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Fjodor Gladkow - Zement (1925)
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VIII. Heiße Tage

Arbeiterblut

Die Tage — sonnendurchglühte, brennend heiße Tage — waren angefüllt mit Sorgen, mit rastloser Geschäftigkeit, und dass es auch Nächte gab, merkte man kaum. Schweißtriefend rannte Gleb in das Gewerkschaftskomitee, in das Bezirksparteikomitee (sofort eine allgemeine Parteiversammlung einberufen!), in die Eisenbahnergewerkschaft (Genossen, mehr Tempo beim Transport der Kanister in die Ölraffinerie!), in die Werkverwaltung, in die Maschinenhallen — dort wartete Brynsa, dort warteten die Dieselmotoren, betriebsbereit.
Luchawa traf er im Gewerkschaftskomitee gewöhnlich nicht an: den hielt es nicht in den vier Wänden seines Arbeitszimmers. Jeden Tag, von früh bis spät, war er unterwegs, jagte von einer Gewerkschaftsgruppe zur anderen, von Betrieb zu Betrieb und nahm sich an Ort und Stelle all der kleinen Nöte in der Produktion und im Leben der Arbeiter an. Er hielt Sondersitzungen ab, schlichtete Konflikte, putzte mit saftigen Kraftausdrücken die Bummelanten herunter und vermerkte die Helden der Arbeit am roten Brett. Er stürmte in die Behörden, die Wirtschaftsorgane, wirbelte Papiere auf wie Bettfedern, befahl, forderte, feuerte an, rief Stürme der Begeisterung hervor. Und war nie erschöpft, kannte keine Übermüdung — nur in seinen Augen flackerten unauslöschliche, fiebrige Flämmchen.
Auf diese Art gewann er die Herzen der Arbeiter!
Shidki empfing Gleb immer voll Freude, und seine asiatischen Nasenflügel bebten vor Erregung. Gleb aber, den Helm im Nacken, schrie wütend: „Wann rücken wir endlich diesen Ratten vom Volkswirtschaftsrat auf den Leib, Genosse Shidki? Auf Schritt und Tritt wird dort sabotiert, für jeden Dreck verliert man nicht nur Stunden, sondern Tage und Wochen. Zur Abschreckung sollte die Tscheka einen von diesen Halunken am Schlafittchen kriegen. Lass dir den Schramm kommen und zieh ihm sein gelbes Fell ab."
Shidki kam hinter dem Tisch vor und fasste Gleb freundschaftlich unter.
„Wie du schäumst, du Himmelsstürmer! Wozu soviel Feuer? Du verbrennst noch, klappst zusammen. Hast du denn so rasch vergessen, wie du in der Armee gearbeitet hast? Man muss zu führen verstehen — organisieren und seine Leute einteilen. Nimm dir ein Beispiel an Badjin."
„Nimm dir selbst ein Beispiel an Badjin, wenn du neidisch auf ihn bist."
„Ich will nicht."
„Und ich habe größte Lust, all diese Schramms und Badjins aus ihren Arbeitszimmern zu jagen und in die lebendige Arbeit einzuspannen. Überleg mal, Genosse Shidki, was für ein Mechanismus das ist: Die Werkverwaltung ist an den Volkswirtschaftsrat geschmiedet, der Volkswirtschaftsrat schiebt alles auf die Werkverwaltung ab, die Werkverwaltung auf den Volkswirtschaftsrat, der Volkswirtschaftsrat aufs Industriebüro und die Hauptverwaltung Zement... Kein Aas findet sich in diesem Durcheinander zurecht. Und da soll einen nicht die Wut packen, da soll man nicht schäumen? Mit welchem Genuss würde ich diese Asseln zertrampeln!"
„Lass nur, Freund, die kommen auch noch dran."
„Aber wie viel Kräfte werden umsonst verpulvert — Kräfte und Zeit. Und dabei ist das so ein kostbares Material!" Shidki lachte und nahm Gleb bei den Schultern.
„Mein Lieber, ich schäume ja selbst, in mir brennt's ja auch. Vielleicht hab ich dich deshalb so lieb, du Satan. Aber darum geht's ja gar nicht, Verehrtester: man darf sich nicht verzetteln. Vergiss nicht, dass wir Kommunisten sind: wir vollenden die Revolution, wir bauen den Sozialismus auf. Und das ist ein gewaltiger, furchtbarer Kampf. Auf unserem Weg stehen Millionen Hindernisse: offene und verborgene Feinde und alle möglichen Überbleibsel. Außerdem noch die Zerrüttung und der Hunger. Alles muss von vorn angefangen und auf neue Art angefasst werden. Das ist kein einfacher Wiederaufbau — nein, wir verwirklichen die Lebensordnung, von der die Menschheit jahrhundertelang geträumt hat."
„Darum schäume ich ja auch und werde weiterhin schäumen, Genosse Shidki. Anders geht's nicht."
Shidki lachte. „Du wärst bereit, die ganze Welt aus den Angeln zu heben."
„Streit ich nicht ab. Tun wir, und dabei bleibt's!"
„Hol's der Teufel, Tschumalow! Was für ein Glück, in unserer Zeit zu leben und zu kämpfen! Verkörpern wir doch die Zukunft in der Gegenwart! Wir tragen diese Zukunft in uns. Und wie gut zu wissen, dass überall Lenin mit uns ist, dass wir seine Zeitgenossen sind, dass wir ständig seinen Atem spüren."
„... und, Genosse Shidki, dass wir deshalb verantwortlich sind für jeden unserer Schritte und für jede Minute. Denn Glück ohne Verantwortung gibt es nicht."
Gleb verließ Shidki jedes Mal in gehobener Stimmung und fühlte sich erfrischt und gestärkt.
Im Werk hatten die Elektromonteure damit begonnen, die Stromanlage instand zu setzen. In den Arbeiterwohnungen wurden wieder Glühbirnen (aus Werkbeständen) eingeschraubt, und in ihren glänzenden Kugeln spiegelten sich freundlich die Fenster. Bewegt lächelten ihnen die Frauen und die Kinder zu, und freudiges Vorgefühl löschte das Hungergrau von den Gesichtern der Arbeiter.
