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B. Traven - Die Rebellion der Gehenkten (1936)
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ZEHNTES KAPITEL

Obgleich allen Muchachos plötzlich die Beine schwer wurden, als sie fühlten, dass jetzt das Wort zum Vormarsch kommen würde, so waren sie dennoch alle einig, dass es kein Zurück, mehr geben könne. Die Brücken waren hinter ihnen abgebrochen. Die Ermordung der drei Capataces ließ für keinen mehr irgendeinen anderen Weg offen als den, den sie nun gehen mussten.
Im Augenblick, als Celso laut ausrief: »Adelante, Rebeldes! Vorwärts, Rebellen! Tierra y Libertad!«, da gingen sie nicht mehr, sondern sie sprangen voran wie eine Herde wilder Pferde, aber nicht, als würden sie gehetzt, sondern vielmehr als jagten sie, von Durst getrieben, auf das Wasser zu, das die vordersten in derselben Sekunde gewittert hatten.
Ohne es zu wissen, und ohne es zu wollen, gewannen sie durch dieses heftige Anstürmen die halbe Schlacht. Wären sie langsam herangekommen, so würden Don Severo und Don Felix geglaubt haben, die Muchachos kämen, weil sich etwas Ungewöhnliches ereignet habe, vielleicht ein Erddurchbruch mit dem Verschwinden einer Anzahl von Leuten oder das Auftauchen einer Gruppe von Tigern in einem der Camps. Die Montellanos würden dann angefangen haben zu reden und zu fragen, was los sei. Die Muchachos, nicht gewohnt im Reden, noch viel weniger geübt in Unterhandlungen oder gar Beratungen mit den Patrones, wären verwirrt geworden und hätten nicht gewusst, was zu sagen, was zu fordern und wie zu fordern. Ob das Ende sich anders zugetragen hätte, darf freilich bezweifelt werden.
Sie waren in einer Lage, wo nichts Geringeres angenommen werden konnte als die ganze Freiheit.
Don Severo stand in der Tür, den Rücken zum freien Platz gewandt, und sprach zur Oficina hinein.
Als die Muchachos rufend und schreiend auf den Platz stürmten, kehrte er sich ihnen zu, verstand aber, da sie meist indianisch sprachen, nur einzelne Worte und Phrasen.
»Por Dios, was ist denn da los?« Er rief das nicht zu den Muchachos, sondern zu seinem Bruder und den Capataces in der Oficina, die gerade ihre erste Ölung vor dem Abendessen vornahmen und noch die Gläser in den Händen hielten.
Don Felix und alle Capataces waren mit einem Satz im Portico.
Don Severo trat dicht an das Geländer und rief: »Was ist denn? Wozu kommt ihr denn alle her? Hättet noch eine Stunde arbeiten können. Noch lange nicht finster.«
»Perro! Hund!« rief einer aus dem Haufen. »Cabron! Hurenjunge!« schrie ein anderer. »Que chinguen todos sus madres, Cabrones!«
Dann wurde das Schreien und Rufen allgemein, ohne dass noch bestimmte Worte zu verstehen waren. Aber was aufgeschnappt werden konnte, war immer ein grässliches Schimpfwort der bösesten Sorte.
Don Severo wandte sich halb um zu den Aufsehern und fragte: »Was haben sie denn?«
»Hundefucker! Schweinefucker, Eselfucker!« Die Rufe sausten nur so los. Die Muchachos kamen bis dicht heran an dar, Hauptgebäude, wo die Männer jetzt alle zusammengedrängt am Geländer des Portico standen.
»Hast du denn hier etwas Neues angerichtet?« fragte nun Don Severo seinen Bruder misstrauisch.
»Gar nichts. Was soll ich denn getan haben? In den letzten Tagen ist keiner gehenkt und auch keiner gepeitscht worden. Seit dem Begräbnis Cachos, wo du sagtest, wir sollen für die nächste Zeit ein wenig langsamer vorgehen, haben wir hier niemandem etwas getan.« Darauf sagte El Faldon: »Con su permiso, Jefe, was denn mit dem Chamula und seinem Jungen, ich glaube er heißt Candido oder so?«
»Der? War ausgerückt. Aber ist nicht gehenkt worden. Auch nicht gepeitscht. Überhaupt ist er gar nicht hier. Er ist im Campo Nuevo.«
»Da ist aber seine Schwester«, sagte El Faldon.
»Was geht mich denn seine dreckige und verlauste Schwester an? Der habe ich nichts getan. Die ist heute morgen weggerannt. Gut. Aber was kümmert mich denn das?«
»Dann weiß ich um aller Heiligen willen nicht, was die hier alle wollen.«
Don Severo stand eine Weile und sah sich um. »Verflucht und gepfiffen, Sack und Klöten noch mal, da im Rücken haben wir ja noch eine Bande.«
Er hatte die Burschen erblickt, die von der Böschung herkamen und den Rückweg abschnitten.
»Ich glaube, Jefe«, sagte El Chato, »da ist etwas nicht in Ordnung.«
»Halt's Maul, du Eseldösel, das sehe ich selber, dass etwas nicht in Ordnung ist. Wenn doch die Säue nicht so blöde durcheinander brüllen wollten und endlich einer etwas sagen möchte, was ein Christenmensch verstehen kann. Ich höre nur immer Cabrones und Chingados.«
»Das ist eben das Verdächtige«, unterbrach ihn Don Felix. »Sie müssen hier ein paar der Capataces meinen. Zu uns würden sie nie in dieser Weise sprechen. He!«
Er drehte sich um zu den Aufsehern. »Heraus mit der Sprache! Wer hat denn da sein Süppchen gekocht? Hunderttausendmal haben wir euch gesagt lasst deren Weiber in Ruhe, wenn sie Weiber haben.«
El Faldon suchte unter den Capataces herum. »Wo ist denn El Doblado? Den sehe ich nicht.«
»Lass nur den in Ruhe. Der wird auf dem Wege hierher sein«, antwortete El Chato.
»Warum fragst du nach El Doblado so verdächtig?« Don Severo wandte sich an El Faldon.
»Der hat da mit einem Mädchen, das ein Muchacho mit hierher gebracht hatte, was vorgehabt. Er hat sie rübergekantet. Mit Gewalt.«
»Dann geht's dem Schwein ganz recht, wenn sie ihm den Schwanz kürzen. Sollen die Weiber in Ruhe lassen. Es sind ja genug Huren hier herum, dass jeder leicht auf seine Rechnung kommen kann.«
Don Severo hob die Hand und erwartete, dass die Muchachos schweigen sollten, weil er reden wolle.
Aber seine schöne Geste des Handhochhebens hatte ihre magische Wirkung verloren. Die Muchachos brüllten nur mit größerer Kraft.
»Hundesohn. Hurensohn. Schweinefucker. Mangozockler. Cotoreiter.« Don Severo fühlte seine Geste lächerlich werden. Sie erschien ihm jetzt kindisch und albern. Er stützte beide Hände in die Hüften und warf dabei seine Brust vor, als ob er zu einer gewaltigen Rede ausholen wolle.
Ein einziger brüllender Schrei tönte ihm entgegen. »Abajo los Cachupines! A Infierno los Ladinos!
Zur Hölle mit den Spaniern und den Patrones!«
Don Severo verlor nun zum ersten Male die Farbe im Gesicht. Er sah seinen Bruder an, der langsam zur Wand des Hauses zurücktrat. Er sah nach rechts, und er sah nach links und bemerkte, dass alle Capataces sich wanden und rekelten und alle versuchten, zu einer der beiden offenen Türen zu gelangen, die das Haus an dieser Seite aufwies.
Don Severo aber ging nicht zurück. Er blieb dicht am Geländer stehen, das in Höhe seines Gürtels abschloss. Einige
Male öffnete er den Mund, als wolle er sprechen. Dann wusste er plötzlich nicht mehr, wozu er seine Arme und Hände habe; denn er fegte mit ihnen an seinem Körper entlang, ohne zu wissen, wo er sie lassen sollte. Endlich brachte er beide Hände vor, und hielt sie übereinander gelegt, in der Mitte vor dem untersten Zipfel seines Unterleibes. Es sah aus, als ob eine Venus etwas beschützen wolle, was ihr der Künstler nicht anheften konnte, weil ihm die Gabe fehlte, es der Natur gleich zu machen. In dieser Geste sah Don Severo, weil er ja Mann war, ungemein lächerlich aus - wie ein verlegener Schüler, der auf einem Einsamkeitsvergnügen ertappt wurde. Don Severo fühlte abermals, wie unbeholfen er in dieser Geste wirke, als einer der Burschen schrie: »Halt ihn fest, du Hurensohn, dass er dir nicht wegfliegt.«
Ein brüllendes Gelächter der Muchachos folgte; einer überschrie es mit der Bemerkung: »Fliegt dir nicht fort, Cachupin. Brauchst ihn nicht mehr heute Nacht.« Und ein anderer brüllte auf der Spitze seiner Stimme dazwischen: »Brauchst ihn nicht mehr. Bist dann zu kalt.«
Endlich gelang es Don Severo, eine offene Stelle in dem Durcheinanderschreien der Muchachos zu erhaschen. Er rief: »Was wollt ihr denn, Muchachos?«
»Wir gehen heim! Wir arbeiten nicht mehr! Wir wollen Freiheit! Wir machen alle Peons auf den Fincas frei und alle Muchachos in allen Monterias! Tierra y Libertad!« Alles das wurde wild durcheinander gerufen. Nur auf den letzten Ruf vereinigten sich alle Stimmen.
Nun wurde Don Severo völlig bleich. Er ging einen halben Schritt zurück, wandte den Kopf zu seinem Bruder und sagte: »Nun weiß ich, was los ist. Das ist der Schrei, den die Revolutionäre aufgenommen haben. Tierra y Libertad! Es steht in den Briefen, die wir bekamen. Teufel noch mal, wen haben wir denn hier, der alles aufgewühlt hat? Keiner von unseren Muchachos hat das vorher gehört. Die kriegen keine Briefe, auch keine Zeitungen. Da muss einer sein, der lesen kann.«
»Wahrscheinlich der Andres, einer von den Boyeros«, sagte halblaut El Chato.
»Der ist es nicht«, widersprach El Faldon. »Der ist ruhig und arbeitet für seinen Vater die Schulden runter. ich glaube, es ist der, der das Chamulamädchen an seiner Seite hat. Celso heißt er. Er ist der Frechste hier. War kaum zu verprügeln. El Gusano hat mir gesagt, er glaube, Celso sei der, der nachts immer hinter ihm und El Ficaro her singt. Wo ist denn überhaupt El Gusano?«
Alle drehten sich um, einer den andern suchend.
Don Felix sagte heiser: »Da fehlen ja zwei von den Capataces.«
»Drei«, berichtigte El Faldon.
»Oiga, Muchachos!« rief nun Don Severo, alle seine Atemkraft in die Worte legend: »Hört her, Jungens, ihr schwemmt mir alle Trozas ab, und wenn sie alle abgeschwemmt sind, dürft ihr heimkehren. Palabra de honor! Ehrenwort!«
»Schitt in dein gottverdammtes Ehrenwort! Dass du daran erstickst, du Hund!« schrie Celso, mit seiner kräftigen Stimme den Tumult überschreiend. Es kam wie ein Trompetenstoß über den Platz gefegt. Er holte tief Atem und trompetete: »Zum Schitt deine gottverdammten Trozas! Mit deinen verfluchten Trozas werden wir dir die Hölle heizen, du Bestie, du Tiger. Vier Tonnen? Vier Tonnen? Kratze sie dir mit deinen verhurten Krallen heraus, verhurter Gachupin und Hundebrut einer verfilzten Hure!«
Das war zuviel für Don Severo. Wäre es möglich gewesen, so wäre er aufgeplatzt, so grimmig rot wurde er im Gesicht, als er schrie: »Du verlaustes Dreckschwein von einem läusefressenden Chamula, das sagst du zu deinem Patron? Auf deine eitrigen, vom Knochenfraß zerfetzten Knie, du Hund!«
Während er noch den letzten halben Satz herunterrasselte,
Wort für Wort herausschreiend, um jedem Laut die denkbar höchste Wirkung zu geben, zerrte er gleichzeitig den Revolver hervor und schoss auf Celso. Celso duckte sich wie gefällt. Gleichzeitig aber krachten wohl ein Dutzend Steine auf Don Severo los. Mehrere Steine trafen ihn eine halbe Sekunde früher, als er seine Maschinenpistole abzuknipsen vermochte, und der Schuss ging hoch über dem Haufen der Muchachos hinweg, in die Kronen der Urwaldriesen hinein, die den weiten Platz umsäumten.
Don Severo lag, von dem Anprall der Steine lang hingeworfen, auf dem Boden des Portico. Aber er war nicht betäubt. Noch viel weniger gab er den Kampf auf. Er zog erneut ab und schoss durch die Latten des Geländers.
Ob er jemanden getroffen hatte, oder ob er mit den weiteren Schüssen, die er feuerte, jemand traf, wusste er nicht, in den wenigen Sekunden, die dem ersten Schuss folgten, vollzog sich alles so ungemein rasch, dass er nur eins genau wusste, er feuerte sieben Schuss aus seinem Automatic. Und selbst das wusste er nur, weil er sieben Schuss im Magazin hatte und dann die Kammer plötzlich runterfiel.
Aber als das geschah, waren die Muchachos auch schon in der Oficina. Sie kamen in Haufen hereingestürmt, vom Platze aus und von der Böschung her. Keiner von denen, die Revolver hatten, feuerte auch nur einen Schuss. Mit Schüssen hätten sie ihre Erregung nicht kühlen können. Sie schlugen die Capataces mit Steinen, mit Knüppeln, mit Fäusten zu einem Klumpen zusammen. Und sobald einer niederbrach, sprangen sie auf ihn und traten ihn mit ihren Füßen ins Gesicht und in die Rippen, bis der Körper keine Bewegung mehr zeigte.
Als die Muchachos auf die Oficina losstürmten, war der einzige, der seine Pistole zog, Don Felix.
Die Capataces gehorchten treulich der alten Weisheit: »Wenn er die Macht besitzt, lässt bestialisch er die Hiebe spritzen; doch wenn der Wind sich dreht, die Macht sein Opfer hat, läuft ihm der Schitt aus allen Hosenritzen!« Wie gehetzte Ratten verkrochen sie sich in der Oficina, brachen Türen durch und versuchten, ohne ihre Revolver auch nur anzutasten, mit den Pferden zu entkommen. Sie versuchten es. Aber keiner entkam. Keiner fand auch nur einen Muchacho, der ihm geholfen hätte. Sie wurden zerstampft und zertreten, bis ihre Körper wie Brei waren. Was übrig blieb, zerrten und schleiften die Muchachos zurück in die Oficina.
Dann ging eine Anzahl der Muchachos umher und trieb Hunde und Schweine in die Oficina, wo die zermanschten Capataces lagen. Als sie genügend Hunde und Schweine darinnen hatten, verrammelten sie die Türen, damit die Tiere nicht entkommen und ihren Hunger außerhalb stillen konnten.
Don Felix zog seine Pistole, und es gelang ihm, einen Schuss abzugeben, der einen Muchacho ins Bein traf. Aber der Bursche hatte ihn auch schon angesprungen, ihn umklammert und zu Boden gerissen. Der zweite Schuss ging hoch in die Decke. Und das war der letzte Schuss. Denn gleich darauf hatte der Muchacho ihm den Automatic entwunden. Der Sieger sprang auf, schwenkte die Pistole über sich in der Luft herum und rief: »Jetzt habe ich auch einen, und einen der schönsten.«
Don Felix versuchte, sich langsam aufzurichten und kroch dabei dem Winkel zu, den eine kurze Wand des Portico mit der Wand des Hauses bildete. Aber der Muchacho, der ihm die Pistole abgenommen hatte, sprang mit einem Satz abermals auf ihn los, so dass Don Felix in den Winkel gepresst wurde, wie eingestopft.
Mit seiner Linken hatte der Muchacho Don Felix an der Gurgel und mit seiner Rechten, die die Pistole umkrallte, holte er jetzt zu einem mächtigen Schlage aus, um Don Felix damit auf den Schädel zu knallen.
Der erste Hieb traf nicht gut, weil Don Felix mit einem Arm, den er freibekam, den Hieb auffangen konnte.
Als der Muchacho aber jetzt zum zweiten Male ausholte, schrie hinter ihm jemand: »Hermano mio, Manitoi! Bruder, mein Bruder, erschlage ihn nicht!' Der Bursche wandte sich um und sah Modesta einige Schritte hinter sich stehen.
Im selben Augenblick kam Celso, der soeben dabei geholfen hatte, die Türen der Oficina zu verrammeln, wo die Hunde und Schweine zu rumoren begannen. Er trat dicht hinter Modesta. Nur für eine Sekunde zeigte sein Gesicht einiges Erstaunen. Dann verstand er. Sie war ja seiner Rasse und seines Stammes. In seinem Blute fühlte er, dass Modesta handelte, wie es ihr Urinstinkt von Gerechtigkeit und Harmonie alles dessen, was auf Erden ist und was auf Erden geschieht ihr zu tun gebot.
»Bruder, mein Bruder! Schlage mir diesen Mann nicht tot!« rief sie wieder, als der Muchacho immer noch auf seinem Opfer kniete und zu zögern begann. In dem Schrei des Mädchens lag ein starker Tonfall von Ekstase, so wie ihn diese Männer selten, wenn überhaupt jemals, hörten.
Mehr und mehr Burschen, zu Ende mit anderen Aufräumungen, kamen inzwischen in den Portico, der sich so rasch füllte, dar, die nachkommenden Muchachos außen herum bleiben mussten, weil hier kein Platz mehr war. Zwischen Modesta und dem Winkel, in dem Don Felix zusammengeklumpt kauerte und der Muchacho auf ihm kniete, befand sich niemand sonst. Alle anderen Muchachos hatten sich hinter ihrem Rücken zusammengedrängt oder standen in dichten Haufen außerhalb des Portico ihr zur linken Seite.
Modesta trug noch immer weiter nichts am Leibe, als die beiden zerfetzten Hemden, die ihr Celso hatte geben können. Sie war barfuss. Die Hemden hatte sie so um ihren Leib gewürgt, dass sie ihre Beine bis dicht an die Hüften hinauf nackt ließen; denn um die Hemden als Kleid gebrauchen zu können, musste sie diese Fetzen in gleicher Weise legen und falten, wie es die
Nachbarn ihres Stammes tun, die Indianer von Vitstan.
Ihre Füße und Beine waren aufgeritzt und von blutverkrusteten Schrammen bedeckt, die sich das Mädchen auf seinem wilden Rennen durch den Dschungel geholt hatte. Ihre Arme, nackt bis zu den Schultern, waren ebenso zerrissen, zerkratzt und verschrammt wie ihre kräftigen Beine, deren Fleisch fest war wie harter Kork. Die Hemdfetzen waren oben um die Brust gewürgt, so dass sie nur gerade ihre jungen, kleinen Brüstchen bedeckten, jedoch die Schultern bis zu den ersten verstohlenen Ansätzen ihrer Brüste frei lagen.
Ihr langes, tiefschwarzes, hartsträhniges Haar hing ihr wirr um den Kopf. Mit den Packen, die bei der traurigen Cayuco-Cberfahrt verloren gingen, waren auch ihre Kämme und Haarbänder abhanden gekommen.
Modesta war nicht hoch gewachsen; sie hatte nur die übliche Größe der Frauen ihrer Rasse. Aber ihr Körper war wohlgeformt, harmonisch und ebenmäßig in seinen Gliedern. Darum erschien sie höher, als sie wirklich war; und wenn sie unter den Frauen ihres Stammes stand, gehörte sie zu den größten.
Hier unter den Burschen freilich erschien sie auffallend mädchenhaft. Aber als sie jenen Ruf hinausschrie, wuchs sie in merkwürdiger Weise. Es mochte sein, dass, um ihrem Schrei volle Wirkung zu geben, damit der Muchacho an seiner Tat gehindert würde, sie sich ungewollt auf die Zehen erhoben hatte. Und mit jedem weiteren Satze, den sie nun rief, hob sie sich erneut und gab so ihrer Gestalt eine wirkungsvolle Erscheinung, der sie sich freilich nicht bewusst war.
Alles, was nun Modesta sagte, und wie sie es sagte, war so dramatisch, dass es auf einen Nicht-Indianer, der diesem Vorgang beigewohnt hätte, tief erschütternd gewirkt haben würde. Um so erschütternder, um so dramatischer und eindrucksvoller, weil sowohl Modesta, als erst recht allen
Muchachos, die hier versammelt waren, auch das geringste Gefühl für dramatische Wirkung fehlte, und noch viel mehr darum, weil ihr und ihnen allen selbst auch nur die kleinste Absicht abging, irgendwelche dramatische Wirkung zu erreichen.
Die Rede Modestas war aber nicht nur wohlgesetzt, sie wurde auch hinausgeschmettert ohne ein einziges Stocken. Keiner der Muchachos freilich konnte wissen, dass Modesta diese Rede in sich, in ihrer Seele und in ihrem Herzen, Wort für Wort eingegraben hatte seit jener Stunde, die sie als die traurigste ihres jungen Lebens betrachtete, und immer als ihre traurigste betrachten würde, so lange sie lebe. Aber nicht mit einem Gedanken hatte sie daran gedacht, dass die Gelegenheit, wo sie diese Rede halten könne, so rasch und unerwartet kommen würde.
