinder sind. Es ist eine große Ehre für Sie. Salud! Gesundheit! - Na, ich weiß nicht, ob ich noch einen, gut, aber nur einen einzigen, den allerletzten. Ist ausgezeichnet. Wie ist denn jetzt der Weg nach Tanquinvits?
Sehr morastig? Vor zwei Jahren bin ich da im Wege stecken geblieben. Bis zum Sattel hoch steckte ich im Schlamm mit meiner alten Mula.«
»Jetzt, in dieser Jahreszeit«, sagte Don Gabriel, »ist der Weg gut zu reiten. Da sind einige Stellen, wo Sie besser tun, gut Acht zu geben. Steine, mit Erde und Schlamm bedeckt. Dazwischen sind Löcher. Besser steigen Sie da ab, Señor Cura. Es kommt vor, dass die Mules mit einem Bein tief in ein Loch zwischen den Steinen einsinken und die Beine leicht brechen können. Aber wenn Sie absitzen, ist weniger Gefahr, das Tier kann sich leichter herausziehen, wenn es keine Last trägt.«
El Cura überlegte eine Weile, zündete sich eine Zigarre an und sagte: »Die Leute, die Sie hier in ihrem Bezirk haben, sind sehr friedliche und fleißige Leutchen. Ich komme nun schon seit langem jedes Jahr einmal hierher, um zu taufen. Lassen Sie die Leute nur ganz in Ruhe. Sie sind wie Kinder. So muss man sie auch behandeln. Und wenn sie sich gelegentlich einmal betrinken, sagen Sie gar nichts. Am nächsten Tage haben sie es ausgeschlafen.«
Don Gabriel stand auf: »Entschuldigen Sie mich, Señor Cura, ich habe einige Briefe zu schreiben. Ich wollte Sie bitten, die Briefe mit nach Jovel zu nehmen und dort auf die Post zu geben.«
»Es wird wohl eine Woche oder zehn Tage sein, ehe ich nach Jovel komme«, sagte der Heilige Herr lächelnd, »ich besuche alle Ortschaften in der Region. Bin nicht sehr eilig auf meinem Wege. Meine Mula trottet wie eine altersschwache Schnecke. Ich lasse sie trotten, wie es ihr gefällt. Gottes Geschäfte sind langsam und brauchen keine Flugmaschinen. Haben Sie je so eine Maschine gesehen? Ich glaube nicht dran. Und es wird auch nichts daraus werden. Man soll Gott nicht verbessern wollen. Hätte Gott es gewollt, dass wir in der Luft herumfliegen, dann würde er uns Flügel mitgegeben haben. Und weil er uns keine Flügel gab, sondern sie den Engeln vorbehielt, so hat er damit seinen Willen deutlich kundgetan, und wir sollen dem Willen Gottes gehorchen. Wenn Ihre Briefe keine große Eile haben, dann nehme ich sie gern mit.«
»Die Briefe sind nicht eilig«, antwortete Don Gabriel. »Ich schicke sie jetzt nur, weil ich eine Gelegenheit dazu habe.«
»Ja, freilich nehme ich noch ein Glas«, sagte El Cura, »ich finde nicht immer einen so guten Anejo. Und es tut mir gut. Ich fühle dann nicht so kalt im Magen. Aber es muss nun der allerletzte sein. Und dann, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, werde ich mich niederstrecken.«

 

8

Am nächsten Tage, als der Pfarrer mit seinem Burschen abgeritten war, sagte Don Gabriel zu seinem Bruder: »Dieser Ratschlag von dir ist gründlich fehlgegangen. Aus der Schule ist nichts zu machen. Ich will die Kirche nicht auf dem Halse haben.«
»Deine Sache«, erwiderte Don Mateo gleichgültig, »wenn du hier nicht auf deine Kosten kommst. Was geht es mich an?«
»Ich habe immer gedacht, dass du so sehr schlau bist und alles besser weißt als ich«, sagte Don Gabriel. Diese Bemerkung fraß an Don Mateo.
Weil er hier nichts zu tun hatte, nur auf seinen Bruder und dessen Frau als einzige Unterhaltung angewiesen war, darum würgten diese Worte ärgerlicher in ihm, als es unter anderen Umständen geschehen wäre.
Von jeher hatte er behauptet, dass er nur darum gute Ämter gehabt hätte, weil er größere Fähigkeiten habe als andere Leute und ganz besonders größere Gaben habe als sein älterer Bruder. Es war der Kernpunkt ihres täglichen Streitens, dass Mateo darauf bestand, wenn er hier sechs Monate Sekretär gewesen wäre, dann würde er es weitergebracht haben, und er würde in zwei Jahren aus diesem Amt wenigstens fünftausend Pesos für seine eigene Tasche herausgewirtschaftet haben.
»Das möchte ich nun doch wissen«, sagte darauf Don Gabriel jedes Mal, »wie du hier fünftausend Pesos herausholen könntest. Wenn du alle Familien hier auf den Kopf stellst, da fallen auch noch nicht einmal dreihundert Pesos aus ihnen heraus. Die Leute haben es doch einfach nicht. Leicht gesagt, fünftausend Pesos in zwei Jahren herauswirtschaften! In deinem Ort, wo du warst, wo drei Branntweinfabriken sind, zehn, vielleicht fünfzehn Schenkwirtschaften, vier Gastwirtschaften, zwanzig Chinesen mit Läden, die du vorn und hinten und oben und unten rupfen kannst, eine andere Sache als hier.«
»Aber in jenem Bezirk war ich nicht allein«, gab Mateo zur Antwort, um seine Meinung zu verfechten. »Da war der Bürgermeister, der Stadtsekretär, der Steuermarkenverwalter, der Polizeichef mit sechs Mann, der Richter, die Delegationen und ein halbes Hundert mehr, die alle mitrupften und mitzupften. Aber hier bist du doch allein und kannst die ganze Suppe allein löffeln.«
»Verdammt noch mal«, schrie Don Gabriel, »lass mich in Ruh!« Er sah, dass sich die Jungen auf dem Platze vor der Schultür balgten und jagten, griff sich fünf heraus und verprügelte sie. Dann befahl er ihnen, ihre Papierschnitzelchen aufzusagen. Als sie alle damit durch waren, ließ er sie auf dem Platze aufreihen, übte Gänsemarsch und Armstrecken mit ihnen. Hierauf ließ er Erholungspause machen, ging ein Glas Comiteco trinken und begann sich mit seiner Frau zu zanken.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur