SECHSTES KAPITEL
1
Zwei Tage darauf, am späten Nachmittag, erreichte Don Gabriel den großen indianischen Ort Cahancu.
Der Ort ist ein wichtiger Platz für alle Maultierkarawanen, die aus dem Süden und aus den mittleren Distrikten des Staates kommen. Hier teilen sich die Wege nach den Orten des Nordens, nach denen des Nordostens und denen des Nordwestens. Er ist darum ein wichtiger Handelspunkt und Marktort. Die Karawanen kaufen hier ein, was sie für die Weiterreise benötigen, an Lebensmitteln und Ersatz an mürbe gewordenen Materialien für die Tragsättel. Oft genug verbleiben hier die Karawanen volle zwei Tage, um den Tieren eine ausreichende Ruhe zu geben, ehe die nun sehr schwierig werdenden Wege beginnen. Die Waren werden umgepackt je nach der Tragfähigkeit und der Ausdauer, die jedes einzelne Mule auf dem bisherigen Marsche gezeigt hat. Die Wunden der Tiere, teils verursacht durch das Drücken und Scheuern schlecht balancierter Lasten, und teils verursacht durch tiefe Bisse großer Insekten, werden hier gründlich gedoktert. Geschieht das nicht, so füllen sich auf dem Weitermarsche die Wunden mit fingerlangen Würmern, die ein Tier in wenigen Tagen, unter der Haut entlang, bei lebendigem Leibe auffressen, bis das Tier zusammenbricht und am Wege stirbt.
Cahancu liegt auf einem hohen Plateau. Dieses Plateau wird ganz von der Plaza eingenommen. Die Indianer wohnen rundherum an den Abhängen jenes Plateaus, und weiter nach unten liegen ihre Felder und Äcker.
An der Plaza wohnen Mexikaner, die so genannten Ladinos. Die Plaza ist ein großes Rechteck. Die eine schmale Seite wird eingenommen von der zerfallenen Kirche, die andere gegenüberliegende Seite wird abgegrenzt von dem Cabildo, dem Stadthaus, in dem der Sekretär des Ortes wohnt und regiert. Der Präsident der Gemeinde ist ein Indianer, der, wie in allen Orten mit indianischer Bevölkerung, inmitten seines Volkes lebt. Die eine Längsseite hat ein lang hingestrecktes koloniales Gebäude, mit einer Säulenhalle in seiner ganzen Länge. Hier befinden sich die Fondas und Küchen, wo die Durchreisenden essen können. Hier sind einige fensterlose Räume, wo leere Bettstellen stehen. Die Matratze besteht aus kreuz und quer gezogenen rohen Kuhhautriemen, die an den Seitenleisten der Bettstelle festgeknüpft sind. Auf diesem Genetz von rohen Riemen, an denen sich noch alles Haar des Felles befindet, weil diese Riemen nicht gegerbt sind, liegt eine Matte aus Bast. Diese Räume und Bettstellen werden an Durchreisende vermietet. In jedem Raum befinden sich vier bis acht solcher Bettstellen, keine abgetrennt von der andern durch einen Vorhang oder eine verstellbare Wand. Meist sind es nur reisende Frauen, die eine Bettstelle mieten. Es wird für die Bettstelle sehr wenig, meist gar nichts berechnet. Sie gilt als Zugabe zu dem Abendessen, das nicht teurer berechnet wird, ob man in einer Bettstelle schläft oder nicht. Männer schlafen, mit seltenen Ausnahmen, in der offenen Säulenhalle, wo sie eine Hängematte ausspannen oder sich auf den flachen Lehmboden legen, eine Matte unter sich, mit einer Wolldecke zugedeckt und das Moskitonetz darüber. Es schlafen auch oft genug Frauen, besonders wenn sie mit ihren Männern reisen, unbekümmert in der offenen Halle, wo es gewöhnlich kühler ist als in den stickigen Räumen. Diese offene Halle ist oft so angefüllt mit Packen, Sätteln und schlafenden Menschen, dass kaum ein Viertel Meter Raum bleibt, obgleich die Halle sehr lang ist. Zuweilen sind zehn Hängematten ausgespannt, in denen je ein Mann oder eine Frau schläft, und unter der Hängematte hat ein Muletreiber oder ein wandernder Indianer sein Lager.
Nachts wird es nie ganz still in jener Halle, wie auch das Geschwätz und Feilschen und Herumbabbeln halbbetrunkener Maultiertreiber oder Indianer auf der Plaza nie verstummt. Zu jeder Stunde des Nachts kommen Reisende oder Karawanen an oder ziehen Leute weiter, besonders wenn Mondschein ist. Vor der Halle brennen die ganze Nacht hindurch die Feuer der Indianer und der Maultiertreiber, die sich ihr Essen selbst kochen, weil ihnen selbst die niedrigen Preise der Küchen noch zu hoch sind. Die ganze Nacht hindurch wird in der Halle gepackt, geredet, gesungen, geschimpft, geflucht, geraucht und der Weg für die nächsten Tage beratschlagt.
Die Küchen sind an dem Ende der Halle, die sich dem Cabildo am nächsten befindet. Auch hier wird die ganze Nacht hindurch gekocht und geschwatzt. Wenn das letzte Abendessen für einen Reisenden, der soeben angelangt ist, verabreicht ist, dann stehen schon einige Leute bereit, die reisefertig sind und Frühstück verlangen.
Alle Rassen und Berufe finden sich in der Halle zusammen, amerikanische Ingenieure, schwedische Geologen, arabische Händler, spanische Handelsagenten, mexikanische Archäologen, Neger, Juden aus Polen, chinesische Opiumschmuggler, indianische Lastträger, entwichene Sträflinge und Mörder auf der Flucht. Aber alle, was immer sie hier auch zusammengeführt haben mag, sind friedlich und geselliger Natur. Wer nachts aus Versehen von einem, der abreisen muss, auf den Kopf getreten wird oder einen schweren Stoß in die Weichen bekommt, dass sie blau anlaufen, flucht für eine Weile, der Täter entschuldigt sich höflich mit vielen Worten, der Gepeinigte, sich die schmerzende Stelle reibend, antwortet noch höflicher: »Das hat nichts zu sagen, Señor, stehe immer bereitwillig zu Ihren sehr geschätzten Diensten!« Aber Friede und Eintracht werden dadurch nicht gestört; denn jeder weiß, dass niemand die Absicht hatte, einen andern zu belästigen. An der gegenüberliegenden Längsseite der Plaza sind die Läden aufgereiht.
Diese Handelshäuser sind Strohhütten und Holzbaracken. Jedes einzelne dieser Geschäftshäuser erweckt den Eindruck, dass es im nächsten Augenblick zusammenfallen wird, und es würde sicher zusammenbrechen, wäre es nicht gehalten von seinem Nachbarn, der ebenso erbarmungswürdig auf den nächsten Windstoß wartet, um von der grausamen Welt endlich einmal Abschied nehmen zu dürfen. Obgleich diese Läden nur aus Brettern, Latten, Staketen, Lumpen, Strohbüscheln, Palmblättern, Pappe, Blechfetzen, Drahtstücken, leeren Gasolinbüchsen und Petroleumbüchsen, Fellen, Matten und Überbleibseln morscher Kisten bestehen, so erwecken sie dennoch den Eindruck, dass sie schon hier standen, als Noah den Auftrag zugewiesen erhielt, eine Arche zu bauen.
Manche dieser Läden haben nur für drei Pesos Ware alles in allem gerechnet. Aber die Inhaber scheinen davon leben zu können. Jeder Laden hat so ziemlich genau dasselbe zu verkaufen, was auch der Nachbarladen aufzuweisen hat. Die Inhaber der Läden sind meist Frauen. Wo ihre Männer sind, weiß man nicht, auch keine einzige der Frauen selbst weiß, wo sich ihr Mann befindet, und selten weiß sie zu sagen, warum er ihr abhanden gekommen ist. Zur dauernden Erinnerung jedoch hat jeder Mann seiner Frau eine Anzahl Kinder zurückgelassen, damit sie jederzeit beweisen kann, dass sie einmal oder mehrere Male einen Mann gehabt hat. Diese Läden sind keine geschlossenen Baulichkeiten. Genau betrachtet und wenn man sich nicht von dem Namen Tienda oder Laden hypnotisieren lässt, der Sache auf den Grund geht und sich das Hemd auf dem Leibe besieht, so erkennt man, dass diese Läden nur Bretter sind, die über Kisten oder Böcken liegen, um einen Verkaufstisch zu bilden.
Hinter diesem Ladentisch sind sehr roh gearbeitete Fächer, in denen die Waren ohne jegliche Ordnung und Einteilung hineingesteckt, hineingestopft und hineingeworfen sind, wo sie jahrzehntelang auf einen Käufer warten.
Dieser Tisch und jenes Gestell mit Fächern sind überdacht mit allen möglichen Dingen, mit denen man im Notfalle irgend etwas überdachen kann, wenn man weder Dachpappe noch Dachziegel besitzt. Links und rechts vom Ladentisch sind aus Brettern aller möglichen Größen, aller möglichen Holzarten, jeder möglichen Herkünfte und jeglichen nur denkbaren ursprünglichen Gebrauches Wände errichtet, um anzudeuten, wo die eine Ladeninhaberin mit ihrem Geschäft aufhört und die Nachbarin beginnt. Von der phantastischen Bedachung hängen alle nur irgendwie gangbaren Waren herunter: Seile, Gurte, Kerzen, Kaffeekesselchen, Laternen, Muletreiberpeitschen, Sporen, Sandalen, Lackschuhe für Damen, Taschen aus Bast, Taschen aus Leder, Schrotflinten, Feuerzeuge, bestehend aus Stahl, Stein und Lunte, Heiligenbilder, grellrote große Halstücher, gigantische Strohhüte, Machetes, Baumwollhemden und Ballkleider. Auf dem Tische ist eine Waage, die so eingerichtet ist, dass der Käufer nie feststellen kann, ob richtig gewogen wird oder nicht.
Meist vermag das auch der Verkäufer nicht genau zu sagen. Aber die Waage ist Vorschrift, und darum steht sie hier. Auf dem Tische stehen Flaschen mit Bier, Limonaden und Sodawassern; ferner liegen da Bananen, Orangen, Zitronen, Backwaren, Kakaobohnen, Kürbiskerne. In Gläsern und Flaschen sind verlockende Bonbons.
Des Abends werden diese Läden illuminiert. Jeder Laden hat eine andere Beleuchtung. Petroleumlampen, Azetylenlaternen, Ö1lämpchen, Gasolinlampen sind bei den großen und modernen Läden zu sehen. Die kleineren Läden haben Kerzen, und die noch kleineren haben Kienspäne als Beleuchtung. Vor den Läden ist eine Reihe von indianischen Garküchen aufgebaut, die weder Bedachung noch Tische und Stühle haben. Jeder, der essen will, kauert sich auf den Boden oder stellt sich bei der winzigen Küche auf. Die Kundschaft sind meist wandernde Indianer oder Karawanentreiber, die zu müde sind, selbst abzukochen. Diese Garküchen bleiben die ganze Nacht hindurch in Tätigkeit. Die indianischen Köchinnen hocken bei ihren kleinen Blechöfchen und schlafen; sobald sich aber jemand vor dem Öfchen aufstellt, sofort sind die Frauen munter, und ohne dass der Gast etwas sagt, bläst die Frau das Feuer an und wirft einige trockene Tortillas zum Rösten oder Anwärmen in das runde Blech über dem Feuer. Der Kaffee ist stets fertig, denn das Krügchen bleibt ständig am Feuer.