Modesta war sich der Rede und der Wirkung, die sie auf die Muchachos ausübte, ganz unbewusst.
Sie redete, weil sie nicht länger schweigen konnte, weil die Empfindung in ihr überströmte und sie über sich selbst hinaus hinwegriss.
»Erschlage mir diesen Mann nicht!« rief sie zum dritten Male. »Ich muss ihn lebendig haben. Lebendig muss ich ihn haben, damit ich weiterleben kann!«
Der Muchacho, der auf Don Felix kniete, stand auf, trat von seinem Opfer zurück und kam zögernd, Schritt um Schritt, rückwärts gehend bis dicht an Modesta heran. Er blickte ihr starr in die Augen.
Aber Modesta sah ihn nicht. Sie stierte nur auf Don Felix, der, als erwarte er von dem Mädchen einen Angriff, sich noch tiefer in den Winkel hineinquetschte. Er kroch ganz in sich zusammen, so dass man nur noch seinen Kopf und seine breiten Schultern sehen konnte.
Der Muchacho schlich sich an Modesta vorbei und mischte sich unter die übrigen, die sich dichter und dichter um den Portico drängten, jedoch in Armeslänge vom Rücken des Mädchens entfernt blieben.
Modesta hob ihren rechten Arm, streckte ihn aus in der Richtung auf Don Felix, und mit dem Zeigefinger deutete sie auf sein Gesicht.
»Du! Du! Du! Dass du meinen Bruder und seine Jungen in der Nacht mit einem Besoffenen den Fluss hinaufgeschickt hast und der kleine Junge ertrank, obgleich dich mein Bruder bat, ihn am Morgen zu senden, das vergebe ich dir!«
Der Muchachos bemächtigte sich ein beklemmendes Schweigen. Sie verstanden nicht, was das Mädchen wollte. Einige wurden unruhig und tuschelten: »No, warum vergeben? Erschlagen!« Aber die ihnen nahe standen, hießen sie schweigen. Aus dem Ton, wie Modesta sprach, fühlten sie heraus, dass die Rede erst begonnen hatte und mehr folgen würde.
Nach einer Atempause von einigen Sekunden, ohne den auf das Gesicht des Don Felix gerichteten Zeigefinger zu senken, sprach Modesta aufs neue: »Dass du den kleinen Jungen ertrinken ließest, das vergebe ich dir, denn du bist der Herr und befiehlst, und wir müssen gehorchen!«
»No mas Patrones, keine Herren mehr!« riefen einige Burschen dazwischen.
»Calma, Ruhe!« riefen andere.
Modesta hörte das nicht, was hinter ihr gesagt wurde. Sie hielt mit ihrem starren Blick die Augen des Don Felix fest, als wollte sie ihn verzaubern. Er bekam langsam, jedoch allen sichtbar, eine entsetzliche Furcht, die sich deutlich auf seinem Gesicht zu zeigen begann.
Ihre Stimme anhebend, sagte Modesta nun: »Dass du mich heute huren wolltest, mit Gewalt und ohne mich darum zu fragen, und mich nackt fortrennen ließest, allen Männern hier zu Gesicht, auch das vergebe ich dir; denn du bist ein Mann und ich bin eine Frau.«
Celso, der ja ihr Schicksal besser kannte als sonst einer hier, begann nun zu verstehen, wohin Modesta zielte. Er lachte glucksend auf. Gleichzeitig fühlte er Stolz, dass Modesta ihn gewählt hatte, sie zu beschützen. Rasch und leise sagte er zu den Burschen, die ihm am nächsten standen: »Lasst sie reden, lasst sie nur reden, sie weiß ganz genau, was sie will.«
Modesta hatte ihre Rede abermals unterbrochen. Wieder holte sie tief aus zu neuem Atem. Wieder streckte sie ihren Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger auf den immer mehr in sich zusammen. kriechenden Den Felix so heftig, als wolle sie ihn mit diesem Zeigefinger gegen die Wand spießen.
»Dass du meinem lieben Bruder Candido, der vor dir gefehlt hatte, die Ohren abschneiden ließest und ihn schändetest, selbst das vergebe ich dir; denn er war geflohen, hatte seinen Kontrakt gebrochen, und du, sein Herr, hattest das Recht, ihn zu bestrafen, hart und grausam wie die Strafe auch war.«
Nun endlich verstanden alle Muchachos, dass der Höhepunkt ihrer Anklage nahe gekommen war.