In der Schlosserei wurden keine Feuerzeuge mehr fabriziert. Dort gab es andere Arbeit: Unter einem Wirbel metallischen Knirschens, Pfeifens, Zischens und Klirrens erwachten die Maschinenteile zu neuem Leben. Über den Hof — aus der Schlosserei in die Maschinenhallen und wieder zurück — gingen Arbeiter in blauen, kupfrig schillernden Blusen. Nur Loschak und Gromada waren nicht dabei: sie hatten ihre besonderen Sorgen — die Betriebsgewerkschaftsleitung. Auch dort, im Kellergeschoß des Verwaltungsgebäudes, in den Zimmern voller Zementstaub und Machorkaqualm („Rauchst du Dübek, rennt der Teufel weg") herrschte Andrang. Die Leute kamen und gingen, die Tür stand nicht still. Man bemühte sich um höhere Rationen, die Arbeitskräfte wurden verteilt. Der Bremsberg war in aller Munde. Täglich wurden die Zuweisungen an flüssigem Brennstoff erwartet.
Gleb lief von einer Werkhalle in die andere, packte mit an, schnitt, sägte und bohrte, als wollte er sich selbst überholen.
Sooft er zu Brynsa hineinsah, empfing der ihn mit Gebrüll.
„Hoho, Heerführer! Die Sache läuft. Brennstoff, Brennstoff, Heerführer! Nur Brennstoff, sonst nichts! Wenn du ihn in den nächsten zwei Tagen nicht herangeschafft hast, jage ich mich mitsamt meinen Dieselmotoren in die Luft." Zwischen den Maschinen hantierten lärmend seine Hilfskräfte, die ihm alle ähnlich sahen. Er zwinkerte ihnen zu, nickte zu ihnen hinüber und bleckte vergnügt die Zähne.
„Siehst du? Die Jungs arbeiten mit Feuereifer. Das ganze sinnlose Geschwätz und der Müßiggang der letzten Jahre sind vergessen, Freund. Das ist eben die Macht der Maschinen. Solange die Maschinen leben, kann man nirgendwohin vor ihnen fliehen. Die Sehnsucht nach der Maschine ist stärker als die Sehnsucht nach der Liebsten."
Dann brüllte er wieder durch das ganze Gebäude:
„Brennstoff, Brennstoff, mein lieber Freund! Zehn Tankwagen! Das genügt fürs erste. Zehn Tankwagen!"
Zusammen mit Kleist, den Technikern und den Steinbrucharbeitern besichtigte Gleb die Schlucht und die überwucherten Abbauplätze. Gewichtig, schweigsam, mit tiefliegenden Augen untersuchte Kleist die alten Bremsberge.
Zwei Techniker vom früheren Stamm folgten ihm gewohnheitsmäßig mit zwei Schritt Abstand und stürzten auf den leisesten Wink von ihm mit sklavischem Diensteifer vor. Er sah Gleb nicht an und schien ihn überhaupt nicht zu bemerken, doch Gleb fühlte, dass nur er für Kleist existierte. Und wenn Kleist mit den Technikern sprach, wusste Gleb, dass jedes Wort ihm galt.
Der Beschluss lautete: Der Haupttransportweg ist instand zu setzen, ein Bremsberg zwischen der höchsten Abbaustelle und dem achthundert Meter hohen Pass zu errichten.
Als Kleist eines Tages, über Pläne und Kostenanschläge gebeugt, in seinem Arbeitszimmer saß (das Fenster war längst geöffnet), sagte er, sich müde zurücklehnend: „Wenn Sie dafür garantieren, Tschumalow, dass die Voranschläge vollständig realisiert werden und uns die Arbeitskräfte sicher sind, dann können wir es in einem Monat schaffen."
Gleb lachte.
„Da gehen unsere Meinungen aber auseinander, Hermann Hermannowitsch. Was heißt hier — ein Monat! Höchstens zehn Arbeitstage! Fünftausend Arbeiter stehen zu Ihrer Verfügung. Material bekommen Sie durch die Werkverwaltung, sobald Sie es anfordern. Kein Monat, nur zehn Tage, Genosse Technischer Leiter."
Kleist sah ihn nachdenklich an und lächelte zum ersten Mal.

Die Böttcherei war ein nutzloser Schuppen; ihr Glasdach war von Steinen durchlöchert, auf dem Rahmenwerk und den unbeschädigten Scheiben lagen Stäbe, Dauben, Bruchstücke von Fassreifen und sonstiger Unrat umher. Die Hobelbänke, die Transmissionen und die zähnefletschenden Kreissägeblätter ruhten unter einer Rostkruste und waren bereift — mit dem Staub vom Gebirge und von der Chaussee. Alles war wie in Nebel getaucht, deshalb sahen wohl Hobelbänke, Sägen und halbfertige Fässer blaugrau aus und durchsichtig wie Eis.
Im Vorbeigehen tat Gleb auch einmal einen Blick in die Böttcherei. Früher hatten hier Hobelspäne golden geleuchtet und die Böttcher zwischen Spänen und sprühendem Sägemehl sich um die Wette an ihren Hobelbänken zu schaffen gemacht.
Gleb ging nicht weiter. Öde und Leere mochte er nicht. Eines Tages würde es auch hier wieder soweit sein: Hobelspäne leuchten auf, sprühendes Sägemehl wirbelt, und die Sägen haben sich wieder auf ihre jungen Lieder besonnen.
Er wollte schon umkehren, da entdeckte er plötzlich Sawtschuk. Mit dem Rücken zu Gleb saß der Böttcher vor seiner alten Hobelbank, betrachtete sie von allen Seiten, schlug mit der Faust darauf, um ihre Haltbarkeit zu prüfen; die Hobelbank knarrte und hustete wie ein gebrechlicher Greis. „So, so, Alte! Noch nicht vergessen? Spürst noch?"
Er ging zu den Sägen, strich mit seiner breiten Pranke über die eisgrauen Sägeblätter, und sie antworteten ihm, wie aus dem Schlaf heraus, mit fernen Seufzern.
„Na, Mädels. Lasst hören, wie euer Lied gehn wird. Wartet nur, bald kommen die Mannsbilder — werden Fässer mit euch machen — aber nicht für die Weiber zum Kohleinsalzen, sondern für alle Länder der Erde. Sie enthalten keinen Kohl, sondern Zement zum Bauen. Na, na, ihr Jungfern, nun weint mal nicht!"
Als Gleb die Böttcherei lautlos verließ, lächelte er und warf einen zärtlichen Blick zurück auf die Tür.
Eines Tages, als Steine und Schienen in der Sonne zergingen und die verödeten Hallen im Staub schwiegen, schob eine Lokomotive, Dampfwolken gegen den Himmel stoßend, eine lange Reihe schmutziger Tankwagen mit Benzin und Öl vor sich her.