Die Läden sind nicht verschließbar. Es würde auch nicht viel nützen, sie zu verschließen. Da die Läden nur aus zusammengenagelten Kistenbrettern, Latten, Säcken, Fellen, aufgerissenen Pappkartons und Bastmatten bestehen, würde ein leichter Fußtritt genügen, um einzubrechen. Das Schloss wäre nur Luxus. Wenn der Weltstadtverkehr des Ortes abzuebben beginnt, so etwa gegen zehn Uhr, und nur an den Läden, wo Branntwein verkauft wird, noch ein wenig Geschäftsbewegung zu sehen ist, weil die Muletreiber sich ihren Nachttrunk einkaufen gehen, dann fängt die Ladeninhaberin an, den Tisch, oder das Gestell, das sie Tisch zu nennen beliebt, abzuräumen. Alles, was darauf liegt, wird unter den Tisch gepackt, oder es wird verstaut, wo sich nur gerade ein freies Eckchen oder eine leere Kiste findet.
Manche der Läden stellen einige Bretter auf den Tisch in der Weise, dass sie oben gegen das Schilfdach gelehnt sind. Damit geben sie zu erkennen, dass sie geschlossen haben und dass man nur durch die Hintertür oder die Seitentür haben könne, was man benötige. Diese Hintertür oder Seitentür ist während des Tages ein Fetzen Sackleinen, und während der Nacht sind es zwei oder drei angelehnte morsche Bretter.
Wenn der Ladentisch in einer Weise abgeräumt ist, dass niemand, der in der Dunkelheit der Nacht sich hier vorbeischleicht, etwas mitnehmen kann, dann baut sich die
Ladeninhaberin mit ihren Kindern und Mägden irgendwo in diesem winzigen Gebäude etwas auf, von dem man weder sagen noch sehen kann, woraus es besteht und wie es entstand. Aber die Ladeninhaberin nennt es nichtsdestoweniger la Cama, das Bett. Das kleinste Kind nimmt sie mit in ihr Bett. Die übrigen Kinder werden in Decken gerollt und auf Kisten, Säcken, Matten, Brettern, auseinander fallenden Matratzen niedergelegt. Die Mägde, zwei oder drei, kriechen gleichfalls in irgendeinen Winkel, um innerhalb des Hauses schlafen zu können. Zuweilen hat die Magd selbst auch noch einen Säugling oder ein größeres Kind.
Die älteren Kinder der Ladeninhaberin schlafen auf dem Ladentisch und schützen so das Warenhaus vor Raub und Einbruch. Die Moskitonetze werden endlich zugezogen, und der ganze Laden ruht aus, sich vorbereitend für die schwere Arbeit des kommenden Tages.
Der Raum zwischen Ladentisch und der klapprigen Wand, die den Laden gegen den Busch hin abschließt, dient nicht nur als Handelsstube und Schlafzimmer, sondern gleichzeitig als Küche, Salon, Empfangszimmer für Besuche, Speisezimmer und als Festsaal für die lärmenden Veranstaltungen, wenn die Frau ihren Heiligentag feiert.
Diese kleinen Geschäfte, so kümmerlich, armselig, primitiv und dennoch immer arbeitsfreudig, erfüllen eine wichtige Aufgabe am Orte. Nicht etwa, wie man glauben möchte, haben sie die Aufgabe, reisende Leute und Karawanen mit unentbehrlichen Dingen für deren lange und beschwerliche Reisen zu versorgen. Das ist nur so nebenbei. Ihre wichtigste Aufgabe ist, den Ortssekretär mit Einnahmen zu versorgen. Jeder Laden, sei er auch noch so klein und unansehnlich, und jede winzige Küche, die Tortillas und Frijoles an vorüberziehende Muletreiber verkaufen will, hat Steuern zu bezahlen. Und die Steuern werden natürlich an den Ortssekretär abgeliefert.
Der Ortssekretär verrechnet die Steuern mit der Regierung des Staates. Diese Verrechnung ist sehr verwickelt und außerordentlich umständlich infolge der vielen kleinen und sehr sehr kleinen Geschäfte. Einige sind so klein, dass sie nur zwei Centavos Steuern täglich entrichten. Das sind die winzigen indianischen Händler, die selbstgeerntete Bananen, Orangen, Zwiebeln oder Chili auf dem Boden ausbreiten und sich dahinterhocken und darauf warten, bis endlich jemand herankommt, der glaubt, dass er hier bei dem Indianer etwas geschenkt bekommen kann. Der einzige Mann auf Erden, der bei dem Steuerverrechnungsgeschäft des Ortes mit dem Staate klar sehen kann, woher die Steuern kommen und wie sie verrechnet werden, ist der Ortssekretär. Da er ja kein hochstudierter Volkswirtschaftler ist, erwartet niemand von ihm, dass er sich in dieser Verrechnung zurechtfindet. Und weil sich die Steuerverwaltungsbeamten in diesem Wirrwarr noch viel weniger durchfinden und gerade darum, weil sie studierte Kalkulatoren sind und weil ferner der Ortssekretär allein bestimmt, wie hoch die Steuer für jedes einzelne Geschäftchen in seinem Ort je nach dem Erträgnis des Ladens angesetzt werden muss und kein Mathematiker diesen Wirrwarr von Abzügen, Nachlässen, Erhöhungen, Spezialtaxen, Branntweinlizenzen, die der Ortssekretär nach eigenem Urteil festsetzt, auflösen, zergliedern und auf Richtigkeit nachprüfen kann, darum ist der Posten als Sekretär für diesen lebhaften Durchgangsort so sehr begehrt. Außer Steuern kommen Geldstrafen ein, für die der Sekretär je nach Belieben Quittungen gibt oder nicht. Und auch das, was mit Geldstrafe geahndet werden muss, ordnet er selbst an. Es kann ihm niemand dreinreden. Er ist die Autorität, er hat den Revolver und vier indianische Polizisten mit Schrotflinten und Machetes.
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2
Als Don Gabriel ankam, ritt er sofort auf den Cabildo zu, um den Sekretär zu begrüßen. Es war seine Absicht, im Cabildo die Nacht zu verbringen, weil ihm das Gelegenheit gab, mit dem Sekretär Amtsgeschäfte zu besprechen. Eine solche Konferenz bestand darin, dass zwei Ortssekretäre, die sich irgendwo trafen, Ratschläge miteinander austauschten, auf welche Weise sich ihr Einkommen erhöhen ließe. Sie unterschieden sich hier keineswegs von den Seelenhirten, die gleichfalls zuweilen Konferenzen in ihren Bezirken abhielten, weniger mit der Absicht, über das Seelenheil ihrer Schäfchen zu reden als vielmehr und ausschließlich darüber, wie sich das Amt einträglicher gestalten ließe unter geschickter Ausnützung aller sich bietenden Gelegenheiten. Wie in allen Orten dieser Art, so gab auch hier der Sekretär durchziehenden Reisenden besserer Art, auf Wunsch und wenn Platz war, Nahrung und Obdach gegen die übliche Bezahlung. Dieses Hotelrecht war ein weiterer Teil seines Einkommens. Es war das einzige Geschäft am Orte, das keine Steuern zahlte. Autokratische Könige sind überall auf Erden, wahrscheinlich auch im Himmel, steuerfrei. Mit dieser Herberge machte der Sekretär natürlich den übrigen Fondas, die in dem langen kolonialen Gebäude ihr Geschäft ausübten, reichlich Konkurrenz. Denn gerade diejenigen Reisenden, die gut zahlen konnten, kamen nur dann zu den Fondas, wenn der Sekretär mit Gästen überfüllt war und niemand mehr aufnehmen konnte.
Er verdiente nicht nur an dem Essen, das er den Reisenden verabreichte, sondern auch an dem Zacate und dem Mais, den die Tiere der Reisenden, die Pferde und Mules, benötigten, und ferner an dem Essen für die Burschen der Reisenden. Sofern diese nicht in den Fondas essen.
Außerdem unterhielt er einen Branntweinausschank, der von allen Reisenden, die bei ihm wohnten, reichlich beehrt wurde, wodurch den Geschäften am Orte, die hohe Taxen für die Branntweinlizenz entrichten mussten, gute Kundschaft entzogen wurde. Nicht genug mit dem allen, besaß er auch noch im Cabildo eine Tienda, wo er dieselben Arten von Waren feilhielt, die jene Frauen in den Baracken und Hütten verkauften, um Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu finden.
Es muss aber hier gesagt werden, dass er seine Stellung und Autorität als Ortssekretär niemals benutzte, diejenigen Reisenden oder Bewohner amtlich zu begünstigen, die bei ihm übernachteten oder bei ihm kauften. Das trug wesentlich dazu bei, dass die Geschäftsleute am Ort sich über diese Konkurrenz nicht beschwerten, sondern sich mit den Verhältnissen abfanden. Ein solches Beschweren hatte auf jeden Fall mehr Nachteile als Vorteile. Die Beschwerdeführer mussten ihre Namen nennen. Der Sekretär erfuhr diese Namen, und er hatte die Macht, die Träger jener Namen so zu beuteln und zu schütteln, dass sie es jahrelang bereuten, sich einmal beschwert zu haben. Dennoch gibt es genug Tapfere, die sich beschweren. Aber es sind mehr vorhanden, die sich über die Ungerechtigkeiten und Willkürlichkeiten des Sekretärs erbittern, ohne sich irgendwie zur Wehr zu setzen.
Darum besteht zwischen dem Sekretär und den Ladinos am Ort, den Mexikanern, eine stete grimme Feindschaft. Diese Feindschaft ist nicht offen. Gesicht gegen Gesicht scheint Verträglichkeit zu sein. Aber im Hintergrunde ist nichts als Hass.
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3
Don Rafael Sariol, der Sekretär des Ortes, war an diesem Tage nicht daheim. Seine Frau empfing die Ankommenden. Sie war besonders hilfsbereit und freundschaftlich zu Don Gabriels Frau, denn sie wusste aus eigener Erfahrung, was solche weite Reisen zu Mule und auf unsagbar schlechten Wegen für eine Frau bedeuteten. Wenn auch die mexikanischen Frauen, die auf den fernen Ranchos und Haciendas leben, robuster und hartgesottener auf langen Reisen sind als ein durchgekochter alter teutonischer Raubritter, wenn sie auch ein Viertelliterglas heftigen Tequilas auf einen Hieb hinunterschwenken können, ohne mit einem Härchen zu wackeln, so sind diese langen Reisen auf ewig stolpernden, springenden und fallenden Mules und Pferden wirkliche Martern. Es sind Folterungen für einen Mann, und in noch viel höherem Grade für eine Frau. Nun gar erst für eine Frau, die ein halbes Dutzend Geburten hinter sich hat auf fernen Farmen, wo die einzige ärztliche Hilfe, die sie bekommen kann, die einer alten Indianerin ist.
Die Wege sind so beschaffen, dass selbst ein gutes altes Mule, auch wenn es wollte, nicht ständig in gleicher ruhiger Gangart gehen kann.
Da liegen gigantische Bäume, abgebrochen beim letzten oder vorletzten Hurrikan, quer über dem Wege. Einen Meter dick oder einen und einen halben Meter. Das Mule springt, und es muss springen. Dann sinkt das Reittier in tief ausgewaschene Löcher und Gruben ein. Oder es verhakt sich einen Fuß zwischen offen liegenden Baumwurzeln. Nun kommt eine tiefe Böschung, und das Tier klimmt daran herunter, dass die Schinken beinahe senkrecht über dem Kopfe stehen. Dann wieder hat es über einen Graben in weitem Sprung zu setzen. Die Hinterbeine bleiben über dem Rand des Grabens hängen.
Die Reiterin weiß einige aufregende Sekunden lang nicht, ob das Tier die Hinterbeine wird nachziehen können, oder ob es, mit der Frau auf seinem Rücken, den Graben, der vielmehr eine schluchtartige, zwanzig Meter tiefe Rinne ist, hinunterrutschen wird mit dem Erfolg, dass die Frau unter das Tier gerät, wenn beide, Frau und Mule, unten auf dem Grunde des Grabens ankommen. So ungefähr geht das den ganzen Weg entlang, nur mit noch lebhafteren Hindernissen ausgeschmückt. Und so geht die Reise sechs, sieben, zwölf Tage lang. Jeden Tag von sechs Uhr morgens bis vier oder fünf Uhr nachmittags. Das alles wäre noch erträglich genug, dürfte die Frau auf dem Mule oder auf dem Pferde sitzen, wie es ihr am bequemsten für eine so lange und anstrengende Reise erscheint. Aber die Sitte erlaubt ihr nicht, Bequemlichkeiten zu genießen, die nicht ausdrücklich im Sittenkodex der mexikanischen Frau zugelassen sind. Sie darf nicht im Männersattel reiten, noch viel weniger nach Männerart. Sie sitzt im Sattel, selbst auf diesen martervollen langen Reisen durch Busch, Dschungel und Sümpfe, genauso, wie die spanischen Edeldamen zur Jagd ritten, als Kaiser Karl der Fünfte die Mitteilung erhielt, dass er mit der Eroberung Mexikos eine neue Provinz erhalten habe. Wie könnte sie auch anders im Sattel sitzen! Wie dürfte sie! Was würde die Welt von ihr denken und sagen, wenn sie auf dem Wege von den Frauen anständiger Rancheros angetroffen würde, dass sie auf dem Mule sitze, unanständig und säuisch wie eine protestantische Gringa, die weder an Heilige noch an die Unbeflecktheit einer gebärenden Jungfrau glaubt! Und was würde nun gar erst der Señor Cura sagen, wenn er das hörte und sie gar so sähe! Keine Sitte und keine wahre Freude ohne Unbequemlichkeiten.
Und weil die Frau des Don Gabriel auf anständige und züchtige Art und Weise angeritten kam, so wusste die Frau des Don Rafael, wie sie ihren Gast aufzunehmen habe, um ihm die Härten einer solchen Reise zu mildern.
Als sie später beim Essen saßen, erzählte Don Rafaels Frau den Hergang des Geschäftes, das ihr Gatte gerade jetzt abwickelte und das der Grund seiner Reise war.
Weil niemand sonst beim Essen zugegen war, konnte sie ja, wie sie bei der Einleitung ihrer Erzählung betonte, ganz freiheraus sprechen; denn Don Gabriel war ja gleichfalls Secretario, und so blieb die Geschichte innerhalb der Sippe.
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4
Auf dem offenen Platze, nahe der Kirche, wo ein schmaler Weg hinunter führte zu dem indianischen Ort, hatte ein Waffenschmied seine Werkstatt aufgeschlagen. Er war ein Mestize. Die Werkstatt war eine nach allen Seiten offene kleine Hütte, sechs Stämmchen in die Erde getrieben und darüber ein Palmdach. Hier stand eine kleine Feldschmiede. Dann war noch ein winzig kleiner Amboss vorhanden, der vielleicht noch gerade groß genug war, um einem Uhrmacher zu dienen. An einem Baumstrunk, der in der Erde faulte, war ein kleiner Schraubstock befestigt. Das war die Waffenschmiede.
Ob der Mann, dem diese Kanonenfabrik gehörte, wirklich Waffenschmied war, konnte man nicht feststellen. Er hätte ebenso gut Gerber sein können oder Kürschner. Aber niemand fragte ihn nach seinem Lehrbrief.
Wo sich keine Konkurrenz befindet und wo man es nicht besser weiß, kann eine Krähe als Pfau oder als Nachtigall durchgehen. Und weil der nächste Waffenschmied vierzig Meilen weit wohnte und jener gleichfalls nur Waffenschmied war, weil sich die Seilerei nicht lohnte, so hatte dieser Waffenschmied hier reichlich Arbeit. Alle Indianer, deren Vorderlader in Unordnung gekommen waren und hinten heraus schossen, gingen zu diesem Manne. Er setzte neue Pistons auf, fügte neue Hähne ein, spannte neue Federn ins Schloss, hämmerte die Abzüge wieder brauchbar und bohrte verstopfte und verrostete Zündkanäle auf. Der Mann überarbeitete sich nicht. Er nahm sich reichlich Zeit. Eine Arbeit, die er leicht in fünf Minuten hätte leisten können, verstand er geschickt auf einen halben Tag auszudehnen.
Der Indianer saß geduldig dabei, und er wartete ebenso geduldig, wenn der Schmied seine Arbeit unterbrach, um essen zu gehen, und bei seinem Essen zwei Stunden verweilte. Je mehr Zeit er auf die Arbeit verwandte, je schwieriger erschien sie für den Indianer, und um so williger war der Indianer, dem Waffenschmied einen blanken Peso für die Arbeit zu bezahlen, wenn sie gut für ein Danke oder für zehn Centavos hätte geliefert werden können.
Hier, bei dem Waffenschmied, hockten ständig, den ganzen lieben langen Tag hindurch, Dutzende von Indianern, um dem Manne bei seiner interessanten Arbeit zuzusehen. Eine Schusswaffe, wenn auch nur ein Vorderlader, ist ein gewaltiges Ding im Leben jener Indianer. Und ein Mann, der es versteht, die Krankheiten einer Schrotflinte zu heilen, ist ein wichtiger und großer Mann, dessen Arbeit Bewunderung verdient.