Zugleich überkam alle das Gefühl, das allen Menschen, gleich welcher Rasse und welchen Standes, in großen Momenten plötzlich ins Bewusstsein und zur Kenntnis kommt: dass sie einer Handlung beiwohnen, die eines Tages von weittragender Bedeutung sein wird, auch wenn sich diese Handlung nur auf das Leben und die Schicksale einer begrenzten Gruppe von Menschen beziehen sollte.
Modesta, bislang nur ein einfaches, schlichtes Mädchen ihrer Rasse, von den Muchachos bis heute kaum je richtig gesehen, weil sie so ganz wie alle übrigen Indianermädchen war, wuchs nun vor den Augen der Muchachos zu einer Heldin empor. Und weil solches Hervortreten einer Frau, hier sogar eines unverheirateten Mädchens, unter diesen Leuten so ungewöhnlich ist, dass es für sie unbegreiflich wird, fühlten die
Burschen, dass sich ein Wunder vollzog. Es erschien für sie eine neue Heilige Jungfrau, ihren Gefühlen um so näher, nicht nur weil sie ihrer Farbe und ihres Fleisches war, sondern weil sie eine Anklägerin, eine Rächerin, ein Soldat der Rebellion wurde.
Dass dies geschah, geschehen konnte, gab den Männern bei weitem mehr als die blutige Überwältigung ihrer Herren und Peiniger die Gewissheit, dass eine neue Zeit über das ewige Erbland der Indianer dahinzusausen begonnen hatte.
Die Muchachos verfielen, als Modesta nun wieder innehielt, in einen Rausch des Taumels, eines Tumultes, der religiöse Begeisterung war. Sie sahen vor ihren Augen das Gelobte Land liegen. Sie sprangen herum, umarmten sich, tanzten, schrieen und jauchzten: »Arriba, Muchacha! Viva, Modesta! Hoch, Chamulamädchen!«
Diesen Tumult versuchte Den Felix zu einem Fluchtversuch auszunützen. Zur Linken hatte er die lange Wand des Gebäudes, zur Rechten war nur eine kurze Wand, die als Schutz gegen einfallenden Regen und gegen Stürme angefügt worden war. Dieses Stück Wand war nun etwa zwei Meter lang, dann begann das Geländer, das nur wenig über einen Meter hoch war und leicht genommen werden konnte.
Geduckt schob er sich einige Zoll weit näher zum Ende der kurzen Wand hin. Aber dann sah er zwei harte, tiefbraune Hände auf dem Geländer, die einem Burschen zu gehören schienen, der einen klaren Kopf behalten hatte, offenbar zu keinem anderen Zweck, als ihn zu bewachen. Felix überlegte rasch und kam zu der Ansicht, dass es sicherer sei, noch zu warten. Das Mädchen hatte seine Rede noch nicht beendet. Sie stand immer noch an der gleichen Stelle, von wo aus sie begonnen hatte, ohne auch nur einen Schritt vorwärts oder zurück zu gehen.
Don Felix rechnete sehr gut, wenn er beschloss, auf das Ende der Rede warten. Er sagte sich, dass dann wahrscheinlich die
Begeisterung am höchsten steigen würde, und er eine weit bessere Aussicht habe zu entkommen als jetzt, wo der Tumult bereits wieder abzuebben begann, weil die Muchachos sahen, dass Modesta zu weiteren Worten anhob.
Tief schöpfte sie Atem, als wäre sie unter dem Einfluss einer Macht außerhalb ihres Willens. Ihr Gesicht zuckte in den Muskeln, als kämpfe sie einen Anfall von Ohnmacht nieder. Das währte einige Sekunden, aber es dauerte lange genug, um die höchste Wirkung zu erzielen.