Aus dem Tor kamen ihr in langen Blusen, schreiend und mit den Händen winkend, die Arbeiter entgegen.

Sprung über den Tod

Ins Exekutivkomitee war per Telefon die dringende Nachricht durchgegeben worden: der Vorsitzende des Gebietsexekutivkomitees, Borstschi, habe den Chef der Bezirksmiliz, Saltanow, der ihm beim Zwangseintreiben der Lebensmittel helfen sollte, mit der Nagaika verprügelt, und Saltanow habe auf Borstschi geschossen.
Dem Bericht nach hatte Saltanow mit einem Trupp Rotarmisten Razzien auf Kosaken und Städter durchgeführt, die Kornkammern geplündert und das letzte Vieh aus den Ställen getrieben.
Als die vollbeladenen Wagen dann unter dem Geleit der Rotarmisten zum Exekutivkomitee fuhren, hatte die Militärkapelle einen Marsch geblasen. Und die Bauernweiber waren hinterhergegangen, hatten ihre Köpfe gegen die Wagen geschlagen und mit den brüllenden Kühen und blökenden Schafen um die Wette geheult. Unter dieser Musik war es dann im Gebietsexekutivkomitee zum Krach zwischen Borstschi und Saltanow gekommen.
Badjin las die Nachricht mit der ihm eigenen Ruhe, und der Sekretär Peplo, der auf Befehle wartend neben dem Tisch stand, lächelte verklärt.
„Diese Idioten! Da sind Teufel und Beelzebub zusammengestoßen. Lassen Sie mir sofort einen Wagen schicken, Genosse Peplo. Ich fahre selbst hin und untersuche die Sache."
„Jawohl."
„Ach, rufen Sie doch im Bezirksparteikomitee an, Genossin Tschumalowa möchte gleich herkommen. Sie will in dieselbe Staniza fahren — ich werde sie hinbringen."
„Jawohl. Soll ich sagen, dass Sie und Genossin Tschumalowa zusammen fahren werden?"
Der Sekretär Peplo sah Badjin mit zuckenden Lidern an und lächelte.
Der Vorsitzende blickte hoch, und der Sekretär trat zurück.
Sobald Peplo das Zimmer verlassen hatte, stand Badjin auf, reckte die Arme und ging ein paar Mal hin und her. Seine sonstige Schwerfälligkeit und die furchtgebietende Starrheit waren wie weggewischt, er war schlank und kräftig, hatte elastische Muskeln und trug den Kopf trotzig erhoben.
Im Frauenausschuss lief die Mechowa auf dem Korridor Dascha nach, hakte sich bei ihr ein und begleitete sie zum Ausgang.
„Hör mal, Dascha, wollen wir an deiner Stelle nicht lieber eine der Delegierten hinschicken? Du bist jede Woche unterwegs, und sie sitzen immer zu Hause rum. Auf den Landstraßen häufen sich die Überfälle. Sooft du wegfährst, habe ich Angst um dich."
„Red keinen Unsinn, Genossin Mechowa. Was, zum Teufel, wären wir für Funktionäre, wenn uns bei der geringsten Gefahr gleich das Herz in die Hosen fiele?"
Besorgt sah Polja sie an und blieb stehen. Dascha schüttelte ihr herzlich die Hand und ging rasch über die Straße, ihre selbstgemachte Aktentasche schwingend (darin steckte alles, was sie brauchte — Papier und Brot).
Vor dem Eingang zum Exekutivkomitee wartete eine schwarzlackierte Droschke; der bärtige Kutscher auf dem Bock rauchte aus lauter Langeweile und putzte sich mit dem breiten Rockschoß die Nase.
Auf dem Boulevard, inmitten von Kehrichthaufen, wälzten sich zwei kleine Jungen im Staub. Sie hatten zerrissene Kittelchen an, ihre Gesichter waren geschwollen. Staubwolken stiegen über ihnen auf und verteilten sich in den graubraunen Akazienzweigen.
Dascha blieb an der Droschke stehen, blickte auf den Boulevard, dann zum offenen Fenster von Badjins Zimmer und dann wieder auf den Boulevard.
Wessen Kinder sind das? Was haben sie hier zu suchen? Sie sehen ja ganz verwahrlost aus. Warum greift die Miliz nicht ein? Wo hat die Jugendfürsorge ihre Augen und Hände? Oder ist diese Stelle selber verwahrlost wie diese armen Kinder?
Sie trat an den Zaun zum Boulevard und sah der Balgerei der kleinen Schmutzfinken zu.
„Na, Kinder, kommt mal her! Da, nehmt. Ganz frisches Brot. Ihr habt doch sicher Hunger, ihr Knirpse!"
Die Jungen spitzten die Ohren und sprangen rasch auf. Die Tante lächelte so freundlich und vertrauenerweckend, sie sah gar nicht schrecklich aus. Und vor allem — sie hielt ein großes Stück Brot in der Hand. Das Kopftuch jagte Angst ein (man kannte sich längst aus, welche Macht in so einem roten Tuch steckte), aber das Brot war frisch und betäubte einen schon von weitem mit seinem süßen Geruch.
„Ja, ja. Kommt her! Und dann steckst du uns ins Heim. Kennen wir. Schöner Köder!"
Der eine Junge schüttelte sich in seinen Lumpen und wollte davonlaufen. Dascha lachte und brach das Brot in zwei Hälften.
„Na, kommt schon, ihr Ferkelchen! Warum soll ich euch ins Heim stecken? Nehmt das Brot und haut ab."
Die Tante war so lustig und freundlich (wenn bloß das rote Tuch nicht gewesen wäre!), und das Brot war goldgelb wie Honig. Die Kinder hatten Vertrauen und hatten es auch wieder nicht.
Sie sahen einander an, gingen furchtsam auf Dascha zu und streckten ihr von weitem die Hände entgegen. Sie gab jedem ein Stück Brot und wollte ihnen über den Wollkopf streichen, doch die beiden nahmen Reißaus.
Njurka — sie wohnte im Kinderheim, aber war sie besser dran als diese halbnackten Jungen? Einmal hatte Dascha gesehen, wie Njurka mit anderen Kindern auf dem Hof hinter der Volksküche in einem Abfallhaufen wühlte. Damals hatte sie das Gefühl gehabt, Njurka sei bereits gestorben, sie, Dascha, sei keine Mutter mehr, denn durch ihre, Daschas, Schuld habe Njurka hungern und leiden müssen. Ihre gelegentlichen Liebkosungen im Kinderheim hatte sie nicht mehr als mütterliche Zärtlichkeiten empfunden, sondern als leere Gesten. Sie hatte Njurka auf den Armen vom Abfallhaufen ins Kinderheim getragen, und ihr Herz war fast zersprungen vor Weh. Badjin stand auf dem Bürgersteig.
„Steig ein, Genossin Tschumalowa — wir fahren." Ohne auf sie zu warten, sprang er in die Droschke, die unter seinem Gewicht federte. Dascha setzte sich neben ihn und spürte den elastischen Druck seiner kräftigen Hüfte.
Badjin sah sie nicht an — er war verschlossen, kalt und abweisend wie gewöhnlich.
„Mit dem Auto käme man da nicht durch. In den Bergen werden wir auch mit diesem Klapperkasten nur im Schneckentempo vorankommen. Du hast doch keine Angst vor Banditen? Ich habe nichts bei mir außer meiner Pistole. Sollen wir nicht lieber ein paar berittene Rotarmisten mitnehmen?''
Dascha warf einen Blick auf ihn — hatte er selbst Angst? Aber sein Gesicht war ruhig und unangenehm selbstbewusst.
„Ich weiß nicht, wie du es hältst, Genosse Badjin, aber ich fahre gewöhnlich ohne Geleit."
„Los, Genosse Jegorow!"
Genosse Jegorow aber sah den Vorsitzenden erschrocken an, wollte etwas sagen, traute sich jedoch nicht. Er hüstelte und gab den Pferden die Zügel.
Solange sie durch die Stadt fuhren, schwiegen sie. Dascha fühlte sich ungewöhnlich wohl, es machte ihr Freude, sich von der weichen Federung schaukeln zu lassen.
Vom Bürgersteig nickte Sergej ihnen zu und lächelte freundschaftlich. Shuk kam daher; als er die beiden sah, blieb er verdutzt stehen.
Badjin verzog angewidert die dicken Lippen.
„Ich kann diesen Kerl nicht ausstehen."
„Hochmut, Genosse Badjin. Genosse Shuk ist ein guter Dreher und ein zuverlässiger Kommunist."
„Genosse Shuk ist einfach ein Tagedieb und Meckerer. Solche Brüder sollte man unnachsichtig aus der Partei stoßen."
„Nein, Genosse Badjin: Shuk ist ein guter Genosse, er sagt offen die Wahrheit. Aber weil er euch den Spiegel vors Gesicht hält, seid ihr wütend auf ihn. Ist das etwa richtig? Und stimmt es denn nicht, dass ihr verantwortlichen Funktionäre die Arbeiterklasse nur von eurem Schreibtisch aus seht?"
„Du irrst dich. Der Schreibtisch eines verantwortlichen Funktionärs ist der Arbeiterklasse näher als so ein Ränkeschmied wie zum Beispiel dein guter Genosse Shuk. Denn alles geht über seinen Schreibtisch, von komplizierten staatspolitischen Fragen bis zum alltäglichen Kleinkram. Am Schreibtisch des verantwortlichen Funktionärs habe ich auch deinen Mann kennen gelernt."
Die Stadt lag bereits hinter ihnen. Sie fuhren durch ein Tal: links lagen Weinberge, rechts ein Wald, noch kahl, jedoch schon von grünem Schimmer überhaucht. Die Baumstämme waren in ständiger Bewegung: die vorderen liefen rückwärts, die hinteren glitten, einander überholend, mit dem Wagen vorwärts, und es war, als drehe sich der Wald, als sei er erregt, als lebe er sein eigenes, dunkles Leben.
„Nun, wie steht's jetzt bei dir in punkto Familienglück? Auf der einen Seite — eheliche Pflichten: Bettgemeinschaft und schmutzige Wäsche; auf der anderen — Parteiarbeit.
Ihr habt doch auch, glaub ich, Nachwuchs? Da wirst du wählen müssen: entweder häusliche Sorgen oder Frauenausschuss. Dein Mann fordert gewiss noch Sonderrechte. Ein Mensch mit Prinzipien wie er."
Dascha rückte in die Ecke.
„Mein Mann lebt sein Leben und ich meins, Genosse Badjin. In erster Linie sind wir Kommunisten."
Badjin lachte und legte ihr die Hand aufs Knie. „Du redest wie alle Kommunisten, nur klingt es bei dir etwas glaubhafter: bei dir kommt es wirklich von innen. Ich weiß schon längst, wie schwer es ist, eine gemeinsame Sprache mit dir zu finden."
Dascha stieß seine Hand von ihrem Knie und rutschte bis ans äußerste Ende des Sitzes.
„Kommunisten, Genosse Badjin, sollten immer eine gemeinsame Sprache sprechen." -
Badjin zog sich wieder in sich zurück und sackte zusammen. Er rückte von Dascha ab.
Bis zur Schlucht, die mit ihren murmelnden Bächen und bunten Geröllhaufen, von Felsen und Gestrüpp beschattet, wie in Morgendämmerung dalag, schwiegen beide und schauten nach verschiedenen Seiten. Doch Dascha spürte, wie erregt Badjin war; sie wusste, dass er mit sich rang, sich nicht entschließen konnte, in Gegenwart Jegorows über sie herzufallen. Sie selbst bebte in banger Erwartung. Käme es jetzt dazu — sie könnte sich seiner toll gewordenen Muskeln nicht erwehren: die auf der holprigen Straße schwankende, schlingernde Droschke entzog ihrem Körper den sicheren Halt.
Die Schlucht zog sich über drei Werst hin, dann führte eine ausgefahrene Straße durch ein breites Tal zu der in Gärten versunkenen Staniza.
Felsen und Steilhänge türmten sich bis in den Himmel. Überall lagen in gewundenen Gebirgsfalten heruntergerutschte Erdmassen, Stein- und Geröllhaufen; die Bergrippen glühten wie flüssiges Metall. Unten, über dem Wald und dem struppigen Strauchwerk aber zitterte und wallte nebliger Dunst. Der Himmel über Wald und Bergen sah wie ein blauer Fluss aus, und die Wolken glichen weißen Eisschollen.
Die Straße wand sich zwischen Felsen und Steinblöcken bald nach rechts, bald nach links, bald nach oben, bald nach unten. Vor ihnen lag ein dichter Wald mit einer Wirrnis von Lianensträngen, von Efeu und Gestrüpp, doch kaum fuhren sie in sein Unterholz hinein, da wichen der Wald, die bemoosten Steine und die von Tränen unterirdischer Gewässer benetzten Felsblöcke nach rechts und links aus, stürzten hinab und krochen die Felswände hinauf. Oh, was für eine schreckliche Höhe! Dascha schloss die Augen, und der Atem stockte ihr, wenn es steil abwärts
ging.
Genosse Jegorow beugte sich auf seinem Bock zurück und reckte den Bart.
„Genosse Vorsitzender, wir hätten doch lieber Reiter mitnehmen sollen. Hier werden sogar die Hamsterer jeden Tag überfallen, erst recht aber ... Das war ein Fehler, Genosse Vorsitzender."
Zugeknöpft saß Badjin ruhig in den Polstern der Droschke. Die Schwere seines Körpers bedrückte und peinigte Dascha, und zugleich war es ihr ganz angenehm, zu wissen, dass sie an diesem Mann im Augenblick der Gefahr einen sicheren Halt hatte.
Badjin grinste und bohrte seinen Blick in Jegorows Bart. „Feigheit ist noch gefährlicher als Banditen, Genosse Jegorow. Nimm die Zügel fester in die Hand und mach deine Sache. Die Straße ist gar nicht so schlecht."
Jegorow duckte sich ängstlich. Er schnalzte den Pferden nicht mehr zu, zerrte nur an den Zügeln, drehte den Kopf nach rechts und links und verschluckte sich an seinem Speichel.
Sie fuhren noch eine Werst. Dascha spürte, wie Badjins Muskeln zuckten, wie angestrengt er gegen seine Erregung
und die schwelende Begierde ankämpfte. Er holte tief Luft und umfasste Daschas Schultern.
Dascha krümmte sich, um sich aus seinem Arm zu befreien, Badjin jedoch presste sie fest an sich, und für einen Augenblick sah sie seinen riesigen Kopf und das furchterregende Gesicht vor sich.
Da wurden sie nach vorn geschleudert, die Droschke machte einen Satz, der Wald krachte und schien aufzulodern.
Dascha sah, wie Jegorow auf dem Bock hin und her schwankte und dann kopfüber zur Seite fiel, auf das Vorderrad. Im gleichen Moment ließ Badjin Dascha fahren, sprang nach vorn und riss die Zügel an sich. Die Pferde stampften aufgeregt und zerrten an der Deichsel. „Halt! Hände hoch! Haben wir euch Schweinehunde!"
Hinter dem Felsen hervor und aus der schwarzen Leere des Dickichts kletterten mit Gewehren in den Händen Männer in Tscherkessenröcken und zottigen Pelzmützen.
Dascha starrte nur die Pelzmützen und Wolfsaugen an. Dicht an ihr vorbei lief stolpernd ein weißblonder, barhäuptiger Kosak auf die Pferde zu, geiferte und heulte vor Lachen.
Dascha vermochte noch in einem knappen Atemzug zu rufen: „Badjin, fahr zu!" Dann warf sie sich auf den Kosaken und rollte mit ihm über den Schotter in den Straßengraben.
Im nächsten Augenblick wurde sie von einer unerträglichen Last niedergedrückt, als wälze sich eine Riesenmenge über sie hinweg, tanze mit den Absätzen auf ihr herum und quetsche sie in einen schmalen Spalt. Ob sie geschlagen worden war, ob es eine Schießerei und Verfolgungen gegeben hatte — sie erinnerte sich an nichts mehr. Als sie zu sich kam, stand sie an einem Felsen, und eine ganze Horde hüllte sie in den stickigen Dunst nasser Wolle. Man zerrte sie hin und her, drehte ihr die Handgelenke um und riss sie an den Haaren.
„Ein Weib! Nur ein Weib ist uns in die Finger geraten. Man schämt sich direkt, sich an so was die Hände dreckig zu machen, hol sie der Teufel."
Die Droschke war nicht mehr da, und nur fern aus der Schlucht drang ein Geräusch herüber, als wenn Steine den Abhang eines Steinbruchs hinunterrollten. Kaum hörte Dascha diesen fernen Lärm, war sie sofort bei vollem Bewusstsein. Das musste Genosse Badjin sein, weit weg auf der Straße. Genosse Badjin war unversehrt.
Jenseits der Straße, Dascha gegenüber, lag Jegorow, in seinen Kutscherrock verwickelt, mit dem einen Bein auf einem Stein, der nackte Fuß steckte in einem zerfetzten Schuh; seine Mütze war mitten auf die Straße gerollt und zertrampelt. Die Haare, ein Ohr und ein Büschel Bart waren blutverkrustet.
Hinter einem Felsen schnaubte und stampfte ein Pferd, klirrte Zaumzeug. Mit verzerrten Gesichtern kamen von dort einzelne Kosaken oder rannten dorthin.
„Herführen! Zum Teufel, wollen mich die Leute zum Narren halten?"
Ein schnurrbärtiger Kerl blieb vor dem Felsen stehen und nahm, die Hand an der Pelzmütze, den Ellenbogen gewinkelt, Haltung an.
„Ein Weib, Herr Oberst. Am besten hängt man sie an die nächste Esche — und fertig. Das Luder hat Lymarenko beinahe die Rippen gebrochen. Mit Verlaub, Herr Oberst."
„Herführen, Maul halten! Rindvieh! Statt ihrer werde ich euch alle aufknüpfen lassen, Scheißkerle. Nur auf Weiber versteht ihr euch, Halunken!"
Mit den umgehängten Gewehren einander stoßend, schleifte die Meute sie über Schotter, Gräben und Gras und stellte sie vor einen Gaul, der wütend schnaubte und die Augen rollte. Dascha roch den feuchten, heißen Pferdeschweiß.
Sie stand hochaufgerichtet und sah den Oberst an, und
der Oberst, der Ähnlichkeit mit einem Kalmüken hatte, sah sie ebenfalls an. Er trug einen Tsdierkessenrock mit silbernem Gürtel und silbernen Schulterstücken, dazu eine Kosakenmütze aus Lammfell. Sein Gesicht war schmutzig und seit Tagen nicht rasiert. Der lange schwarze Schnauzbart verdeckte Lippen und Kinn. „Loslassen! Zwei Schritt zurück!"
Dascha fühlte sich leicht und frei. Der Gestank nach nasser Wolle war mit einem Male verschwunden, und es wurde ihr klar, dass sie zwischen diesem Offizier zu Pferd und seiner Horde ganz allein war. Das Kopftuch war ihr im Getümmel heruntergerissen und zertrampelt worden. Bleich, mit stockendem Herzen stand sie da, von unbezwingbaren Schauern überlaufen. „Bubikopf ... Kommunistin?" Dascha sah ihn an und schwieg. „Wer ist in der Droschke mit dir gefahren?" „Genosse Badjin, der Vorsitzende des Exekutivkomitees." „Exekutivkomitee? Was ist das für eine Sprache?" „Russisch, was denn sonst?"