Es geschah bei diesem Waffenschmied, wo zwei Händler, die sich auf einer Reise befanden und zur selben Zeit in dem Orte übernachteten, in Streit gerieten. Die Ursache des Streites war eine Meinungsverschiedenheit über das Kaliber für Jagdflinten, das sich am besten für die Jagd auf Tigerkatzen und Berglöwen eigne. Es kamen drei Kaliber in Frage, zwölf, sechzehn und zwanzig. Liegt keine bestimmte Absicht vor, einen ernsten Streit hervorzurufen, und ist keine Feindschaft aus früheren Zusammenstößen, die sich auf Märkten ereigneten, zurückgeblieben, so kann man sich bei einer derartigen Meinungsverschiedenheit sehr rasch darauf einigen, dass man mit jedem Kaliber eine Bestie erjagen kann, wenn man sie gut trifft; denn wenn man sie nicht trifft, ändert es auch nichts an dem, was darauf folgt, wenn man mit einer zwölfzölligen Granate auf das Tier gezielt haben sollte. Der eine Händler, Don Ismael, war Araber, der andere, Don Martin, war Mexikaner. Die beiden waren ewig im Streit, wo sie sich auch trafen. Jeder warf dem anderen vor, dass er ihm das Geschäft versaue und ihn zum Hungertode führe, weil er ihn ständig mit den Preisen unterbiete, und wenn der eine an seinem Stand eine Frau habe, die Seidenstrümpfe kaufen wolle und das Geld schon abgezählt in der Hand halte, der andere sofort schreie: »Senorita, hier, diese echt französischen Strümpfe, gestern importiert, verkaufe ich Ihnen um zwei Reales billiger.«
Das ist schäbig. Aber jeder dieser beiden tat es, um den andern in Wut zu bringen.
Hier hatten sich die beiden wieder einmal getroffen. Don Martin kam von Montecristo herunter, und Don Ismael kam von Tullum, um nach Tumbala zu reisen.
Die Frage nach dem richtigen Kaliber für einen Berglöwen oder eine Tigerkatze war nur die Einleitung. Es folgte sehr bald die Beschuldigung des Don Ismael, dass die Mexikaner so dumm seien, dass sie überhaupt nicht wüssten, worin der Unterschied läge zwischen einem Maschinengewehr und einem Rücklaufgeschütz. Beide wussten nicht, was ein Rücklaufgeschütz sei. Don Ismael hatte das Wort irgendwo gelesen. Aber Don Martin war beleidigt. Er erwiderte, dass die Araber solche Heiden seien, dass sie sich nicht schämten, mit Schweinen, Kamelen, Eseln, Kindern und zehn Frauen im selben Mist zu schlafen.
Darauf sagte Don Ismael, Don Martin sei ja nur darum am Leben, weil seine Mutter, als sie ein halbes Dutzend Hunde geworfen hatte, alle zu ertränken gedachte, aber aus Versehen einen am Leben gelassen habe und absichtlich gerade den, der eiterbeulig war, weil sein Vater von einer gewissen Krankheit, die er ja gut kenne, halb aufgefressen war. Was Don Martin darauf sagte, lässt sich nicht so schlicht und sanftmütig wiederholen. Aber es war so romantisch, wie es nur immer sein kann, wenn ein Mexikaner, besonders wenn er reisender Händler ist, die Absicht hat, seinen Gegner zu veranlassen, den Revolver zu ziehen und besinnungslos sechs abzufeuern.
Don Ismael trug seinen Revolver nicht im Gürtel. Er hatte ihn in der Fonda zurückgelassen, weil er ja nur bequem hier herumzuschlendern gedachte. Aber er hatte ein Messer in einer
Scheide im Gurt stecken.
Mit einem Ruck war das Messer heraus. Ebenso rasch hatte Don Martin den Revolver gezogen. Jedoch seine Bewegung dauerte länger, und der Revolver spannte nicht rasch genug. So kam es, dass er einen heftigen Stich in der Seite spürte, ehe sein Revolver feuerte. Die Kugel prasselte irgendwo gegen das Dach der Kirche. Ehe er den zweiten Schuss feuern konnte, hatte ihm Don Ismael den Arm heruntergeschlagen und die Hand, die den Revolver hielt, gepackt und so abgedreht, dass die Waffe auf den Boden fiel. Don Rafael, der Sekretär des Ortes, stand während dieses Vorganges nur etwa hundert Schritte entfernt, wo er zu einigen Maultiertreibern sprach.
Als er den Schuss hörte, war er mit einigen Sätzen bei der Waffenschmiede, wo er gerade zur Zeit kam, um Don Martin zu verhindern, den Revolver, auf den Don Ismael seinen Fuß gestellt hatte, zurückzuerobern.
Gleichfalls durch den Schuss angelockt, kamen die vier Polizisten des Ortes herbeigerannt.
Sie waren Indianer, barfüßig, ohne Hut, mit einem Machete an der Seite und eine alte, halb verrostete VorderladerÂschrotflinte umgehängt.
Als sie sahen, dass die Streitenden keine Indianer waren, blieben sie in einigen Schritten Entfernung stehen. Die indianischen Polizisten der kleinen Orte sind gegenüber den Leuten, die nicht ihrer Rasse angehören, sehr vorsichtig in ihren Amtshandlungen. Wenn sich Mexikaner oder überhaupt Caballeros herumschlagen und sogar Schnellfeuer aufeinander abladen, greifen sie nur ein, wenn sie einen direkten Befehl von der Autorität ihres Ortes, im gegenwärtigen Fall dem Sekretär, dafür empfangen. Caballeros haben ihre eigene Art, sich zu unterhalten. Zudem mögen die streitenden Herren ja hohe Beamte sein, die den Polizisten sofort einsperren lassen, falls er sich in Sachen mischt, die er nicht versteht. Etwas anderes ist es mit Indianern. Deren Handlungen begreift der indianische Polizist, und wenn sie sich nicht gutwillig verhaften lassen, gibt er ihnen einen gesunden Hieb mit dem hölzernen Polizeiknüppel über den Schädel.