»Aber!« rief Modesta nun mit aller Kraft ihrer Stimme. »Aber dass du dem kleinen Jungen, der dir nichts zuleide getan hatte, dir, du Teufel, nichts zuleide tun konnte mit seinen kleinen, winzigen Händen und mit seinen unschuldigen Gedanken; dass du, obgleich ich vor dir auf der nackten Erde lag und mich dir zu allem anbot, obgleich ich, um der Gottesmutter willen, dich um Gnade anflehte aus der Angst meines Herzens heraus; dass du, Ladino und Gachupin, Bestie und Satan, obgleich der kleine Junge vor dir kniete und seine winzigen Hände aufhob zu dir und zu dir betete wie zu einem Gott, dass du ihm, um einen Fehler seines gepeinigten Vaters zu vergelten, seine kleinen Ohren abschnittest, ihm, der ein langes Leben vor sich hatte, und ihn schändetest für sein ganzes Leben, ihm ein Gesicht gabst, als wäre er der elendste Sünder unter dem Himmel, das vergebe ich dir nicht! Und wenn ein gerechter Gott über uns wohnt und ein winziges Stückchen seines Mitleides und seiner Gnade auf uns, seine vergessenen Kinder, auszuschütten gewillt ist, und er meine inbrünstigen Gebete zu hören geneigt ist, so flehe ich ihn an, dir, Bestie, nie zu vergeben, so ewig lange auch die ewige Ewigkeit währen mag.
Du sollst der verlorenste unter den verlorensten Sündern sein für alle Ewigkeiten, so wahr und so wahrhaftig wie ich mich in Andacht und Verehrung verneige vor der Allerheiligsten und Allerreinsten Jungfrau, die meine Schmerzen kennt und weiß, denn sie sah ihren Sohn leiden, wie ich den kleinen Jungen leiden sah, dessen Mutter ich wurde, als ich mit meinem freien Willen seinem Vater folgte, um ihm meine Liebe und meinen Schutz zu geben. Ich speie dich nicht an, weil du zu tief gesunken bist, als dass dich ein Weib anspeien könnte. Ich rühre dich nicht an, weil meine Hände stinken würden bis in die letzte Stunde meines Daseins. Ich verfluche dich nicht, weil mein Fluch dann keine Wirkung mehr haben würde, wollte ich jemanden verfluchen, der mich ärgerte. Ich lasse dich der Hölle und der Verdammnis und der Rache eines gerechten Gottes so wie du jetzt bist. Denn so wie du jetzt bist, wird auch die gütige Mutter Gottes im Himmel dir das letzte, kleinste, winzigste Fünkchen von Mitleid in Ewigkeit versagen!«
Modesta stockte, als käme sie plötzlich zur Besinnung. Sie sah auf, sah sich um, und schien zum ersten Male zu bemerken, dass hier noch andere Leute waren als nur Don Felix. Sie ließ ihren Arm sinken. Es war, als ob sie fallen würde. Aber im selben Augenblick straffte sie sich in ihrem ganzen Körper und begann zu zittern.
Bisher hatten ihre Worte zwar laut und schallend geklungen, jedoch warm und volltönend, und es war angenehm, ihnen zuzuhören.
Jetzt aber, wie zu sich kommend und wie zurückkehrend auf die nüchterne Erde, warf sie mit einem heftigen Ruck beide Arme hoch und schrie, gellend und kreischend, mit weitem und hässlich sich formendem Munde: »Muchachos, ahora es suyo el tigre de las monterias! Jungens, jetzt gehört die Bestie euch! Nehmt ihn. Er ist euer. Er hat keine Seele, kein Herz. Ist kein Mensch und war nie ein Mensch. Eine Bestie. Lasst ihn jetzt die Ohren des kleinen Jungen bezahlen, Muchachos! Die Ohren muss er bezahlen, die er stahl. Bezahlen muss er! Bezahlen! Pagar! Pagar! Debe pagar las orejas!«
Modesta war, während sie das hinausschrie, herumgesprungen nach allen Seiten, um die Männer zur Handlung anzufeuern, als riefe sie alle zum Kriege auf. Die Burschen, immer noch wie gebannt dastehend, kamen in Bewegung und riefen: »Viva muchacha! Arriba Modesta! Viva la Chamulita! Arriba nuestra Heroina! Viva Modesta, la Rebelde! Viva la Rebelion! Tierra y Libertad!«
Infolge des wilden Schreiens der Männer wachte Modesta nun völlig auf. Sie schwankte und fiel gegen das Geländer, wo mehrere Burschen, die dort standen, sie auffingen. Sie richtete sich auf, schlug beide Hände vor ihr Gesicht, kauerte, zu Boden fallend, völlig in sich zusammen und begann laut und bitterlich zu weinen.
Die Muchachos waren verwirrt. Sie redeten aufeinander ein und schoben sich durcheinander, ohne aber Modesta nahe zu kommen und sie aufzurichten.

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