„Du lügst. Russisch klingt anders. Das ist euer Jargon — halb jiddisch, halb gaunerrotwelsch." „Bei uns in Sowjetrussland gedeihen keine Gauner." „Das ist mir neu. Wieso denn nicht?" „Wir erschießen sie, ohne mit der Wimper zu zucken." Hinter ihr brach einmütiges Gelächter los. „Gib's ihr! So ein Satansweib! Schwatzt wie 'ne Elster, verdammt noch mal!"
Der Oberst wandte keinen Blick von Dascha und grinste. „Sind alle bei euch solche Kommunisten wie dieser Gouverneur? Gehört es sich denn, seine Kameraden im Augenblick der Gefahr im Stich zu lassen?" „Stimmt nicht. Das hat er nicht getan, ich selber ..." Die Backenknochen des Offiziers zuckten, sein Schnurrbart geriet in Bewegung. Er schmunzelte. „Ach so! Du hast auf unsere Dummheit spekuliert?"
„Ihre Sache, wie Sie's auslegen. Ich hab's getan — und basta!"
Der Oberst hieb mit der Nagaika durch die Luft und betrachtete Dascha mit dem Lächeln eines kalmükischen Götzen.
Dascha aber empfand in der ganzen Zeit eine ungewöhnliche Leichtigkeit. Ihre Brust atmete gleichmäßig und ruhig, sie hatte einen freien Kopf — ohne jeden Gedanken, ohne Mitleid mit sich selbst, ohne Angst. Nie hatte sie sich wohl freier und jünger gefühlt als in diesem Augenblick. Doch merkwürdig: warum zog es sie mit solcher Macht zu jener einsamen Fichte oben auf dem Felsen (oh, wie hoch!), ganz dicht unterm Gipfel? Warum sah sie zum ersten Male, dass die Luft über den Berghängen so dicht war und in lila Schattierungen spielte? Aber nicht die Fichte war die Hauptsache, auch nicht die Luft, sondern etwas anderes, Vertrautes, Beflügeltes, dem sie keinen Namen geben konnte.
„Du redest kühn daher, Bubikopf. Bist auch recht guter Dinge. So einen Fall erlebe ich zum ersten Mal. Eure Leute winden sich wie die Würmer, wenn sie mir in die Hände fallen. Vielleicht rechnest du damit, dass ich dich laufen lasse, weil du eine Frau bist. Aber da irrst du dich — ich lass dich sofort hängen."
„Mir doch ganz gleich, damit habe ich auch gerechnet." Die Wangen des Obersten schwollen an und bebten, und die kleinen Augen sprühten vor Lachen.
„Ich bin euer unversöhnlicher Feind und vernichte jeden Kommunisten ohne Erbarmen. Aber du hast dich bis jetzt nicht übel gehalten. Ich bin neugierig, wie du unter den Strick gehst."
Ohne sie aus den Augen zu lassen, hob er die Nagaika über den Kopf.
„Baistrjuk!"
Aus der Menge löste sich ein bärtiger Kosak in einer schwarzen, zottigen Pelzmütze. Er war ganz Ergebenheit, Stummheit und Massigkeit.
Er fasste Dascha an der Schulter; auch seine Hand war schwer und schwammig. Statt von ihr geschoben zu werden, schleppte Dascha diese Hand, und sie erschien ihr ungeheuerlich. Immer noch kann Dascha den Blick nicht von der kleinen Fichte losreißen, die da (oh, wie hoch!) in der Feuerluft schwebt. Es riecht so gut, so berauschend nach Frühling, und die aufspringenden Knospen an den Bäumen leuchten wie Glühwürmchen und schimmern in allen Regenbogenfarben. Ein Bächlein murmelt zwischen den Steinen, und es klingt wie Kinderplappern. Doch die schwere Hand des Kosaken zieht unnachgiebig nach unten. Daschas Kopf ist so klar, kein Gedanke ist darin, nur lila schillernde Luft. Sie möchte sich gern auf etwas besinnen, aber weil die fremde Hand so schwer ist, kann sie es nicht. Dabei muss sie sich doch darauf besinnen, es ist etwas sehr Wichtiges, Unaufschiebbares, etwas außergewöhnlich Sinnvolles. Was für eine herrliche Luft — Frühling! Und die kleine Fichte ist am Davonfliegen — hat sich über den Abgrund geneigt und die Flügel ausgebreitet (oh, wie hoch!). Ja, ja, das ist das Wichtigste. Genosse Badjin lebt. Sie aber, Dascha, ist ein Grashalm: sie war — und ist nicht mehr.
Neben ihr schnaufte und schnaubte der zottige Kosak, doch sie sah ihn nicht, sah nur Luft und dichte lila Tiefen.
Da raschelte irgendwo, weit weg, hinter ihrem Hals der Strick, doch sie achtete nicht darauf, merkte nicht einmal, wie der Kosak ihr einen Stoß versetzte.
Doch, doch, Gleb. Aber das war ja so lange her! Lieber, dummer Gleb! So groß und vertraut — und so dumm. Da ist er vorbeigehuscht — und es tut ihr nicht leid. Ach, so weit! Lila Tiefen, und die Fichte, und der glühende Tropfenfall in den Frühlingsbäumen.
Wieder knisterte irgendwo der Strick, und wieder legte sich die schwere Hand auf ihre Schulter.
Sie ging zurück. Vor ihr hing der Felsblock, dahinter dampfte das Dickicht des Waldes, und hinter dem Wald, tief im Luftraume, ragte zum Himmel ein grüner Berg.
Der Oberst blickte Dascha starr und mürrisch entgegen, nur die Bartspitzen zuckten. Außer ihr und diesem Menschen auf dem Pferd war niemand da.
„Alle Achtung, Bubikopf! Das ist dir nicht übel gelungen. Besonders stark, da du eine Frau bist. Kannst gehen. Kein Hund wird dich anrühren."
Er holte mit seiner Nagaika aus und schlug voller Wucht auf das Pferd. Ein dumpfes Gefühl im Magen — das Pferd verschwand mit zwei Sätzen im Gebüsch.