Der indianische Polizist weiß aber auch, dass der Caballero nicht fortrennt, auch wenn er seinen Gegner erschossen hat. Der Caballero hat gar keine Ursache wegzulaufen, denn er ist tapfer und trägt stets die Konsequenzen seiner Handlungen. Es ist ihm wohl bewusst, dass er in Mexiko lebt und dass ihm darum in einem kleinen Orte eines gelegentlichen Mordes wegen so gut wie nichts getan wird und er in den großen Städten immer einen Richter findet, der sich überraschend leicht davon überzeugen lässt, dass es sich nicht um einen Mord, sondern um Notwehr oder um gekränkte Ehre handelte.
Der Indianer kommt nicht so leicht davon. Darum versucht er auszubrennen, solange er dazu noch Gelegenheit findet. Don Rafael sagte in freundschaftlichem Ton: »Caballeros, siento mucho, es tut mir sehr leid, aber ich sehe mich genötigt, Sie beide in Haft zu nehmen wegen Störens des öffentlichen Friedens. Kommen Sie, bitte, mit mir hinüber zum Cabildo.« Don Martin fühlte sich schwach werden infolge des Messerstiches, den er im Leibe hatte. Darum musste er den Streit aufgeben. Und weil Don Ismael keinen Widersacher in ihm fand, beruhigte auch er sich.
Beide gingen langsam mit dem Sekretär auf den Cabildo zu, gefolgt von den indianischen Polizisten.
Don Martin, der Mexikaner, hatte Herberge im Cabildo genommen, war also Hotelgast des Secretarios, während Don Ismael, der Araber, in einer der Fondas im Portico übernachtete. »Pasen, Caballeros«, sagte Don Rafael, als er den beiden Verhafteten in die große Sala voranging. La Sala war Amtsstube, Wohnstube, Speisesaal und Schlafraum für die Gäste. Alles in einem. Der Raum war groß genug, dass gleichzeitig zwanzig Gäste darin ihr Lager für die Nacht aufschlagen konnten. Zuweilen übernachteten sogar dreißig darin.
Die Caballeros setzten sich nieder. Don Rafael brachte eine volle Flasche Comiteco herbei, und zuerst einmal wurden zwei Runden herumgereicht, ehe die Gerichtsverhandlung begann. Die vier Polizisten hockten gleich Statuen vor dem Eingang der offenen Tür, um, wenn auch ganz unfreiwillig von ihrer Seite aus, der Gerichtssitzung die erforderliche Dekoration zu verleihen. Während der zwei Runden und der folgenden Dreingabe einer weiteren Runde gutsitzender Maulspüler redeten die drei Caballeros über Wetter, schlechte Geschäfte, Pferdepreise und durchgereiste Bekannte. Dann sagte Don Martin: »Oigame, Señor Secretario, hat Ihre Señora Esposa nicht vielleicht etwas Verbandsstoff zur Hand? Ich vermute, ich muss den Stich ein wenig verstopfen.«
»So, Sie haben einen Stich weg, Don Martin?« sagte der Sekretär. »Lassen Sie ihn einmal untersuchen.«
Don Martin zog den Leibgürtel auf, zerrte das Hemd hervor, das nass von Blut war, und zeigte die Wunde her. Ein Europäer, der diesen Stich hätte, würde ihn wohl kaum selbst mit Kennermiene ansehen können, ohne an Hospital, Operation, Tod, Testament zu denken und dann in tiefe Ohnmacht zu fallen. Aber ein Mexikaner fällt einer solchen Kleinigkeit wegen nicht in Ohnmacht, viel weniger denkt er an Tod. Er besieht sich die Wunde mit großer Sachkenntnis, vergleicht sie mit den vielen anderen Stich- und Schusswunden, die er bereits überlebt hat und die er bei anderen gesehen hat, bohrt mit dem Finger in der Wunde herum, lässt sie von seinen Tischgenossen beurteilen und erlaubt ihnen, damit sie sich im Urteil nicht etwa irren, gleichfalls mit den Fingern in der Wunde herumzubohren, um die Tiefe und Weite festzustellen.
Das geschah auch hier. Und jeder der drei Herren gab sein Gutachten darüber ab, welche Zeit nötig sein würde, bis die Wunde zugeheilt sein werde. Arzt oder Hospital erwähnte keiner. Es wäre auch nutzlos gewesen, weil der nächste Arzt so weit wohnte, dass die Wunde sicher geheilt war, ehe der Verwundete den Arzt erreichte. Die Frau des Sekretärs brachte Baumwolle und eine Binde. Die Wunde wurde ausgewaschen, dann wurde Branntwein hineingegossen, und endlich wurde die Baumwolle hineingestopft und der Verband umgelegt.
Als das zu aller Zufriedenheit beendet war, sagte Don Rafael: »Nun müssen wir wohl die Sache hier amtlich untersuchen. Ich habe die für mich höchst unangenehme Verpflichtung, Sie beide zur Distriktshauptstadt zu bringen, damit das Gericht entscheidet.«
»Was soll denn das Gericht entscheiden?« fragte Don Martin. »Dass ich einen Stich von dem Hurensohn hier weghabe, das braucht kein Gericht entscheiden, das weiß ich. Ich habe das schwarz auf weiß oder meinetwegen rot auf braun. Und dass ich mir von diesem eiterbeuligen Türken nicht gefallen zu lassen brauche, dass er mir frech ins Gesicht schreit, meine Mutter sei eine Zehn-Centavos-Hure, dazu brauche ich kein Gericht und keine Distriktshauptstadt. Der Messerstich sitzt mir nun einmal drin, und den kann kein Richter wieder herausrutschen.«
»Aber warum sagt denn dieser Notzüchter unschuldiger kleiner Mädchen, dieses stinkige Kojotengeklöte nicht auch, was er zu mir gesagt hat?« fragte nun Don Ismael. »Ich brauche keinen Richter in der Distriktshauptstadt und seinen verfuckten guten Ratschlag, stillzuhalten, wenn dieser Raubmörder, Wegelagerer und Kinderschänder den Revolver schwingt, um mir ein halbes Dutzend Fünfundvierziger in die Eingeweide zu brennen. Was kann mir denn ein Richter nützen, wenn ich das halbe Dutzend geschluckt habe und es nicht verdauen kann?« Don Rafael mischte sich nicht in die Privatansichten der beiden Händler. Als er aber dann der Meinung war, dass sich beide genügend ausgeladen hatten und in ihrem reichen Wortschatz keine Reserven mehr besaßen, da sagte er: »Ich verstehe, Caballeros, dass Sie keinen Richter in der Distriktshauptstadt haben wollen. So können wir das ja hier unter uns ordnen. Justicia, Gerechtigkeit, muss sein im Lande. Das werden Sie mir zugeben, Señores. Don Ismael, da Sie hier in diesem friedlichen Örtchen einen Mann gestochen haben, muss ich Sie wegen schwerer Körperverletzung mit hundertfünfzig Pesos bestrafen und wegen Störung des öffentlichen Friedens mit fünfzig Pesos. Das ergibt zweihundert Pesos, die Sie hier zu bezahlen haben, oder ich muss Sie in Haft behalten, bis die Multa bezahlt ist.«
Don Ismael wollte dagegen etwas einwenden, jedoch Don Rafael sagte ernst: »Un momento, ich befinde mich in Amtshandlung.« Er wandte sich nun an Don Martin: »Sie, Señor, muss ich leider mit fünfzig Pesos Multa bestrafen, weil Sie in einem friedlichen Orte, ohne ersichtlichen Grund, den Revolver gezogen haben, um einen andern Mann zu erschießen. Und weil Sie, wie auch Don Ismael, den öffentlichen Frieden verletzt haben, muss ich Sie mit fünfzig Pesos extra festlegen. Das ergibt hundert Pesos, die Sie hier zu bezahlen haben, oder ich muss Sie in Haft behalten, bis die Multa entrichtet ist.«
Alle drei Herren, sowohl der Sekretär als auch die beiden Händler, wussten, dass dies nicht das letzte Wort in der Sache sei. Jetzt kam die Berufung, die von beiden sofort eingelegt wurde. Der Berufungsrichter war derselbe, der die Verurteilung ausgesprochen hatte. Dadurch vereinfachte sich das Gerichtsverfahren, und es wurde dem Staate eine Menge von Ausgaben erspart. Der Sekretär hatte das Recht, die beiden Händler zu verhaften und, wenn nötig, mit Gewalt zur Distriktshauptstadt zu schleppen. Aber er hatte auch das Recht, in dringenden Fällen die Angelegenheit am Orte selbst zu beenden. Dass der Fall dringend war, konnte nicht bestritten werden. Die beiden Händler waren auf Geschäftsreisen. Es hätte ihren Geschäften geschadet, hätten sie jetzt zur Distriktshauptstadt gehen müssen, um dort drei, vielleicht sechs Wochen zu warten, bis die Verhandlung kam. Wie immer sie auch die Sache ansahen, es war unter allen Umständen billiger und bequemer, alle Instanzen des gerichtlichen Verfahrens gleich hier durchzuwaten. Was die Strafen anbetraf, so tat es der ordentliche Richter in keiner Hinsicht billiger als der Sekretär. Hinzu kamen die Kosten des Verfahrens, die nicht gering waren. Freilich hätte der Sekretär den Vorfall ganz übersehen können. Mit seinen guten Freunden und politisch einflussreichen Beamten würde er es auch getan haben. Aber er musste leben. Und eine so gute Gelegenheit, eine ansehnliche Summe auf einen Hieb einzukassieren, fand sich nicht jeden Tag.
Er war aber auch Diplomat genug, sich niemand zum Feinde zu machen. Ob er immer Sekretär hier blieb, war fraglich. Wenn eines lieblichen Tages die Steuerkasse oder die Postkasse oder die Telegraphenkasse nicht stimmte, dann war die Herrlichkeit zu Ende. Dann mochte es geschehen, dass er nun selbst als Händler oder Viehaufkäufer im Staate herumziehen musste, und es mochte sein, dass Don Martin dann irgendwo Sekretär war und ihm heimzahlen konnte oder dass er den Beistand des Don Ismael benötigte. »Ich könnte Sie ja hier ganz frei gehen lassen, Caballeros«, sagte er, »aber ich darf es nicht. Ich bin hier im Amt. Es würde auf die übrigen Bewohner, selbst auf die Indianer, einen sehr bösen Eindruck machen, wenn ich den Vorfall übersehen würde. Ich könnte hier jegliche Autorität verlieren. Das geht nicht. Das werden Sie einsehen. Nur mit Gerechtigkeit und Unparteilichkeit kann die Welt regiert werden.«
Darauf sagte Don Martin: »Das mag ja alles ganz richtig sein, aber ich habe das Geld nicht. Hier in Haft kann ich auch nicht bleiben, denn ich muss zur Feria, zum Heiligenmarkt, zur Zeit kommen, oder ich erhalte einen schlechten Stand.«
»Ich schwimme in derselben dicken Suppe«, sagte Don Ismael, »ich kann keinen Tag verlieren, ich bin ohnedies schon, des gottverfluchten Weges wegen, eine halbe Woche zurück in meinem Geschäft.«
Als die Berufungsinstanz dann endlich, von einigen weiteren
Gläsern Comiteco geölt, entschieden hatte, ergab sich, dass Don Martin zwanzig Pesos Multa bezahlte und Don Ismael fünfzig. Don Ismael konnte bares Geld gerade jetzt nicht entbehren, weil er es zu seinen Handelsgeschäften auf der Reise brauchte. Er gab an Stelle des Geldes dem Sekretär ein überflüssiges Pferd, das, wie Don Ismael versicherte, hundertzwanzig Pesos wert sei. Don Rafael beeilte sich, das Pferd zu verkaufen, weil ihm mehr an gutem barem Gelde gelegen war als an guten Pferden. Es war dieses Pferd, das die Ursache war, dass ihn Don Gabriel nicht daheim antraf. |
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