Ein flaumig' Küchlein

Dascha wusste später nicht, wie sie aus der Schlucht herausgekommen war. Es blieb ihr nur eine einzige deutliche und freundliche Erinnerung an den Weg: die grauen, kleinen Vögel mit ihren Häubchen. Sie flatterten ein Stückchen vor und badeten dann im Staube. Hoben ihr die Häubchen entgegen, pickten und flatterten wieder auf.
Sobald sich jedoch die Weite der Vorberge mit ihren flachen Hügeln und Tälern vor ihr auftat, überkam sie die Angst. Einsam, schutzlos inmitten dieser Einöde, fühlte sie erst jetzt jenes blinde Entsetzen, das einem die Besinnung raubt, so dass man kopflos davonstürzen möchte in der verzweifelten Hoffnung auf Rettung. Sich irgendwo ins Gebüsch verkriechen, sich in eine von Unkraut überwucherte Grube fallen lassen, um dort auf friedfertige Menschen zu warten, die doch einmal vorbeigehen oder vorbeifahren müssten. Doch alles ringsum war wüst und tot. Sie glaubte, Hufgetrappel hinter sich zu hören — eine Unzahl Hufe —, und sie lief, was ihre Kräfte hergaben, keuchend vor Angst. Sie blickte sich fortwährend um, doch der Weg war menschenleer. Und sobald sie, schwach vor Erschöpfung, stehen blieb, verstummte das Hufgetrappel jedes Mal, und klingende Stille umfing sie.
In mehreren Linien türmten sich hinter ihr die Berge mit ihren Steilwänden, Felsen und grünen Hängen; wie breite Spalte gähnten zottig bewaldete Schluchten. Fern, im flimmernden Dunst, lag jenseits der Hügelwellen die Staniza, überragt von der weißen Kirchturmsäule mit einem schwarzen Auge unter ihrer Spitze. Hinter der Staniza und den Vorbergen tauchten die nebelhaften Umrisse einer zackigen Gebirgskette auf.
Dascha erklomm mühsam einen Hügel. Der Ort sah von weitem unbewohnt und finster aus.
Dann stolperte sie über einen Stein und fiel in den Straßenstaub. Schmerzen im Knie brachten sie wieder zu sich. Hinkend ging sie an den Rand und setzte sich neben dem Acker ins Gras.
Hoch oben — über ihrem Kopf — blauer Himmel und Wolken; rings — dunstige Hügel im Schweigen unendlicher Weiten.
Rechts und links grünte junges, durchsichtig zartes, goldbestäubtes Gras, leuchteten gelbe Löwenzahnblüten — wie kleine eben ausgeschlüpfte Kücken sahen sie aus. Sie bewegten sich und lachten und waren so hübsch und anheimelnd.
Als Dascha die Blüten erblickte, schrie sie auf und brach in Tränen aus. Gleich darauf beruhigte sie sich wieder. Sie wurde still, konnte jedoch nicht aufstehen: die Kräfte versagten ihr. Sie blieb eine Weile liegen, erhob sich dann und ging hinkend weiter, aber nicht auf der Straße, sondern daneben im Gras.
Da vernahm sie zum ersten Mal den Gesang einer Lerche. Sie sah zu den durchsichtigen Federwolken auf, holte tief Luft und lächelte.
In dröhnendem Galopp sprengten hinter dem nächsten Hügel Rotarmisten hervor, das Gewehr über dem Rücken. Allen voran jagte ein Dunkelgesichtiger in schwarzem Leder.
Die Rotarmisten schrieen und schwenkten die Arme.
Auch Dascha schrie und lief Badjin entgegen.
Badjin zügelte das Pferd und sprang, noch ehe es stehen geblieben war, aus dem Sattel. „Dascha!"
Mit beiden Händen fasste sie Badjins Rechte, lachte und weinte. Die Rotarmisten umringten sie und schrieen alle durcheinander, und keiner verstand sein eigenes Wort.
Einer von ihnen, ein Bursche mit breiten Backenknochen, großem Mund, mit Augen, die tief unter der Stirn lagen, sah Dascha lange an; dann stieg er schweigend vom Pferd und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Genossin! Da hast du ein Pferd. Steig auf. Komm, ich helfe dir."
Dascha brach wieder in Lachen aus, griff nach der Hand des Rotarmisten und drückte sie ebenso fest wie Badjins Hand.
„Ich danke euch, Genossen! Ich habe gar nicht gewusst... Wie gut ihr doch seid! Meinetwegen ein ganzes Regiment loszujagen."
Die Rotarmisten, bemüht, ihre Pferde im Zaum zu halten, sahen Dascha mit lachenden Augen an. Der mit dem großen Mund hob sie in den Sattel, zog einem anderen Rotarmisten den Steigbügel vom Fuß und schwang sich zu ihm auf die Kruppe des Pferdes.
Badjin ritt neben Dascha; den ganzen Weg über stützte er sie besorgt bei steilen Anstiegen, beobachtete mit prüfendem Blick Sattelgurt, Zaum und Zügel. Dascha sah seine Fürsorge und lächelte ihm freundlich zu. „Nun, was ist mit dir gewesen? Erzähle!" „Ach, nichts, Genosse Badjin. Die haben sich ein bisschen aufgespielt und mich dann laufen lassen. Was sollen sie sich auch groß mit Weibern abgeben? Gezaust haben sie mich ein wenig — das ist alles."
Badjin aber sah sie mit wissendem Blick prüfend an und lächelte weich (ein solches Lächeln hatte noch niemand an dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees gesehen). Bis zur
Staniza ritt er ganz dicht neben ihr und griff immer wieder nach ihrem Sattel — besorgt, ob Dascha auch richtig sitze.
Auf dem Kirchplatz vor dem Gebietsexekutivkomitee stand eine ganze Wagenburg. Die Pferde schlugen mit den Schweifen, die Kühe drehten ihre gehörnten Köpfe hin und her. Wie auf dem Markt drängten und brüllten die Kosaken, heulten und schrieen die Weiber. Kleine Jungen mit und ohne Pelzmützen spielten Reiter und machten Bockspringen. Ganz in der Nähe — auf dem Hof des Komitees oder auch in der Menge — grölte eine betrunkene, heisere Stimme:
„Ein flau-mig' Küch-lein ohn' Strumpf und Schüch-lein ..."
Die Stimme krächzte und keuchte, sang aber weiter, stieß immer wieder dieselben Worte aus.
An einem Tisch saß Borstschi, im Tscherkessenrock, mit einem Dolch im Gürtel, und kratzte geschäftig mit der Feder auf einem Blatt Papier. Er sah Dascha etwas frech entgegen und lachte.
„Aha, Schwein gehabt, der Tod war gerade nicht bei Laune..."
Badjin trat jugendlich forsch an den Tisch und setzte sich. „Genosse Borstschi, laß Saltanow rufen."
Borstschi lief elastisch, mit weiblicher Grazie zur Tür. „Genosse Saltanow, der Vorsitzende des Exekutivkomitees will dich sprechen."
Dann kehrte er mit derselben Grazie an seinen Platz zurück.
Saltanow trat ein und blieb vor dem Tisch stehen. Badjin sah ihn finster und durchdringend an und sagte kalt durch die Zähne: „Genosse Saltanow, du bist von deinem Auftrag entbunden und verhaftet. Morgen fährst du mit Borstschi in die Stadt. Ich übergebe die Sache dem Revolutionstribunal."
Saltanow hob die Hand an die Mütze, stand stramm und starrte Badjin aus weit aufgerissenen Augen an. „Ich habe doch alle Direktiven streng befolgt."
Badjin wandte sich ab und sah schweigend auf Borstschis Mütze.
„Genosse Borstschi, bring die Musik da draußen zum Schweigen. Sieh zu, dass wir den Zwischenfall zu unseren Gunsten ausnützen. Die Feindseligkeit gegen uns muss mit der Wurzel ausgemerzt werden. Gehen wir auf den Platz."
Als sie zu dritt — Badjin, Borstschi und Dascha — zu den Wagen gingen, starrten ihnen die Kosaken in ihren Pelzmützen, die Bauern und Bäuerinnen aus tiefeingesunkenen Augen entgegen. Die Wagen standen schon ganze vierundzwanzig Stunden hier, und ebenso lange hatten sich die Bauern um sie herumgedrängt, nachts wie die Zigeuner an Lagerfeuern hockend.
Badjin sprang auf einen Wagen und überblickte die Menge. „Bürger Kosaken und Bauern!"
Neben ihren Wagen begannen die Weiber zu schreien und zu kreischen und übertönten seine Worte.
Auch Borstschi sprang auf den Wagen, fuhr mit dem Arm durch die Luft und rief mit lauter Soldatenstimme: „Ruhe, ihr Satansweiber! Hört zu, was der Vorsitzende des obersten Exekutivkomitees euch zu sagen hat. Still, Bürger, ihr seid doch nicht besoffen."
Borstschis Anschnauzer (Borstschi, der war ja einer der Ihren, ein Kosak aus ihrer Staniza!) beschwichtigte die Menge.
„Bürger Kosaken! Für sein gesetzwidriges Vorgehen habe ich den Chef der Bezirksmiliz verhaftet. Spannt eure Pferde ein und fahrt mit eurem Hab und Gut nach Hause. Die Zusatzlieferung, die die Regierung von euch für die Rote Armee verlangt hat — für eure eigenen Söhne also, die gegen die Pans und Generale kämpfen —, diese Lieferung wird euch erlassen. Ich will offen mit euch reden. Nicht
der Krieg ist jetzt unsere Sorge... Wir wollen nicht, dass die Felder mit Blut getränkt werden. Unsere Sorge ist die Volkswirtschaft. Es ist nicht unsere Schuld, es ist unser Unglück, dass uns die Pans und Generale keine Stunde zu Atem kommen lassen. Es geht uns nicht darum, dass Blut vergossen wird, es geht uns um das Land. Nicht um Männer für die Schlacht, sondern um Feldarbeiter, um Vieh, um friedliche Arbeit... Keine Ablieferungspflicht mehr — die wird abgeschafft, die wird es nicht mehr geben, ihr werdet nichts mehr davon hören! —, sondern volle Kornspeicher, alle eure Felder unterm Pflug. Waren für die Stanizen und Dörfer. Freier Handel. Recht auf Arbeit und Erholung."
Badjin sprach von der Naturalsteuer, von Genossenschaften, von der Demobilisierung der Roten Armee, von Eisen, Manufakturwaren und Rohstoffen. Erwähnte den Genossen Lenin, der sein ganzes Leben dem Arbeiter und Bauern geweiht habe.
Er hob die Hand und wollte weitersprechen, aber die Menge war in Bewegung geraten, schrie und jubelte. Die Leute kletterten mit freudigen Gesichtern auf die Wagen und drängten zum Vorsitzenden.
Als alle sich beruhigt hatten und zurückgewichen waren, als die Wagen zu knarren begannen, sagte Borstschi treuherzig zu Badjin:
„Und jetzt bitte ich Sie, Genosse Badjin, lassen Sie den Genossen Saltanow frei. Ein wenig herumgetobt haben wir — und damit basta. Wir haben uns beide nichts vorzuwerfen."
Badjin entgegnete kalt: „Genosse Borstschi, jeder Streit zwischen verantwortlichen Funktionären und jeder ihrer Fehlgriffe muss nicht nur ihnen selbst, sondern auch den anderen Genossen zur Lehre dienen. Es bleibt bei meiner Anordnung. Übergib die Geschäfte einem zuverlässigen Genossen! Morgen fährst du mit mir in die Stadt."
Neben ihnen schwankte auf krummen Beinen ein kleiner betrunkener Kosak, fuchtelte mit der Mütze und schrie aus vollem Halse wie ein Irrer:
„Ein flaumig' Küchlein ohn' Strumpf und Schüchlein spaziert' am Kai, bis eine Kräh' es dort visierte und arretierte."
Am Abend sprach Dascha bei den Frauen. Auch Badjin war da. An diesem Freudentag waren viele Frauen gekommen. Dascha erfüllte ihren Auftrag mit Erfolg. Uff — mit dem Frauenvolk in den Stanizen zu Rande zu kommen, das war schon ein verflucht schweres Stück Arbeit!
Dascha hatte Badjin noch nie so gesehen wie an diesem Abend. Sooft sie seinem Blick begegnete, flammten in ihrem Gedächtnis die goldenen Butterblumen am Straßenrand auf. Und sie las in seinen Augen stumme Begeisterung und unauslöschliche, feurige Liebe zu ihr. Er wich keinen Schritt von ihrer Seite, blieb bei ihr, bis sie einschlief — beharrlich in fürsorglicher Zärtlichkeit, ergeben, zahm und sanftmütig. Dascha kam es etwas komisch vor, dass Badjin sich so verausgabt haben, dass seine ganze Kraft auf sie übergegangen sein sollte. Sie brauchte nur zu befehlen, Badjin würde gehorsam alles tun, was sie von ihm verlangte.

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